Ethnische Zugehörigkeiten bestimmen maßgeblich soziale Ungleichheit

Auszüge aus dem Gutachten „Ethnische Unterscheidungen in der Einwanderungsgesellschaft“ von Dieter Filsinger im Auftrag des Gesprächskreises Migration und Integration der FES:
“ … Perspektiven Sozialer Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft
Wir haben es in Europa faktisch überall mit multikulturellen Stadtgesellschaften zu tun, die eine zunehmende Heterogenität und sprachliche wie kulturelle Pluralisierung implizieren. Dabei ist auf die wachsende Diversifikation der Migrationsbevölkerung, auf die Vielfalt von Migrationsbiographien, Akkulturationsprozessen und Integrationsverläufen sowie auf die wachsende Bedeutung transnationaler Räume hinzuweisen. …
Die historische Migrationsforschung zeigt eindrucksvoll, dass kollektive Migration ökonomische und technische Innovationen hervorgebracht, sozialen Wandel begünstigt, zumeist auch Wohlstandsmehrung in den Zuwanderungsländern bzw. Regionen bewirkt hat, aber auch regelmäßig soziale Probleme – nicht zuletzt individuelle Kosten für die Migranten selbst – erzeugt hat. Zu- bzw. Einwanderung gehen zwingend einher mit latenten oder manifesten Verteilungs- und Anerkennungskonflikten. Zu verhandeln sind folglich Fragen sozialer Ungleichheit und des Umgangs mit kulturellen Unterschieden, die eine besondere Aufmerksamkeit für Prozesse der „Öffnung“ und „Schließung“ verlangen. …
Hinsichtlich des Zusammenlebens, des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts (Integration der Gesellschaft) dürfte die These Gültigkeit beanspruchen, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt, möglichst spannungsarme Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Gemeinschaften sowie zwischen Einwanderungsminoritäten
und der Majorität am ehesten zu erwarten sind, wenn jedem Gesellschaftsmitglied eine ökonomisch gesicherte Existenz und eine selbstständige Lebensführung und kulturelle Entfaltung – also Lebenschancen im komplexen Sinn – ermöglicht werden. In der Regel erfolgt dies über den Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit, notfalls über sozialstaatliche Absicherung.

Aus der Perspektive Sozialer Arbeit als Wissenschaft und Profession erscheint die Vorstellung von einer Einwanderungsgesellschaft begründet, die jedem Gesell schaftsmitglied – unabhängig von seiner Herkunft – individuelle Freiheit und Selbstachtung im Rahmen der jeweiligen demokratischen Verfassung und der in modernen Gesellschaften vielfältigen und widersprüchlichen Kultur eines Landes ermöglicht und in die Lage versetzt, eine selbstbestimmte, für sie / ihn individuell angemessene und sozial anerkennungsfähige Lebensform bzw. -praxis zu finden.
In diesem Zusammenhang bietet Soziale Arbeit Unterstützung bei der Lebensbewältigung, insbesondere für diejenigen Gruppen von Migranten, die unter erschwerten und möglicherweise überfordernden Bedingungen leiden und aus sich selbst heraus an der Integration in die Gesellschaft und den Anforderungen einer selbstständigen Lebensführung und Lebensgestaltung zu scheitern drohen. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt mit der Migration einhergehenden Krisen und den Prozessen des Leidens und Scheiterns im Zusammenhang mit den anspruchsvollen Voraussetzungen moderner Gesellschaften und den Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen in der Aufnahmegesellschaft. …

Wie die Biographieforschung … lehrt, ist die Suche nach sozialer und kultureller Zugehörigkeit in der Aufnahmegesellschaft in hohem Maße mit biographischer Anstrengung verbunden, „die sich auf die Wiederherstellung eines symbolischen Raumes von Traditionalität bezieht, auf deren Hintergrund erst die Möglichkeit entsteht, als MigrantIn den eigenen Platz in der neuen Gesellschaft zu bestimmen“. Aus der Perspektive Sozialer Arbeit erscheint die Frage zentral, wie Migrantinnen und Migranten ihre eigene Biographie und ihr damit verbundenes Wissen jenseits von Fremd- und Selbstethnisierung in die gesellschaftliche Auseinandersetzung um einen angemessenen Platz in der Ankunftsgesellschaft einbringen können. Eine Voraussetzung für die wechselseitige Anerkennung von kulturellen Traditionen ist die Einsicht, dass die polare Zuschreibung von unkritischer Traditionsfortsetzung einerseits und der vollständigen Traditionsauflösung andererseits die Wirklichkeit der Moderne nur unzureichend beschreibt. Aufmerksamkeit verlangen vielmehr solche Prozesse der Traditionsbildung, die gerade nicht in eine unreflektierte und aufgezwungene Ethnisierung der Lebenswelt zurückfallen, sondern die Tradition der sozialen Gruppe mit der Autonomie und Freiheit der Individuen in Einklang bringt. …

Soziale Arbeit, die sich als Unterstützung biographischer Projekte versteht, kommt nicht umhin, mit ihren Adressatinnen und Adressaten an der Erweiterung von Deutungsmustern und jenen Handlungskompetenzen zu arbeiten, die von den Kerninstitutionen der Gesellschaft – von der Schule, dem Arbeitsmarkt und den staatlichen Institutionen – verlangt werden. Diese Aufgabe ist allerdings nur begründbar, wenn die Adressatinnen und Adressaten als Individuen anerkannt werden, die über ihre Zugehörigkeiten – auch wenn sie ihnen auferlegt sind – selbst verfügen. Der (sozial-)pädagogische Auftrag in der Arbeit mit (jungen) Migrantinnen und Migranten unterscheidet sich nicht von ihrem generellen Auftrag, nur dass der Anspruch auf Reflexivität in den Deutungspraxen, insbesondere in der Differenzbildung, vor dem Hintergrund mannigfaltiger Kulturalisierungen besonders herauszustellen
ist. Die geforderte Reflexivität hat sich der Tatsache zu vergewissern, dass „Ethnizität ihre soziale Relevanz interaktiv er- und behält“, was dafür spricht, „für den sozialen Umgang mit Unterscheidungen von einem Doing ethnicity auszugehen“. Mit diesem Konzept des Doing ethnicity „ist sowohl auf den Prozess der individuellen, situations- und kontextgebundenen Aneignung jener sinn- und identitätsstiftenden Unterscheidungen (…) verwiesen als auch auf deren Re-Produktion im Dienste eines sozial-ethnischen Ordnungsbildungsprozesses“. …

Folgt man den neueren integrationspolitischen Diskursen, dann soll die bislang vorherrschende Defizitperspektive auf die Adressatinnen und Adressaten überwunden und die Aufmerksamkeit auf Kompetenzen und Ressourcen der Migrantinnen und Migranten gerichtet werden. Der aufgerufene Potenzialansatz knüpft ohne Zweifel an gute sozial-)pädagogische Traditionen an. Die Kooperation mit den Migrantencommunities und Migrantenselbstorganisationen ist dann nur konsequent. Ein Ansatz, der auf die Ressourcen und Potenziale von Migrantinnen und Migranten setzt, wird aber vor allem vermeiden müssen, deren Werthaltungen und Lebensformen ausschließlich an den hierzulande vorherrschenden Lebensformen zu messen und ggf. zu diskreditieren. Welche Ressourcen sich für den Zugang zu den für die Lebensführung zentralen Bereichen der Gesellschaft als Potenziale oder als Barrieren erweisen, ist nur situativ und im Einzelfall zu entscheiden und erst rekonstruktiv, also ex-post zu evaluieren. Auf welche Ressourcen Migrantinnen und Migranten zurückgreifen, ist ihre Entscheidung, zumal die Risiken und Folgen letztendlich von ihnen selbst zu verantworten sind. Die Erweiterung von Ressourcen durch (sozial-)pädagogische Interventionen, auf die Migrantinnen und Migranten mit geringem ökonomischen, kulturellen oder sozialen Kapital angewiesen sind, ist abhängig von der Anerkennung der Lebenswelt „der Anderen“ und (damit) einer differenzkritischen und dominanzempfindlichen Haltung. Ob Migrantinnen und Migranten ihre Kompetenzen zur Geltung bringen können – ob in der Schule oder in einem Sportverein –, hängt von den gesellschaftlichen, institutionellen und sozialen Bedingungen ab, mit denen sie konfrontiert sind. Hierzu gehört auch die Konkurrenz um begehrte Güter und Positionen und wirkmächtige Deutungen und Kompetenzzuschreibungen.
Ohne die kritische Analyse dieser Bedingungen wird der Potenzialansatz nicht die Wirkungen entfalten können, die von ihm erwartet werden. …

Die Wahrnehmung von Migrantinnen und Migranten als unterstützungsbedürftige Bevölkerungsgruppe hat zur Herausbildung eines eigenen Arbeitsfelds geführt. Diese Strukturbildung ist insofern
begründungspflichtig, als die Probleme, die zur Bearbeitung anstehen, zumindest nicht ausschließlich mit der Migration im Zusammenhang stehen, sondern auch im Kontext von sozialer Ungleichheit, Armut und Marginalisierung zu analysieren sind. Schließlich weisen die Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit Gemeinsamkeiten in der sozialen Lage, in alterspezifischen Bedürfnissen und Lebensstilen und den Herausforderungen, die sie zu bewältigen haben, auf. Zwar erscheinen spezielle Angebote für Migrantinnen und Migranten begründbar, nämlich dann, wenn es migrationsbedingte Problemlagen und Benachteiligungen zu bearbeiten gilt. Sonderprogramme und Maßnahmen sind aber immer dort sinnvoll, wo soziale Benachteiligung durch ethnische Unterschichtung oder kulturspezifisch induzierte Ausgrenzungmit hervorgebracht wird. Generell erscheint jedoch eine Perspektive angemessen, die – dort, wo erforderlich, und eben nur dann – nach milieu-, geschlechts- und ethniespezifischen Gesichtspunkten differenziert und Gemeinsam keiten in der sozialen Lage, in (Teil-)Lebenswelten (z. B. Schule, Stadtteil) und in den Bedürfnissen in den Vordergrund stellt. …
Zu vermeiden ist, dass das bereits erreichte Maß an übergreifenden Gemeinsamkeiten durch eine auf Dauer gestellte Differenzbildung unterlaufen wird. „Eine interkulturelle Praxis, die sich beständig um die Andersheit der Anderen dreht und damit deren Andersheit herstellt und stabilisiert, affirmiert den Status Quo“. Eine reflektierte interkulturelle Praxis nimmt Differenzen wahr, ebnet sie aber nicht
ein. Aber sie weiß, was sie tut, schreibt Differenzen nicht fest, sondern eröffnet Räume, um Gemeinsamkeiten zu erstreiten. Dies wiederum verlangt eine besondere Sensibilität für Dominanzverhältnisse
und Ausgrenzungsmechanismen.

Die Integration von Migrantinnen und Migranten verlangt zwingend eine interkulturelle Öffnung der Institutionen der Einwanderungsgesellschaft, die mit Maßnahmen der Antidiskriminierung verbunden sein müssen.

„Interkulturelle Öffnung“ ist als Aufforderung zu verstehen, allen Zugewanderten und ihren Kindern eine umfassende Teilhabe an und den ungehinderten Zugang zu den ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft zu ermöglichen, insbesondere den Zugang zu Bildung, zu Erwerbsarbeit, zu den sozialen Sicherungssystemen, zu den Sozialund Gesundheitseinrichtungen, zur sozialen Infrastruktur, zu staatlichen Einrichtungen und dem öffentlichen Dienst. Dabei kommt der Stärkung der Inklusionsfunktion der Schule eine zentrale Bedeutung zu. Im Kern folgt die Programmatik der „interkulturellen Öffnung“ dem Gleichstellungspostulat. Von interkulturell ausgerichteten, migrationssensiblen Schulen, Verwaltungen und sozialen Diensten wird im Kern nichts anderes erwartet, als dass sie auf ihre Adressaten als Individuen eingehen.
Adressatenorientierung, Lebensweltorientierung, Biographie- und Ressourcenorientierung sind allgemein anerkannte Prinzipien, die die Einbeziehung Die Bedeutung von Kultur für die Betroffenen kann nicht aus einer Außenperspektive bestimmt werden. „Das Verhältnis von MigrantInnen zur Heimatkultur, wie sie es erleben und explizit oder implizit ihren vielgestaltigen Auslegungen präsentieren, ihre alltägliche kulturell geformte Praxis, ihre Bezüge zur ethnischen Subkultur und der damit verbundene subjektive Sinn, die sind Fragen, die (…) letztlich nur aus ihrer Perspektive und mit Berücksichtigung ihrer subjektiven Lebensinteressen beantwortet werden können“
von Kultur ermöglichen. …

Fazit
Ein reflexiver Zugang zur Ethnizitätsfrage wird zuförderst nach den Kontexten, nach den Bedingungen, dem Sinn, den Verlaufsformen und den Folgen von Prozessen der Selbst- und Fremdethnisierung bzw. ethnischen Gruppen- und Organisationsbildung fragen. Ein weiterer Forschungsbedarf
ist ohne Zweifel gegeben. … Die Folgen von Selbst- und Fremd-
Ethnisierungsprozessen sind im Auge zu behalten. Die Gefahr der Verfestigung ethnisch hergestellter Ungleichheitsstrukturen und ethnisierter Konflikte ist nicht von der Hand zu weisen. Insofern besteht eine Hauptaufgabe darin, die Kulturalisierung sozialer Verhältnisse wirksam zu kritisieren. Nur unter dieser Voraussetzung kann es gelingen, dass Fragen sozialer Zugehörigkeit, von Chancengleichheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt angemessen thematisiert werden.

Ein individualistischer Multikulturalismus, der die Freiheit des Individuums im Rahmen einer allgemeinen Staatsbürgerschaft stark macht und am Konzept der Zivilgesellschaft orientiert ist, erscheint
in diesem Zusammenhang eine angemessene Orientierung. Daraus
folgt ein Plädoyer für eine allgemeine, nicht auf Einwanderungsminoritäten beschränkte, Integrationspolitik, die zentrale Probleme der Gesellschaft (z. B. Arbeitslosigkeit, sozialer Zusammenhalt) nachhaltig bearbeitet und eine politische, soziale und kulturelle Demokratisierung anstrebt. Rechtliche und soziale Gleichstellung der Einwanderer gehören ebenso zu einer solchen Politik,
wie die Anerkennung und Integration des kulturellen Pluralismus.

Kulturelle Differenzen, ethnische Identitäten und Fremdheit sind wirksame soziale Konstruktionen, die in gesellschaftlichen Prozessen
hervorgebracht werden (Scherr 1999). Eine solche Einsicht kann sensibel dafür machen, dass die beständige Herstellung von Differenz es am Ende schwer macht, im Konfliktfall Zugehörigkeit anzuerkennen (Offe 1996). Die Forderung nach einer differenzkritischen und dominanzempfindlichen Haltung, zumal von Professionellen der Sozialen Arbeit, wird durch diesen Hinweis keineswegs relativiert, sondern geradezu unterfüttert. „

Das Gutachten im Volltext entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.

http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07693.pdf

Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung

Dokumente: Ethnische_Unterscheidungen_in_der_Einwanderungsgesellschaft.pdf

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