WAS UNZUREICHENDE BILDUNG KOSTET Wie die Pisa-Studien zeigen, verfügen mehr als ein Fünftel der 15-jährigen Jugendlichen in Deutschland nicht über erforderliche Kompetenzen, die für eine aktive und selbstbestimmte Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft notwendig sind. Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hat das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung berechnet, welche volkswirtschaftlichen Kosten dadurch entstehen. Welchen Gewinn die Gesellschaft aus einer nachhaltigen und zügigen Bildungsreform erhalten würde, wird anschaulich erörtert. Auszüge aus der Studie „Was unzureichende Bildung kostet“ von Ludger Wößmann und Marc Piopiunik: “ … Die Tatsache, dass in Deutschland etwa jeder fünfte Jugendliche eine nur unzureichende Bildung erhält, zieht volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von rund 2,8 Billionen Euro (2.800.000.000.000 Euro) nach sich. Dies ist das Ergebnis einer Projektionsanalyse, die berechnet, wie sich das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Zukunft verändern würde, wenn eine Bildungsreform die unzureichende Bildung weitgehend beseitigen würde. Unter unzureichender Bildung wird dabei das Nicht-Erreichen eines Grundbildungsniveaus verstanden. Die PISA-Studie spricht in diesem Zusammenhang auch von der Gruppe der „Risikoschüler“: Wer nicht zumindest ein niedriges Niveau von 420 PISA-Punkten erreicht, der kommt als 15-Jähriger beispielsweise im Rechnen nicht über das Grundschulniveau hinaus. Ihm fehlen wesentliche Fähigkeiten, die Grundbedingung für eine erfolgreiche Beteiligung am späteren Berufsleben und für gesellschaftliche Teilhabe sind. Es muss der Anspruch der Bildungspolitik sein, ein solches Mindestniveau an Basiskompetenzen für alle Schüler sicher zu stellen. Die Projektion modelliert dementsprechend eine Bildungsreform, die die unzureichende Bildung zwar nicht vollkommen beseitigt, aber immerhin – beginnend im Jahr 2010 – im Verlaufe der kommenden 10 Jahre das Ausmaß an unzureichender Bildung um 90 Prozent verringert. Die Projektion berücksichtigt alle wirtschaftlichen Erträge, die im Laufe des Lebens eines heute geborenen Kindes anfallen, was einem Zeithorizont bis zum Jahr 2090 entspricht. Dazu werden alle zukünftigen Zuwächse im BIP, die durch die Bildungsreform erzeugt werden, zunächst in heutigen Gegenwartswerten ausgedrückt und dann aufsummiert. Die Größenordnung der volkswirtschaftlichen Wachstumseffekte, die sich durch die Bildungsreform ergeben, stammt dabei aus ökonometrischen Wachstumsmodellen, die den Zusammenhang zwischen Bildungskompetenzen und langfristigem Wirtschaftswachstum im internationalen Vergleich empirisch berechnet haben. Dabei dürfte das Basisszenario aufgrund zahlreicher konservativer Annahmen die tatsächlichen Gesamteffekte noch deutlich unterschätzen. Die Erträge der Bildungsreform, die die unzureichende Bildung weitgehend beseitigt, entsprechen spiegelbildlich den volkswirtschaftlichen Folgekosten, die aufgrund der derzeit bestehenden unzureichenden Bildung entstehen, wenn es der Bildungspolitik nicht gelingt, sie zu überwinden. Die Folgekosten summieren sich im Laufe des Lebens eines heute geborenen Kindes mit insgesamt 2,8 Billionen Euro auf mehr als das gesamte heutige BIP von 2,5 Billionen Euro. Damit ließen sich 28mal die gewaltigen Konjunkturpakete finanzieren, die die Bundesregierung in der derzeitigen Krise in einer Gesamthöhe von 100 Milliarden Euro aufgelegt hat. Mit den bis ins Jahr 2074 anfallenden Erträgen ließe sich die gesamte heutige Staatsverschuldung von rund 1,7 Billionen Euro komplett tilgen. Schon ab dem Jahr 2048 wäre das BIP aufgrund der Bildungsreform jährlich um mindestens 2,6 Prozent höher als ohne die Reform: Damit ließen sich, gemessen als Anteil am BIP, allein aus den Reformerträgen Jahr für Jahr die gesamten öffentlichen Bildungsausgaben im Elementar- und allgemeinbildenden Schulbereich finanzieren. Im Jahr 2090 wird das BIP durch die Bildungsreform um über 10 Prozent höher sein, als es ohne die Reform wäre. Pro Kopf der heutigen Bevölkerung entgeht einem heute geborenen Kind über die nächsten 80 Jahre aufgrund der unzureichenden Bildung mehr als ein Wert von 34.000 Euro an zusätzlichen BIP. Die Projektionen belegen erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Die Spannbreite der Pro-Kopf-Effekte reicht von rund 16.000 Euro in Sachsen und Thüringen bis zu rund 45.000 Euro in Hessen, Schleswig-Holstein/Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Diese Bundesländer haben ein sehr hohes Potential von einer erfolgreichen Bildungsreform zu profitieren. Dies sollte einen besonderen Ansporn darstellen. Die Dynamik der Wachstumseffekte verdeutlicht, dass die wirtschaftlichen Erträge einer erfolgreichen Bildungsreform vor allem langfristig wirken. In den ersten beiden Jahrzehnten nach Reformbeginn sind die wirtschaftlichen Reformerträge hingegen noch relative gering: Zunächst muss die Reform im Bildungssystem voll umgesetzt werden, dann müssen die Kinder und Jugendlichen das verbesserte Schulsystem durchlaufen, anschließend müssen die besser gebildeten Jugendlichen in den Arbeitsmarkt eintreten – und bis die unzureichende Bildung in der gesamten arbeitenden Bevölkerung weitgehend beseitigt ist, vergeht sogar rund ein halbes Jahrhundert. Die Erträge der Bildungsreform als zusätzliches Bruttoinlandsprodukt pro Kopf steigen im Lebensverlauf eines heute geborenen Kindes immer stärker an. Während ein Kind, das zum Zeitpunkt der Reform geboren wird, die wirtschaftlichen Erträge im Kindes- und Jugendalter noch nicht nennenswert spüren wird, stehen ihm im Alter von 18 Jahren immerhin schon 179 Euro an zusätzlichem Pro-Kopf-BIP zur Verfügung. Wenn es als 30-Jähriger eine Familie gründen will, hat es durch die Reform schon 720 Euro mehr in der Tasche als ohne Reform. Im Alter von 45 Jahren ist das BIP pro Kopf um 2.237 Euro höher. Besonders stark profitiert das heute geborene Kind, wenn die langfristigen Wachstumseffekte der Reform maximal wirksam werden: Wenn es als 67-Jähriger in Rente geht, hat es aufgrund der Bildungsreform 6.471 Euro mehr zur Verfügung, und im Alter von 80 Jahren ist das BIP pro Kopf durch die Reform um 10.346 Euro höher als wenn es keine erfolgreiche Bildungsreform gegeben hätte. All dies zeigt, dass für die Bildungspolitik das Gleiche gelten muss, was in der Klimapolitik schon lange selbstverständlich ist: Um die vollen Effekte einer Reform berücksichtigen zu können und nicht die größten Effekte zu übersehen, muss die Bildungspolitik einen langfristigen Betrachtungshorizont einnehmen. Es sind vor allem Kinder, die im Laufe ihres Lebens von der baldigen Beseitigung unzureichender Bildung profitieren würden. Darüber hinaus verdeutlichen die Projektionen, dass sich schnelles Handeln auszahlt. Benötigt man für die Umsetzung der Reform nur 5 statt der bisher angenommenen 10 Jahre, erhöht sich der Reformeffekt um rund 280 Milliarden Euro. Dauert die Umsetzung hingegen 20 Jahre, verliert man knapp 500 Milliarden Euro im Vergleich zur 10-Jahres-Reform. Auch insofern besteht also dringender bildungspolitischer Handlungsbedarf. Neben dem Basiszenario werden auch einige alternative Szenarien berechnet. So beläuft sich der Reformeffekt in einem Szenario, in dem das Ausmaß unzureichender Bildung im unteren Bereich auf das in Finnland derzeit bereits erreichte Niveau abgesenkt würde, mit 2,4 Billionen Euro annähernd auf das Niveau des Basiszenarios. Würde es hingegen gelingen, die deutschen Schüler im Durchschnitt auf das finnische Durchschnittsniveau anzuheben, so beliefen sich die Erträge dieser Reform sogar auf 9,6 Billionen Euro. Auch eine Anhebung aller Bundesländer auf das derzeitige bayerische Durchschnittsniveau würde bereits 5,2 Billionen Euro an wirtschaftlichen Erträgen erbringen. Eine große Zahl Jugendlicher, die oft als „Risikoschüler“ bezeichnet werden, erreicht in unserem Bildungssystem derzeit nicht einmal ein Mindestmaß an Basiskompetenzen. Es ist eine moralische Verpflichtung, an diesem offenkundig bestehenden gesellschaftlichen Problem etwas zu ändern. Aber ganz abgesehen davon würden auch gewaltige wirtschaftliche Erträge realisiert, wenn es gelingen würde, diese Jugendlichen nachhaltig zu fördern. Die berichteten Ergebnisse belegen: die finanziellen Folgekosten, die unserer Gesellschaft aufgrund der derzeit unzureichenden Bildung in Form von entgangenem Wirtschaftswachstum entstehen, sind immens. Erfolglose Bildungspolitik kommt uns in jeder Hinsicht teuer zu stehen. … Daher gibt es die Zahl der Risikoschüler und –schülerinnen verringern. Ausgewählte Reformvorschläge der Bertelsmann Stiftung: … Die Schwachen stärken ohne die Starken zu schwächen – alle Kinder und Jugendliche müssen individuell gefördert werden * Das Bildungssystem hat einen klaren Auftrag, jedes Kind individuell zu fördern. Es gehört zum professionellen Selbstverständnis der Erzieherinnen sowie Lehrerinnen und Lehrer, jedes Kind mit seinem Wissensstand, seinem Lernpotenzial und seiner Lebenswelt zum Ausgangspunkt allen Handelns in der Bildungseinrichtung zu machen und es bei der Entfaltung seines Bildungspotenzials bestmöglich zu unterstützen. * Schule und Lehrkräfte übernehmen Verantwortung. Schülerinnen und Schüler lernen länger gemeinsam in heterogenen Lerngruppen. Abschulen und Sitzenbleiben sind die Ausnahme. * Hohe Leistungserwartungen der pädagogischen Fachkräfte sind essentiell für gute Ergebnisse bei den Kindern. Um diese zu erreichen, wird Lernzeit sinnvoll gestaltet. Kinder und Jugendliche werden motiviert und in ihrem Glauben an die eigenen Fähigkeiten bestärkt. Dadurch empfinden sie ihre Lernzeit als sinnvolle Lebenszeit. * Für Risikoschüler und -schülerinnen ist es besonders wichtig, die Voraussetzungen wie gesunde Ernährung und Bewegung für individuelle Förderung zu schaffen. Zudem muss Sprachförderung früh beginnen und kontinuierlich in alltäglichen Bildungssituationen weitergeführt werden – dabei werden die Muttersprachen gewürdigt. In den Bildungseinrichtungen sollten verstärkt mehrsprachige pädagogische Fachkräfte mit Migrationshintergrund arbeiten. * Erzieherinnen sowie Lehrerinnen und Lehrer brauchen neben ihren fachlichen Kompetenzen insbesondere die Fähigkeit, ein guter Lerncoach zu sein (diagnostische, didaktisch-methodische, pädagogische und interkulturelle Kompetenzen sowie Beratungskompetenz). In Aus- und Weiterbildung werden diese Fähigkeiten vermittelt. * Das Bildungssystem sorgt für Durchlässigkeit. Ineffiziente Übergangssysteme werden abgebaut. Der Fokus ist ein reibungsloser Übergang in den Beruf. Erweiterte Verantwortung für den Bildungserfolg übernehmen – Bildungsstätten als Orte der Integration * Kindertageseinrichtungen und Schulen gerade in sozial benachteiligten Quartieren kooperieren intensiv mit den Elternhäusern. * Die Schulen sind als Ganztagsschulen über den Tag und auch während der Ferienzeit ein Ort des gemeinsamen Lernens. * Kindertageseinrichtungen und Schulen bieten an den Bedürfnissen der Familien ausgerichtete integrierte soziale Service-Leistungen an (z.B. Beratung in Krisensituationen, Gesundheitsvorsorge, Sprachförderung, berufliche Entwicklung). Dazu schließen sie Kooperationen im Sozialraum, u.a. mit Moscheen, der ARGE, Psychologen und Ärzten, Migrantenvereinen, Sportvereinen, Unternehmen und Betrieben. Mit ihnen bilden sie multiprofessionelle Teams und entwickeln die regionale Bildungslandschaft weiter. * Kinder und Eltern brauchen erfolgreiche Vorbilder – vor allem auch aus ihren eigenen Milieus. Die Vorbilder zeigen, dass gute Bildung im Leben hilft. Ungleichheit durch Ungleichheit ausgleichen – mehr und wirksamer in Bildung investieren * Alle Ebenen (Bund, Länder und Gemeinden) müssen gemeinsam mehr finanzielle Ressourcen für Bildung bereitstellen. Von Bildung profitiert die Gesellschaft – Sparen in der Bildung ist teuer. * … * Schulen brauchen für individuelle Förderung zunächst mehr Ressourcen – für die Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer und für die tägliche Praxis (Fachkräfte, Baumaßnahmen, Lernmaterialien). * Wirksame pädagogische Arbeit erfordert eine bedarfsorientierte Verteilung der finanziellen Ressourcen. Mittel müssen verstärkt dort eingesetzt werden, wo die Herausforderungen am größten sind. Wenn Ressourcen mit der Gießkanne verteilt werden, können Ungleichheiten von Bildungseinrichtung zu Bildungseinrichtung nicht ausgeglichen werden. Als Voraussetzung für eine solche indikatorengesteuerte Mittelverteilung sind Informationssysteme zu entwickeln, die Investitionsbedarfe und Wirkungen transparent machen. * Eine solche Veränderung der Finanzierungssysteme erfordert politischen Mut und die Bereitschaft aller, Ressourcen fairer zu verteilen.“ Die Studie steht Ihnen als Download im aufgeführten Link zur Verfügung. Im Anhang und als Download finden Sie die Reformvorschläge.
http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-4E4AE609-34B881EB/bst/xcms_bst_dms_30242_30243_2.pdf
http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-4E4AE609-34B881EB/bst/xcms_bst_dms_30264_30265_2.pdf
Quelle: Newsletter Bertelsmann Stiftung
Dokumente: Studie_Bertelsmann_Stiftung_ausgewaehlte_Reformvorschlaege.pdf