Verletzt Deutschland das Menschenrecht auf Bildung?

Auszüge aus dem Alternativbericht zum fünften Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland an den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen:
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Menschenrecht auf Bildung
Der Bildung werden zahlreiche Funktionen zugeschrieben: So soll sie die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit bzw. das Bewusstsein über die menschliche Persönlichkeit ermöglichen. Bildung soll damit auch das Selbstbewusstsein der Individuen fördern und die Partizipation am gesellschaftlichen Leben und dessen Gestaltung ermöglichen. Bildung soll bestehenden sozialen Ungleichheiten entgegenwirken und Armut bekämpfen helfen. Schließlich soll Bildung als ökonomischer Faktor durch Steigerung der Produktivität zu einem besseren Leben beitragen. …

Die überragende Bedeutung von Bildung für die Einzelnen und für die Gesellschaft konstituieren ein Recht auf Bildung, da ein Ausschluss von Bildungsprozessen die Persönlichkeitsentwicklung, die Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen aber auch die individuellen Möglichkeiten massiv beschneiden. Dieses Recht wird in Artikel 13 des UN-Sozialpakts formuliert und damit von den unterzeichnenden Staaten, wozu auch Deutschland gehört, anerkannt.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat sich des Themas schon länger angenommen. In einem Beschluss des Gewerkschaftstages 2009 heißt es: „Eine gute Bildung und Ausbildung für alle ist nicht nur ein Menschenrecht, sondern darüber hinaus eine unerlässliche Voraussetzung für eine soziale und friedliche Entwicklung der Gesellschaft.“ Vor diesem Hintergrund muss die Durchsetzung der Bildungsbeteiligung und die Wahrung der Rechte der TeilnehmerInnen an Bildungsprozessen (SchülerInnen, Studierende, Auszubildende) wie auch der Lehrenden und anderen BildungsarbeiterInnen ein zentrales Anliegen einer funktionierenden Demokratie sein. Schwächen bei der Umsetzung der Menschenrechts auf Bildung sind zwingend zu beheben, die Chancengleichheit ist ein zentrales Moment moderner Staatlichkeit. …

Menschenrechtsbildung (Art. 13) und Schulpflicht (Art. 14)
Einleitende Bemerkungen
Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen hat seine Prüfung des vierten Staatenberichtes der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 16 und 17 des Paktes am 13. August 2001 mit „Schlussfolgerungen“ abgeschlossen. Erst sieben (.) Jahre später geht die Bundesrepublik Deutschland auf die Besorgnisse, Vorschläge und Empfehlungen des Rates ein. …

Wer allerdings erwartet hat, dass der fünfte Staatenbericht im Zusammenhang der Artikel 13 und 14 z.B. auf den viel beachteten Deutschlandbesuch des UN-Sonderberichterstatters Vernor Muñoz im Frühjahr 2006 und auf seinen Bericht im Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen im März 2007 oder auf die zahlreichen internationalen Vergleichsstudien Bezug nimmt, wird enttäuscht. Muñoz-Besuch, die internationalen Leistungsvergleichsstudien PISA und PIRLS (in Deutschland IGLU) werden mit keiner Silbe erwähnt. …

Menschenrechtsbildung im allgemeinbildenden Schulsystem
Der fünfte Staatenbericht stützt sich in seinen Aussagen zur Menschenrechtsbildung im allgemein bildenden Schulsystem auf eine Länderumfrage des Sekretariats der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Menschenrechtsbildung in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz 2008). Der Staatenbericht referiert wörtlich das Vorwort dieser Umfrage, allerdings ohne dies kenntlich zu machen oder auf die Umfrage Bezug zu nehmen.

Im fünften Staatenbericht finden sich allgemeine Aussagen wie z.B. „Dem Schulwesen kommt bezüglich der Menschenrechtsbildung eine besondere Bedeutung und Verantwortung zu.“ oder „Menschenrechtsbildung ist in den Schulgesetzen der einzelnen Länder verankert.“ Eine Überprüfung der letzten Aussage anhand der KMK-Umfrage ergibt jedoch, dass man von einer Verankerung der Menschrechtsbildung in den Schulgesetzen der Länder zumindest nicht unter diesem Begriff sprechen kann. Ein expliziter Bezug auf die Menschenrechte findet sich nur in den Schulgesetzen Bremens und Niedersachsens.

Die 2003 in einer Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) getroffene Feststellung, „Menschenrechtsbildung (MRB) ist in der deutschen Bildungslandschaft ein noch relativ junges Gebiet, sowohl hinsichtlich der erziehungswissenschaftlichen Forschung, als auch mit Blick auf die pädagogische Praxis“ hat auch heute noch uneingeschränkte Gültigkeit. Es ist nicht erkennbar, dass sich daran seit 2003 substantiell etwas geändert hätte. Merkliche Aktivitäten von Bildungspolitik und –verwaltung waren seitdem nicht festzustellen.

Inhalte der Menschenrechtsbildung
Im fünften Staatenbericht wird ausführlich beschrieben, dass in den Stundentafeln der meisten Schulfächer Zeiten für Inhalte der Menschenrechtsbildung vorgesehen sind. Hinsichtlich der exemplarisch genannten Inhalte fällt auf, dass als Bezugspunkt nicht die UN-Konventionen sondern das Grundgesetz genannt werden und dass die Inhalte größtenteils der staatsbürgerlichen Erziehung zuzurechnen sind. … Daneben wird außer auf Themen aus dem Bereich von Ethik und Moral auch auf ökonomische und ökologische Fragen verwiesen.

Insgesamt machen die Ausführungen des Staatenberichts zu inhaltlichen Fragen der Menschenrechtsbildung einen ungeordneten und unsystematischen Eindruck. Die gängige Systematik (Lernen über die Menschenrechte – Lernen durch die Menschenrechte – Lernen für die Menschenrechte) findet sich im Staatenbericht ebenso wenig wieder wie in den Lehrplänen und Stundentafeln. …

Die keineswegs systematische Verankerung von Themen der Menschenrechtsbildung in den Lehr- und Bildungsplänen ist auch den Verfassern des Staatenberichts bewusst. Ihnen ist zuzustimmen, wenn sie schreiben: „Trotz der Vielzahl der hier für die Menschenrechtsbildung exemplarisch genannten Inhalte der einzelnen Unterrichtsfächer bleibt es in den meisten Fällen den Schulen bzw. Fachkonferenzen selbst überlassen, welche Plattform sie für die Vermittlung der Menschenrechtsbildung wählen. Grundsätzlich gilt, dass das Thema Menschenrechte in allen Jahrgangsstufen aufgegriffen werden kann (Hervorhebung durch Verf.), wenn nur dem Alter und der Reife der Schülerinnen und Schüler angemessene Inhalte und Methoden verwandt werden, die den Jahrgangsstufen in Niveau und Schwierigkeitsgrad angemessen sind“. …

Die Beliebigkeit und Zufälligkeit, mit der Menschenrechtsbildung in den Schulen erfolgt, verweist auf ein generelles Problem so genannter Querschnittsthemen in pädagogisch vergleichsweise selbstständigen Schulen:
Querschnittsthemen haben keinen festen Ort im Stundenplan. Ob und in welchem Umfang sie Gegenstand des Lernens werden, hängt folglich von vielen Zufällen ab: Welche Interessen und Ausbildungsschwerpunkte die Lehrkräfte haben, ob überhaupt der Personalbedarf gedeckt ist, welche Schwerpunkte im Schulprogramm festgelegt werden usw. Verstärkt wird dieser unbefriedigende Zustand noch durch die zunehmende Orientierung an kompetenzorientierten Bildungsstandards bei weitgehender Vernachlässigung einer Orientierung an Inhalten. …

Die Aussagen im fünften Staatenbericht zum allgemeinbildenden Schulwesen
Im fünften Staatenbericht findet sich im Zusammenhang der Ausführungen zur Menschenrechtsbildung ein Exkurs über Menschenrechtsbildung im Verhältnis zu den Menschenrechten der Schülerinnen und Schüler, zum Recht auf Bildung und zum Auftrag der Schule, Chancengleichheit herzustellen. Darin sind erstaunliche, Geist und Inhalt der UN-Konventionen relativierende und widersprechende Aussagen enthalten. Dort heißt es zu den Aufgaben der Schule: „So sollen neben der reinen Kenntnis- und Wissensvermittlung das Verständnis für die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik, Achtung, Toleranz und der Respekt vor anderen Kulturen sowie eine grundlegende Verantwortung gegenüber der Gesellschaft herausgebildet werden. Auf dieser Grundlage ermöglichen die Schulen die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes einzelnen und versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten Chancenungleichheiten entgegenzuwirken sowie Benachteiligungen auszugleichen“.

Vielleicht ist diese Passage sprachlich verunglückt und anders gemeint. Sie lässt sich zugespitzt jedoch so lesen, als müssten die Schüler/innen ihrerseits Vorbedingungen erfüllen („auf dieser Grundlage…“), damit Schulen die freie Entfaltung der Persönlichkeit der jungen Menschen „ermöglichen“ und als gäbe es andererseits viele Unwägbarkeiten und Einschränkungen („…versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten…“), die zentrale Aufgabe der Schule, „Chancenungleichheiten entgegenzuwirken sowie Benachteiligungen auszugleichen“ zu erfüllen. Diese Passage hinterlässt den unangenehmen Eindruck von der Schule als einer Institution, die bestenfalls halbherzig die originären Menschenrechte ihrer Schülerinnen und Schüler respektiert und ohne großes Engagement durchsetzt.

Dazu passt, dass auch das Recht auf Bildung mit Einschränkungen versehen wird. Während etwa die Kinderrechtskonvention in Artikel 29 unmissverständlich formuliert: „Die Vertragsstaaten stimmen darin überein, dass die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muss, die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen“ heißt es im Staatenbericht relativierend: „In diesem Zusammenhang (Benachteiligungen auszugleichen) hat jeder Mensch, unabhängig von seiner Herkunft und seinem sozialen Stand, das Recht auf eine für ihn angemessene Bildung und Erziehung“.

Aus der „vollen Entfaltung“ der Kinderrechtskonvention wird so unter der Hand eine angemessene Bildung und Erziehung. Und was angemessen ist, wird im deutschen Schulsystem bekanntlich über die Köpfe der Kinder hinweg bereits im Alter von 10 Jahren festgelegt, wenn über ihre berufliche Zukunft eher als Arzt oder Putzfrau entschieden wird. …

KMK, Bundesregierung und Vorbehaltserklärung Kinderrechtskonvention
Wie unzureichend das Engagement offizieller Stellen für die Verwirklichung des Rechts auf Bildung für alle Kinder und Jugendlichen ist, wird exemplarisch am Verhalten der Kultusministerkonferenz (KMK) in Bezug auf die Vorbehaltserklärung zur Kinderrechtskonvention deutlich. Unter dem öffentlichen Druck aus Anlass des Besuchs des UN-Sonderberichterstatters stellte der damalige KMK-Vizepräsident Böger am 16.02.2006 in einer Pressemitteilung u.a. Folgendes in Aussicht: „Die Kultusministerkonferenz wird am 2./3. März 2006 eine Erklärung zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention in den Ländern abgeben, in der sie das Alter von 18 Jahren als maßgeblich für die Einstufung als Kind – wie von der UN gefordert – ansehen wird. Sie wird die Bundesregierung auffordern, auch den letzten ihrer diesbezüglichen Vorbehalte zurückzuziehen.“

Die KMK bezieht sich hier auf den Umstand, dass im Ausländerrecht der Kindstatus mit Vollendung des 16. Lebensjahres endet, in der UN-Kinderrechtskonvention hingegen mit Vollendung des 18. Lebensjahres. Die angekündigte Erklärung ist nicht öffentlich bekannt gemacht worden und über die automatische Suchfunktion auf der Seite der KMK auch nicht zu finden. Sie enthält explizit auch keinen Bezug zur Vorbehaltserklärung. Im Gegensatz zur Ankündigung des Vize-Präsidenten der KMK wurde auch kein diesbezügliches Schreiben an die Bundesregierung gerichtet. Auf Nachfrage der GEW stellte sich heraus, dass der Beschluss der KMK lediglich der National Coalition für die Rechte des Kindes zur Kenntnisnahme zur weiteren Verwendung übergeben wurde. Angesichts dieses Ablaufes wirkt es fast schon peinlich, dass sich der fünfte Staatenbericht auf diese Erklärung beruft, um zu unterstreichen, dass die Kultusministerkonferenz die „besondere Bedeutung und Verantwortung des Schulwesens“ für die Menschenrechtsbildung erkannt hat und sich „insbesondere in Form von Vereinbarungen und Erklärungen“ mit der Thematik beschäftigt. „

Den Alternativbericht „Bildung ein Menschenrecht“ in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang.

Quelle: GEW

Dokumente: UN_Sozialpakt_WEB.pdf

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