Altersverlauf und Erklärungszusammenhänge von Jugendkriminalität – Ergebnisse einer Verlaufsstudie

Auszüge aus dem Artikel Jugendkriminalität von Klaus Boers, Jost Reinecke, Christina Bentrup, Kristina Kanz, Susann Kunadt, Luca Mariotti, Andreas Pöge, Daniela Pollich, Daniel Seddig, Christian Walburg, Jochen Wittenberg:
„…
Altersverlauf der Jugendkriminalität im Dunkelfeld
… Das Begehen von delinquenten Handlungen im Jugendalter ist weit verbreitet. So berichteten in Duisburg 84% der Jungen und 69% der Mädchen zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr zumindest schon einmal ein Delikt begangen zu haben(alle erfragten Delikte ohne Internetdelikte und Drogenkonsum); bei Gewaltdelikten (einschließlich Körperverletzung ohne Waffe) waren es ebenfalls hohe Anteile von 61 % bzw. 37%.
Im Altersverlauf geht die Kriminalität bei allen Deliktsarten nach einem steilen Anstieg gegen Ende des Kindesalters bereits im Jugendalter wieder deutlich zurück. Letzteres wird als Spontanbewährung bezeichnet. Bemerkenswert ist, dass im Dunkelfeld der Kriminalität die höchste Delinquenzbelastung erheblich früher als im Hellfeld erreicht wird. In Duisburg war dies schon zu Beginn des Jugendalters (14. bis 15. Lebensjahr) der Fall, während nach der polizeilichen Kriminalstatistik das Maximum erst gegen Ende des Jugendalters erreicht wird. Im Duisburger Dunkelfeld setzte der Rückgang schon ab dem 15. bis 16. Lebensjahr in einer Weise ein, dass spätestens ab dem 17. Lebensjahr das Delinquenzniveau geringer als im 13. Lebensjahr war. … Die Spontanbewährung erfolgt also im Wesentlichen ohne polizeiliche oder justizielle Eingriffe und ist im Übrigen Ausdruck einer im Kindes- und Jugendalter erfolgreich verlaufenden Normsozialisation in der Familie, Schule oder in den Peer Groups. …

Eher problematisch sind indessen jugendliche Intensivtäter (fünf und mehr Gewaltdelikte pro Jahr). Diese Gruppe ist mit ca. 6% im 14. bis 15. Lebensjahr zwar klein, berichtet aber die Hälfte aller Taten und über drei Viertel aller Gewaltdelikte. Hinsichtlich der Intensivtäter wurde vor allem wieder in den achtziger und neunziger Jahren angenommen, dass diese bis tief in das Erwachsenenalter hinein deliquent bleiben, insbesondere jene, die schon im Kindesalter auffällig wurden. In der vorliegenden Studie geht jedoch auch der Anteil an Intensivtätern, früher als bislang angenommen, ab dem 16. Lebensjahr zurück. …

Alkohol und Drogenkonsum
Der Alkoholkonsum ist insgesamt als recht hoch zu bezeichnen und steigt – im Unterschied zur Delinquenzentwicklung – während des Jugendalters stetig an. Ein Viertel der Duisburger Befragten berichtete im 17. Lebensjahr einen intensiven Konsum (mehr als einmal im Monat betrunken), was allerdings noch um ein Drittel unter den Raten der Münsteraner Jugendlichen lag. Problematisch ist, dass der intensive Alkoholkonsum mit deutlich erhöhten Gewaltraten zusammenhängt. Dieser zusammenhang gilt jedoch nur bis zur Mitte des Jugendalters, denn schon ab dem 15. Lebensjahr geht der Anteil der Gewalttäter unter den Intensivkonsumenten zurück. Im Hinblick auf die Gewaltkriminalität wird der Alkoholkonsum also mit zunehmendem Alter besser beherrscht. Im unterschied zum Alkoholkonsum nimmt der Drogenkonsum schon ab dem 16. Lebensjahr wieder ab. Bei den konsumierten Drogen handelt es sich ganz überwiegend um Cannabisprodukte. So gaben rund 22% der 15- und 16-jährigen Befragten an, innerhalb des letzten Jahres zumindest ein Mal Cannabisprodukte probiert zu haben, während es bei Ecstasy rund 4%, Kokain 3% und Heroin etwa 1 % in dieser Altersgruppe waren. …

Problembelastung und Gewalt
Die Belastung mit psychosozialen Problemen wird oftmals mit Jugenddelinquenz und Jugendgewalt in Verbindung gebracht. …

Es hat sich … gezeigt, dass problembelastete jugendliche Gewalt als Handlungsroutine zur Problemlösung stärker internalisiert haben als weniger stark belastete Jugendliche. Des Weiteren schätzen sie sowohl das Risiko, bei Gewalthandlungen entdeckt zu werden, als auch deren mögliche Kosten geringer ein. Die insgesamt wichtigste Voraussetzung von Gewalthandeln ist die Vertrautheit mit gewalthaltigen Handlungsroutinen. Auch wenn potenzielle Kosten und Risiken als gering eingeschätzt werden, kommt es ohne solche Routinen kaum zur Ausübung von Gewalt. …

Im Zeitverlauf zeigte sich, dass Gewalthandlungen die darauf folgenden Problembelastungen kaum beeinflussen. Gleichermaßen wird die Internalisierung von gewalthaltigen Handlungsroutinen durch vorangehendes Gewalthandeln kaum beeinflusst. Dennoch erwiesen sich die Problembelastung sowie die Internalisierung solcher Handlungsroutinen als zeitlich sehr stabil. …

Migration und Kriminalität
In Münster …, bestätigte sich der bereits aus verschiedenen anderen Studien bekannte Befund, dass die Belastung mit leichterer Eigentums- und Sachbeschädigungskriminalität unter jungen Migranten nicht höher liegt als unter einheimischen Jugendlichen. Gewaltdelikte und hierbei auch die mehrfache Tatbegehung wurden indes von Jugendlichen mit Migrationshintergrund häufiger berichtet. In Deutschland geborene Jugendliche, deren Eltern immigriert sind, wiesen dabei höhere Täterraten auf als noch selbst eingewanderte Jugendliche. Erhöhte Gewaltdelinquenzraten fanden sich tendenziell bei allen Herkunftsgruppen. Dies spricht dafür, dass eher die mit der eigenen beziehungsweise familiären Migrationserfahrung zusammenhängenden Umstände als die spezielle „ethnisch“ oder „kulturell“ definierte Zugehörigkeit (unter bestimmten Bedingungen) mit rechtswidrigem Verhalten einhergehen.
Die gegenüber einheimischen Befragten erhöhte Gewaltbelastung bei im Ausland geborenen Jugendlichen – darunter vor allem junge (Spät-)Aussiedler aus Osteuropa – ist ganz wesentlich durch deren soziale Lage und dabei insbesondere durch ihre in Münster sehr deutliche Bildungsbenachteiligung zu erklären. …

Die in Münster festgestellte erhöhte Gewaltbelastung unter Jugendlichen
ausländischer Herkunft ließ sich … in Duisburg nicht in gleicher Weise beobachten. Dort zeigten sich auch bei Gewaltdelikten kaum Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Vor allem die Täterraten der türkischstämmigen Jugendlichen, die in Duisburg rund 20% der Bevölkerung in dieser Altersgruppe ausmachen und die gemeinhin als eine der „besonderen Problemgruppen“ gelten, liegen für alle Delikte auf insgesamt ähnlichem Niveau wie bei einheimischen Befragten. …

Die Gründe für die insgesamt nicht höhere Gewaltbelastung in Duisburg erscheinen vielfältig. Jugendliche türkischer Herkunft bekennen sich häufiger zu traditionellen Werten und Religiosität, konsumieren weniger Alkohol und Drogen und sind in der Bildungspartizipation nicht durchweg benachteiligt. Der Anteil an Schülern der Sekundarstufe II unter deutschen und türkischstämmigen Duisburgern ist in etwa gleich groß, wobei die jungen Deutschen eher ein Gymnasium, die jungen Türken eher eine Gesamtschule besuchen. …

Wohnort und Delinquenz
Die auf den ersten Blick plausible Annahme, dass jugendliche Täter erheblich häufiger in strukturell benachteiligten als in besser gestellten Stadtteilen wohnen, konnte in zahlreichen Untersuchungen nicht bestätigt werden. Das war auch in Duisburg nicht anders. …
Schließlich sind Wohnorte von Tatorten zu unterscheiden. Die Wohnumgebung mag (in gewissem Umfang) die Entstehung von Delinquenz begünstigen, die von den Tätern am häufigsten genannten Tatorte lagen indessen nicht in den Wohnvierteln, sondern im Innenstadtbereich. Also dort, wo sich in sozialer wie materieller Hinsicht die meisten Tatgelegenheiten ergeben. Hier kommen vor allem an Wochenendabenden viele Jugendliche zusammen, besteht in Kaufhäusern und Läden das größte Warenangebot und unterliegen Jugendliche nicht der engeren sozialen Kontrolle durch die Familie oder Nachbarschaft. …

Soziale Wertorientierung

Zur … Erklärung der Entwicklung delinquenten und im Speziellen gewalttätigen Verhaltens im Jugendalter wurden auf der Basis eines Strukturdynamischen Analysemodells drei Stufen distaler und proximaler Prädiktoren unterschieden. (1) Distale Wertorientierungen repräsentieren als an Lebens- und Freizeitstilen orientierten Manifestationen sozialer Milieus unterschiedliche Facetten der Sozialstruktur. Sie wirken vornehmlich indirekt auf delinquentes Verhalten, haben aber einen direkten Einfluss auf die (2) Bindungen an Eltern, gleichaltrige Freunde und Bekannte (Peers) sowie an die Schule als die typischen Sozialisationsinstanzen der Jugendphase. Diese sozialen Bindungen vermittelnden Einfluss sozialer Milieus auf die proximale Ebene (3) der deliquenten Normorientierungen und Zugehörigkeit zu deliquenten Gruppen.
Letztere bilden, ganz im Sinne der kriminologischen Lerntheorie, ein delinquentes Kommunikationssystem: Delinquenz befürwortende und rechtfertigende Normen werden in delinquenten Gruppen gelernt und vestärkt. Deliquente Normorientierungen und die Zugehörigkeit zu deliquenten Gruppen beeinflussen als einzige Faktoren unmittelbar das delinquente Verhalten. …
So zeigte sich hinsichtlich der Gewaltdelinquenz, dass hedonistisch orientierte Jugendliche verstärkt gewalttätige Peergruppen angehören (mit anderen prügeln, Verbotenes tun etc.), was mit Gewalt befürwortenden Normen verbunden ist. … Andererseits zeigten Analysen der Gesamtdelinquenz, dass vor allem traditionelle Wertorientierungen einen Pfad in die Konformität eröffnen. Die mit traditionelle Wertorientierungen verbundene Bindung an die Schule … führt zu einer verstärkten Akzeptanz konformer Normorientierungen. Diese Normorientierungen wirken sich unmittelbar Delinquenz hemmend aus. …“

Den Artikel in vollem Textumfang entnehmen Sie den Zeitschriften „Neue Kriminalpolitik“ 2-210 oder „forum kriminalprävention“ 4/2010

www.neue-kriminalpolitik.de
www.uni-bielefeld.de/soz/krimsadt

Quelle: forum kriminalprävention 4/2010

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