Deutsches Institut für Menschenrechte nimmt Stellung zu Aussagen Sarrazins

„Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ – so lautet der Titel eines von Thilo Sarrazin geschriebenen „Sachbuchs“, das soeben im renommierten DVA-Verlag erschienen ist. In einer Stellungnahme betrachtet das Deutsche Institut für Menschenrechte Sarrazins Aussagen unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten.

Auszüge aus der von Dr. Hendrik Cremer, Wissenschaftlicher Referent am Deutschen Institut für Menschenrechte, verfassten Stellungnahme:

„Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sachlichkeit. Sarrazin manipuliert. Dies etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungssystem und im Bereich der Beschäftigung mit grotesken Thesen einfach leugnet. Außerdem greift er beliebig auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie zu seiner Weltsicht passen. Andere Interpretationsmöglichkeiten bezieht er nicht mit ein. Datenerhebungen oder Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen, die zu seiner eigenen Wirklichkeit nicht passen, finden keine Erwähnung.

Deutschland gehört zu den Staaten, die sich – wie die EU und zahlreiche Staaten weltweit – zu den Menschenrechten bekennen. Sarrazins Ausführungen unter der Rubrik „Zuwanderung und Integration“ verkennen die Bedeutung von Menschenrechten und internationalem Flüchtlingsschutz. Sofern sie seinen Vorstellungen von Politik entgegenstehen, begreift er sie als lästiges Übel, das beliebig abzuschaffen sei. (…) Sarrazin scheint nicht zu verstehen, dass Menschenrechte und internationaler Flüchtlingsschutz den Staat binden. Seine Vorschläge für Änderungen in der Zuwanderungspolitik sind weder mit international gültigen Menschenrechten vereinbar noch mit dem deutschen Grundgesetz. Sie bewegen sich außerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung.

Die Diskussion zu Aussagen von Thilo Sarrazin zeigt: Es wird Zeit, in Deutschland eine Debatte über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen. (…)

Rassistische Argumentationsmuster der Gegenwart verlaufen – wenn man so will – versteckter. Typischerweise basieren sie auf Zuschreibungen aufgrund unterschiedlicher „Kulturen“, „Nationen“, „Ethnien“ oder Religionszugehörigkeit. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion von Gruppen, nach der in „Wir“ und die „Anderen“ unterteilt wird. Es handelt sich um Konstruktionen, weil vermeintlich homogene Gruppen gebildet werden, deren indivi-duellen Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Konsequenz solcher Zuschreibungen ist damit auch, dass die jeweiligen Menschengruppen sozusagen in ihnen „gefangen“ gehalten und nicht mehr als Individuen wahrgenommen werden. Solche Kategorisierungen von Menschen erreichen jedenfalls dann rassistische Dimensionen, wenn sie mit Hierarchisierungen oder Abwertungen einzelner Gruppen einhergehen.

Legt man dieses zeitgemäße Verständnis von Rassismus zugrunde, ist es ein Leichtes, Aussagen von Sarrazin als rassistisch zu bewerten: Kennzeichnend für seine Äußerungen ist, dass er die Gesellschaft in Deutschland nach dem Muster „Wir“ und die „Anderen“ unterteilt. Innerhalb der „Anderen“ bildet er weitere Untergruppen wie „Türken“ „Araber“ oder wahlwei-se „muslimische Migranten“, deren Mitgliedern er in verallgemeinernder und herabwürdigen-der Weise bestimmte negative Eigenschaften zuschreibt.

Sarrazin weist den Vorwurf rassistischer Denkstrukturen von sich. Zugleich greift er zu einem Stilmittel, das bei der Verbreitung solchen Gedankenguts nicht unüblich ist. Er beklagt die Mauern der politischen Korrektheit, um gleichzeitig rassistische Verbalattacken vorzunehmen.

Damit aber nicht genug. Die Thesen Sarrazins zur „genetischen Identität“ eines Volkes, in denen er die Vererbung von Eigenschaften – insbesondere von Intelligenz – mit der „Kultur“ von Menschen in einen Zusammenhang setzt oder Sätze formuliert wie „Alle Juden haben ein bestimmtes Gen“, erreichen eine Dimension, bei der es nicht ausreicht, sie als rassistische Äußerungen modernen Zuschnitts zu klassifizieren. Sarrazin nimmt mit seinen biologistischen Thesen vielmehr Rückgriff auf ein Gedankengut, welches die geistige Grundlage des Nationalsozialismus bildete: Die Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschengruppen („Rassen“) nach pseudowissenschaftlichen Kriterien. (…)

Die gegenwärtige Debatte sollte (…) zum Ausgangspunkt für eine sachliche Diskussion über das Verständnis von Rassismus und die Voraussetzungen einer inklusiven Gesellschaft in Deutschland genommen werden.

Dabei muss klar sein: In Sarrazins rassistischen Ausführungen und Grundaussagen werden fundamentale Prinzipien des nach 1945 geschaffenen Deutschen Grundgesetzes und der universell gültigen Menschenrechte negiert. Außerdem liegen wesentliche Forderungen Sarrazins nach Rechtsänderungen im Bereich der Zuwanderungspolitik jenseits des menschenrechtlich Zulässigen und des unveränderbaren Kerns des Grundgesetzes. „Deutschland schafft sich ab“: So gesehen macht der Titel des Buches Sinn.“

Quelle: Deutsches Institut für Menschenrechte

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