Armut bei Kindern und Jugendlichen – Ursachen, Auswirkungen, Gegenstrategien

Ein Europäisches Jahr allein wird sicher nicht ausreichen, um die Armut – insbesondere die Kinderarmut – aus den Mitgliedsstaaten zu verbannen. Aber es ist eine sehr gute Gelegenheit, das öffentliche Bewusstsein für die Risiken von Armut und sozialer Ausgrenzung zu stärken,“ erklärte Sozialminister Karl-Josef Laumann bei der gemeinsam mit der Stadt Köln initiierten Auftaktveranstaltung des Landes NRW zum Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung in Köln.

Laumann stellte in seinem Grußwort deutlich heraus, dass Kinder und Jugendliche ein überdurchschnittliches Armutsrisiko tragen. Die Armutsquote bei Minderjährigen liegt bei rund 24 Prozent, hingegen bei der Gesamtbevölkerung bei knapp 14 Prozent. In der Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut sieht Laumann einen Erfolg im Urteil zu den Hartz IV-Regelsätzen. Professor Klaus Hurrelmann hingegen hält eine umfassende Kinder- und Familienpolitik für notwendig, um Armut bekämpfen zu können. Wesentlich ist für Hurrelmann in diesem Zusammenhang die Veränderung von Kinderrechten und Grundgesetz und damit verbunden eine Übernahme der Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention in nationales Recht.

Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Klaus Hurrelmann „Viele Kinder sind durch Armut gefährdet – Ansätze einer umfassenden Kinder- und Familienpolitik“:
‚Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schätzen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. In Artikel 2 finden sich die Sätze: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt… Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich“. Das sind klare Vorgaben, welche die Basis für die erste stabile demokratische Gesellschaft in Deutschland gelegt haben. Wir alle wissen aber: Ein Teil der Bürgerinnen und Bürger kann die in Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes formulierten Grundrechte für sich nicht einlösen. Es gehört zu den ständigen Herausforderungen eines demokratischen Gemeinwesens, diese benachteiligte Gruppe der Bevölkerung deutlich zu identifizieren und dafür Sorge zu tragen, dass ihre entwürdigenden Lebensbedingungen so schnell wie möglich verändert werden.

Kinder sind wegen ihrer körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung besonders auf Unterstützung und Schutz durch die Gesellschaft angewiesen. Die zitierten Artikel des Grundgesetzes gelten ohne jede Einschränkung auch für sie. Die jüngsten Studien zur Lebenssituation der Angehörigen der jungen Generation in Deutschland dokumentieren eindeutig: Eine erschreckend große Minderheit von ihnen kann faktisch nicht in Würde aufwachsen.

Ergebnisse der jüngsten Kinder- und Jugendstudien
Ganz aktuell zeigt die 1. World Vision Kinderstudie, …, wie problematisch die Lebenslage von etwa einem Viertel der unter 12-Jährigen in Deutschland ist. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam im Jahre 2006 die 15. Shell Jugendstudie, … . Diese beiden sich ergänzenden Studien haben die Aufgabe, durch direkte Befragung von Kindern (6- bis 11-Jährigen) und Jugendlichen (12- bis 25-Jährigen) deren Angaben über ihre Lebenssituation und ihre persönliche Einschätzung und Bewertung dieser Situation zu erfassen. …

Die beiden jüngsten Studien zur Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland zeigen sehr deutlich: Der großen Mehrzahl der Angehörigen der jungen Generation geht es in der wohlhabenden Bundesrepublik Deutschland sehr gut oder gut. Die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen wird vor allem durch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage ihres Elternhauses bestimmt. Verfügen Mutter und Vater über ein gutes finanzielles Einkommen, haben sie einen guten Schulabschluss und aussichtsreichen Zugang zum Arbeitsmarkt, sind sie auch nachbarschaftlich und kulturell anerkannt und integriert, dann ist auch die Lebenssituation der Kinder gut, die in ihrem Haushalt leben.

Aus der finanziellen Situation, dem Bildungsgrad und der Wohnsituation der Eltern haben die Forscherinnen und Forscher des Instituts TNS Infratest, das sowohl für die World Vision Kinderstudie als auch die Shell Jugendstudie die empirischen Erhebungen durchgeführt hat, einen „sozialen Herkunftsindex“ berechnet. Legen wir diesen Index an, dann lässt sich das Ergebnis quantifizieren: Es sind ziemlich genau 75 % der Kinder und Jugendlichen, die in einem Elternhaus aufwachsen, in dem die finanziellen, bildungsmäßigen und kulturellen Ausgangsbedingungen sehr gut, gut oder mindestens befriedigend sind. Bei diesen Kindern und Jugendlichen finden die wir auch nach deren eigener Einschätzung eine hohe Zufriedenheit und eine optimistische Grundstimmung. Die Eltern gelten für diese Angehörigen der jungen Generation in Deutschland als der Dreh- und Angelpunkt ihrer Beziehungen, an ihnen orientieren sie sich in allen ihren eigenen Zielsetzungen für das weitere Leben.

Ein Viertel der Kinder und Jugendlichen allerdings wächst in einer wirtschaftlich, kulturell und sozial unbefriedigenden Situation auf. Durch die Dauerarbeitslosigkeit der letzten 15 Jahre ist der Anteil dieser Familien spürbar angewachsen. Der Mangel an Angeboten zur Berufstätigkeit hinterlässt tiefe Spuren bei Eltern mit Kindern. Nach den offiziellen Berechnungen der Bundesregierung in ihrem letzten „Armuts- und Reichtumsbericht“ sind es etwa 15 % der Haushalte mit Kindern, bei denen das Einkommen weniger als 50% des rechnerisch durchschnittlichen Einkommens aller Haushalte in Deutschland beträgt. Nach den international üblichen Klassifikationen gelten diese Haushalte als „relativ arm“, als gemessen an den üblichen Standards der jeweiligen Gesellschaft finanziell eindeutig benachteiligt. Diese relative Armut bedeutet nicht, dass die Familienmitglieder unter einem für den Lebenserhalt notwendigen Existenzminimum leben müssten. In den allermeisten Fällen springen auch staatliche Transferleistungen ein, um einen finanziellen Mindeststandard zu sichern. Aber dieser Standard ist gemessen an den üblichen Standards der Gesamtgesellschaft dürftig und sorgt nur für das allernotwendigste. …

Auswirkungen der relativen Armut auf die Entwicklung der Kinder
Es ist diese Mischung aus wirtschaftlicher und kultureller Zurücksetzung, die relative Einkommens- und Bildungsarmut, die bei dem besagten Viertel der Kinder in Deutschland zu langfristig erheblichen Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklung führt. Kinder brauchen für ihre körperlich, psychisch, sozial, emotional und interlektuell gesunde Entwicklung eine stabile und verlässliche Umwelt mit einer breiten Vielfalt von Anregungen aller ihrer Fähigkeiten und Sinne. Wie die World Vision Kinderstudie zeigt, ist das bei den 25 % benachteiligten Kindern häufig nicht der Fall. Die ökonomische und bildungsmäßige Zurücksetzung führt zu Einschränkungen nicht nur bei Ausstattung und Konsum, sondern auch im gesundheitlichen Bereich, weil Hygiene und Ernährung leiden. Die Zurücksetzung führt zu Spannungen innerhalb der Familie, weil die Eltern wegen ihres Statusverlustes große Schwierigkeiten haben, eine gute Partnerbeziehung aufrechtzuerhalten. Darunter leidet der Kontakt zu den Kindern und die Qualität der Erziehung. Schon immer war es so, dass wirtschaftlich benachteiligte Eltern keine guten Pädagogen sind, weil sie unsicher und irritiert sind und nicht geduldig und flexibel auf Wünsche und Interessen der Kinder eingehen können. Kommt ein niedriger Bildungsgrad hinzu und schlägt die wirtschaftliche Benachteiligung sich auch in einer sozialen Isolation mit zu wenigen Kontakten in die Öffentlichkeit um, dann leidet auch die emotionale und soziale Entwicklung der Kinder. …

Die ökonomische und bildungsmäßige Benachteiligung der Eltern überträgt sich direkt auf die Kinder und zwar vor allem über die Art und Weise, wie tagtäglich miteinander umgegangen und kommuniziert und die Beschäftigung im Alltag gestaltet wird. Am Ende schlagen sich diese Unterschiede in deutlicher Weise auf die Perspektiven im Bildungsbereich nieder. Während nur 21 % der Kinder aus der untersten Herkunftsschicht das Abitur als Schulabschluss anstrebt, liegt der Anteil der Kinder bei den obersten sozialen Herkunftsschichten bei 82 %. Kein Wunder, denn nur 49% der Eltern aus den unteren Schichten kontrollieren nach Angaben ihrer Kinder regelmäßig die Hausaufgaben ihrer Kinder, während es bei den oberen Schichten fast 100 % sind. Bei den Benachteiligten verändert sich hierdurch die Einstellung zur Schule: Sie ist negativ oder zumindest distanziert und entsprechend gering ist die Bereitschaft, sich auf Anforderungen und Impulse einzulassen, die von den Lehrkräften ausgehen.

Geld- und Sachleistungen sollten kombiniert werden
Zu Recht fordern viele Kinder- und Familienorganisationen … eine Erhöhung des Kindergeldes und der Transferzahlungen, um insbesondere die Familien mit geringem Einkommen zu unterstützen. Ob aber mit einer pauschalen Geldzuweisung allein den besonders bedürftigen Kindern geholfen werden kann, das darf bezweifelt werden. Es ist an der Zeit, ein umfassendes Konzept zur Bekämpfung der Kinderarmut zu entwickeln, das neben Geldleistungen auch Realleistungen vorsieht.
Bei den Geldleistungen ist heute problematisch, sie an das Erwerbseinkommen der Eltern zu koppeln und die unterschiedlichen Familienformen, etwa Alleinerziehende, in je spezifischer Weise in die Transferzahlungen einzubeziehen. Auch hat sich bei den Kostenberechnungen der Pauschalen nicht bewährt, einen allgemeinen Warenkorb als Basis und Bezugspunkt zu wählen, weil dieser die spezifischen realen Kosten nicht an den Bedürfnissen … ausrichtet und die unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen … nicht berücksichtigt. … Individuelle Entwicklungsprofile können nicht berücksichtigt werden. Um die Versorgung mit Lehrmitteln, medizinisch notwendigen Medikamenten und gesunden Nahrungsmitteln sicherzustellen und besondere Bedarfe angemessen zu berücksichtigen, sind Anstrengungen für ein neues bedarfsorientiertes Bemessungssystem zu unternehmen.

Besser als der bisherige Ansatz wäre möglicherweise eine Umstellung auf eine Pauschalzahlung für jedes Kind, etwa in Höhe von 300 Euro, die alle bisherigen Geldleistungen zusammenfasst, also Kindergeld, Kinderzuschlag, Sozialgeld, Steuerfreibeträge, Ehegattensplitting usw. Diese pauschale Kindergrundsicherung sollte ohne jede Bedarfsprüfung … ausgezahlt werden. Wird eine solche eigenständige Grundsicherung eingeführt, dann wird auch symbolisch deutlich, wem die Leistungen gelten – dem Kind. …

Die finanziellen Transfers haben nur begrenzte Wirkung. Wir benötigen zusätzlich einen Ausbau der Sachleistungen. Es ist kein Misstrauensvotum gegenüber Eltern, wenn darüber nachgedacht wird, ob alle für die Kinder ausgezahlten Gelder tatsächlich bei den Kindern ankommen. Vielmehr ist es eine Qualitätsfrage, wenn geprüft wird, wo auf direktem Wege Kinder bei der Bewältigung ihrer Lebensbedingungen unterstützt werden können, ohne dass der (Um-)Weg des finanziellen Transfers über den elterlichen Haushalt gewählt wird. Durch eine Entwicklung von infrastrukturellen Leistungen, die gezielt und möglichst ausschließlich Kindern zu Gute kommen, unterstreicht der Staat faktisch und symbolisch, dass er die junge Generation ernst nimmt und ihr unmittelbare Vorteile zukommen lassen möchte. …

Die Verbesserung der rechtlichen Stellung von Kindern in Deutschland
Die rechtliche Stellung des Kindes ist in der Verfassung, dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, definiert. …
Aber: Das Grundgesetz nimmt eine verfassungsrechtliche Verankerung der Kinderrechte nicht ausdrücklich vor. Vielmehr wurden, möglicherweise in Reaktion auf die Erfahrungen mit den totalitären Systemen des Nationalsozialismus und des Sowjetsozialismus, die Weichen einseitig in Richtung eines Familienmonopols für die Entwicklung von Kindern gestellt. Der Staat hat sich demonstrativ weit … zurückgezogen.

Im Sinne einer modernen Kinderpolitik ist die ausdrückliche Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland überfällig. Es passt nicht zur an und für sich sehr einfühlsamen Rechtspolitik in diesem Bereich, Kindern mit Verweis auf ihre noch in der Entwicklung befindliche Persönlichkeit und ihre altersgemäß eingeschränkte kognitive und soziale Wahrnehmungs- und Leistungsfähigkeit entscheidende Bürgerrechte vorzuenthalten. …

Die „National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention“, ein bundesweiter Zusammenschluss von mehr als 100 Organisationen unter Rechtsträgerschaft der Arbeitsgemeinschaft für Kinder und Jugendhilfe, hat Anfang 2007 die Forderung erhoben, Kinderrechte in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen und damit endlich die Konsequenz aus dem Beitritt zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen zu ziehen. … An entscheidender Stelle heißt es: „ Die Präambel der UN-Kinderrechtskonvention betrachtet Kinder als gleichwertige und gleichberechtigte Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft mit der allen Menschen innewohnenden Würde und der Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte. Aufgrund der Entwicklungstatsache wird Kindern zugleich ein Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung zuerkannt. Damit zielt die Konvention auf ein Bild des Kindes, dem die grundsätzliche Anerkennung als eigenständige Persönlichkeit mit eigener Würde und dem Anspruch auf Anerkennung seiner Individualität zugrunde liegt. Die Konvention erkennt damit eine Subjektstellung des Kindes an … In der Subjektstellung des Kindes ist veranlagt, dass die Unverwechselbarkeit jedes jungen Menschen zu achten und ein eigenständiges Recht zur Entfaltung seiner Persönlichkeit zu gewährleisten ist. Dabei ist zu ergänzen, dass dies für den heranwachsenden Menschen als sich entwickelndes Wesen ein Recht auf Entwicklung bedeutet, das zunehmende Verantwortung für sich selbst einschließt“ (National Coalition 2007).

Die National Coalition plädiert dafür, diese Rechtsauffassung auch in Deutschland umzusetzen, was am wirkungsvollsten und nachhaltigsten mit einer Verankerung von Kinderrechten in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gesichert wäre. Eine ausdrückliche Verankerung von Kinderrechten würde den Vorrang des Kindeswohls bei allen Entscheidungen im öffentlichen und im privaten Raum, die Kinder betreffen, deutlich verankern. …

Würde diese Regelung in das Grundgesetz aufgenommen, hätte das Konsequenzen auch für die Verantwortung von Eltern, deren Erziehungsrecht gegenwärtig in § 6 des Grundgesetzes auf die „Pflege und Erziehung der Kinder“ ausgerichtet ist, nicht aber auf die Rechte und das Wohl des Kindes. … Mit anderen Worten: Eine Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und damit eine Übernahme auch der Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention und der EU-Grundrechte-Charta in nationales Recht würde das allgemeine Bewusstsein für die Rechte von Kindern in Deutschland stärken und ihre Position sowohl gegenüber dem Staat als auch im Konfliktfall gegenüber den eigenen Eltern deutlich verbessern. … Die Verankerung von Kinderrechten in der Verfassung würde, … die elterliche Verantwortung dafür stärken, die Rechte des Kindes tatsächlich zur Geltung zu bringen und die Berücksichtigung von Kindesinteressen im politischen Raum zu fördern. Die Würde der Kinder wäre dann ein zentrales Verfassungsziel.“

Klaus Hurrelmann ist Professor an der Hertie School of Vovernance GmbH

www.ej2010.nrw.de
www.mit-neuem-mut.de
www.hertie-school.org

Quelle: Prof. Dr. Klaus Hurrelmann

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