Lernen für die Arbeitswelt – Prüfungen der Berufsbildungspolitik durch die OECD

Die Berufsbildungssysteme der Mitgliedsstaaten sind Untersuchunsgegenstand einer OECD-Studie, um herauszufinden, ob sie in der Lage sind, die erforderlichen Kompetenzen zu vermitteln. Deutschland verfügt über ein gut ausgebautes System der Berufsbildung. Es verfügt über eine starke duale Komponente, Lernen im Betrieb und in der Schule werden sinnvoll und erfolgreich untereinander verknüft. Aber Deutschland steht auch mehreren Herausforderungen gegenüber. Das Übergangssystem ist kostspielig und leidet unter Fragmentierung. Bildungs- und Berufsberatung erhalten nicht automatisch alle Schüler/-innen. Die Beratungsleistung wird von unterschiedlichen Stellen erbracht. Die Vermittlung von Basiskompetenzen bedarf einer größeren Aufmerksamkeit.

Berufsbildungssysteme stärker auf Arbeitsmarkterfordernisse abstimmen

Die OECD führt in folgenden Ländern Prüfungen der Berufsbildungspolitik durch: Australien, Belgien (Flandern), Deutschland, Irland, Korea, Mexiko, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich (England und Wales), Vereinigte Staaten (South Carolina und Texas). Die vorliegende Untersuchung der Berufsbildung in Deutschland ist Teil der OECD-Studie zur Berufsbildungspolitik „Lernen für die Arbeitswelt“, die sich aus Analysearbeiten und einzelnen Länderberichten zusammensetzt, die den Ländern dabei helfen sollen, ihre Berufsbildungssysteme stärker auf die Arbeitsmarkterfordernisse abzustimmen. Der Bericht über Deutschland erörtert die wichtigsten Herausforderungen, vor denen das hiesige Berufsbildungssystem steht, was durch einen daran anknüpfenden, zusammenhängenden Katalog von fünf Empfehlungen für die Politik ergänzt wird.

Auszüge aus der OECD-Studie „Lernen für die Arbeitswelt“ für Deutschland von Kathrin Hoeckel und Robert Schwartz:

„Die Stärken des deutschen Berufsbildungssystems

Die größte Stärke des deutschen Ansatzes in der Berufsbildung ist zweifelsohne das duale Ausbildungssystem mit den von ihm verkörperten Grundsätzen. Dieses System, das in etwas abgewandelter Form auch in anderen europäischen Ländern verbreitet ist, findet nicht ohne Grund weltweit große Anerkennung, und es wurden zahlreiche Versuche unternommen, es in andere Länder zu exportieren. Eines seiner Grundprinzipien ist die Komplementarität von Lernen in der Schule und Lernen am Arbeitsplatz, wobei die stärker theoretische Ausrichtung des Unterrichts in der Schule ihr Gegenstück in der stärker praxisbezogenen Unterweisung im Betrieb findet. Diese beiden Elemente verstärken sich gegenseitig: Theoretisches Wissen ermöglicht ein fundiertes Herangehen an praktische Probleme, während die Arbeitspraxis durch die ständige Konfrontation mit realen Beispielen und Anwendungsmöglichkeiten die Aneignung theoretischer Kenntnisse erleichtert. Diese komplementäre Wirkung kommt am besten zum Tragen, wenn die Schülerinnen und Schüler in regelmäßigen Abständen an beiden Lernorten geschult werden.

Das duale System beruht auf einer Reihe wesentlicher institutioneller Vorkehrungen. Die Arbeitgeber übernehmen über die Kammern eine seit langem fest bestehende Funktion bei der Festlegung der Ausbildungsinhalte, der Überwachung des betrieblichen Teils der Ausbildung und der Aufstellung der Prüfungsordnungen. Diese Funktion gewährleistet auf wirkungsvolle Weise, dass sich die Arbeitgeber dem betrieblichen Ausbildungssystem verpflichtet sehen und dass die dort erworbenen berufsqualifizierenden Abschlüsse von ihnen getragen werden. Mit diesem Rahmen ist daher nicht nur ein starker pädagogischer Ansatz bei der Verbindung von Lernen in der Schule und Lernen am Arbeitsplatz sichergestellt, sondern wird auch eine institutionelle Struktur geschaffen, die das Angebot an betrieblichen Ausbildungsmöglichkeiten sowie die Anerkennung der Abschlüsse durch die Arbeitgeber fördert. So wird ein positiver Kreislauf in Gang gesetzt, bei dem das hohe Ansehen der Berufsbildung dafür sorgt, dass sich die Schülerinnen und Schüler bereitwillig für eine betriebliche Ausbildung entscheiden, die Arbeitgeber sich für ihre Auszubildenden engagieren und die betriebliche Ausbildung durch gute Arbeitsmarktergebnisse belohnt wird. Und es überrascht nicht, dass die Berufsbildung in Deutschland in der Regel größeres Ansehen genießt als in vielen anderen Ländern und die starken Strukturen des dualen Systems erfolgreich auf höher qualifizierte Berufe übertragen wurden, deren Ausübung in anderen Ländern eine Ausbildung im Tertiärbereich voraussetzen würde.

(…) Diese Stärken lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Die Berufsbildung ist in Deutschland fest in der Gesellschaft verankert und genießt hohes Ansehen. Sie bereitet junge Menschen für ein breites Spektrum von Berufen vor. Die in diesem System erworbenen berufsqualifizierenden Abschlüsse werden auf dem Arbeitsmarkt weiterhin geschätzt, und das System ist auch flexibel genug geblieben, um für die Abschaffung unbefriedigender Ausbildungsprogramme zu sorgen und auf die Entstehung neuer Wirtschafts- und Berufsfelder mit der Entwicklung neuer Ausbildungsprogramme zu antworten. (…)
  • Eine der größten Stärken des dualen Systems ist das hohe Maß an aktivem Engagement der Arbeitgeber und anderen Sozialpartnern. Das System ist aber auch durch ein komplexes Geflecht von Kontrollen und Gegenkontrollen auf Bundes-, Länder-, Gemeinde- und Betriebsebene gekennzeichnet. Dadurch wird gewährleistet, dass die allgemeineren bildungspolitischen und wirtschaftlichen Ziele des Berufsausbildungssystems nicht durch kurzfristige Bedürfnisse seitens der Arbeitgeber verdrängt werden. (…)
  • Die Mittelausstattung des Berufsbildungssystems ist insgesamt gut, wobei sich private und öffentliche Finanzierung ergänzen, um nicht nur das duale System und die beruflichen Vollzeitschulen, sondern auch ein breites Spektrum von Übergangsprogrammen für junge Menschen zu unterstützen, die zusätzliche Hilfe benötigen, bevor sie eine Berufsausbildung beginnen können. Trotz der Wirtschaftsrezession erhielt das Berufsbildungssystem in Deutschland weiter starke finanzielle Unterstützung, und die Arbeitgeber haben das Angebot an Ausbildungsplätzen aufrechterhalten, um einem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit entgegenzuwirken – und u.U. auch, um infolge des demografischen Wandels drohenden künftigen Personalengpässen vorzubeugen. (…)

Herausforderungen an das deutsche Berufsbildungssystem

Trotz der vielen Stärken, die das deutsche Berufsbildungssystem aufweist, steht es weiterhin vor einer Reihe von Herausforderungen. Dabei geht es um folgende Punkte:

  • Das Übergangssystem, an dem heute fast genauso viele junge Menschen teilnehmen wie am dualen System, leidet unter übermäßiger Fragmentierung und fehlender Transparenz. Trotz der sehr umfangreichen zur Verfügung gestellten Mittel ist die Zahl der Programmteilnehmer, denen es anschließend gelingt, in das reguläre duale Berufsausbildungssystem überzuwechseln, zu gering.
  • Angesichts des jungen Alters, in dem von den Schülerinnen und Schülern in Deutschland erwartet wird, dass sie sich für einen Beruf entscheiden, ist es äußerst wichtig, dass alle Zugang zu qualitativ hochwertiger Information und Beratung haben. Qualität und Erfassungsbereich der Berufsberatung schwanken jedoch stark und es gibt keine allein zuständige Stelle, die für die Erbringung qualitätsvoller Informations- und Beratungsdienste für alle Schülerinnen und Schüler verantwortlich wäre.
  • Die sehr schwachen PISA-Ergebnisse mancher Hauptschülerinnen und Hauptschüler sind ein Indiz für einen der Gründe, warum viele junge Menschen beim Übergang von der Pflichtschulzeit in die Berufsausbildung scheitern. Die Beurteilung der Schülerinnen und Schüler im dualen System nach Abschluss der Berufsausbildung erfolgt in erster Linie über die Kammerprüfung, die darüber entscheidet, ob sie ihr Berufsabschlusszeugnis (Gesellenbrief, Facharbeiterbrief usw.) erhalten. Da ihre in den Berufsschulen erbrachte Leistung in dem Kammerzeugnis nicht berücksichtigt wird, kann es sein, dass die Schülerinnen und Schüler den Berufsschulunterricht vernachlässigen, was sich negativ auf ihre Fähigkeit auswirken kann, später erfolgreich an einem tertiären Bildungsgang teilzunehmen. (…)
  • Eine wichtige Herausforderung in Deutschland ist der demografische Wandel, der dazu führt, dass die Jahrgangskohorten kleiner werden. Dieses Phänomen hat bereits schwerwiegende Auswirkungen, vor allem in den neuen Bundesländern, wo Schulen wegen zu geringer Klassengrößen zusammengelegt werden mussten.

Politikempfehlungen

Die Berufsbildung spielt im deutschen Bildungssystem eine herausragende Rolle, sie zieht im Sekundarbereich II fast 60% einer typischen Alterskohorte an. Das duale System, für das sich 75% der Schülerinnen und Schüler entscheiden, ist sehr effektiv bei der Vermittlung eines breiten Spektrums beruflicher Kompetenzen und der Integration junger Menschen in den Arbeitsmarkt, weshalb es weltweit Anerkennung findet. Das duale System steht jedoch auch vor einer Reihe von Herausforderungen. Zu vielen Schülerinnen und Schülern gelingt es nicht, den Übergang von der Pflichtschulzeit in die Berufsausbildung zu bewältigen, und vielen fehlen grundlegende Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen. Zudem bleibt der Übergang von der beruflichen Bildung in die Tertiärbildung trotz der jüngsten Initiativen schwierig.

Den meisten dieser Herausforderungen ist man sich in Deutschland weitgehend bewusst, und sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene wurden Maßnahmen ergriffen, um ihnen zu begegnen. Zur Unterstützung des Reformprozesses stellen wir fünf miteinander verbundene Empfehlungen auf.

  1. In jedem Bundesland sollte ein Koordinierungsausschuss für das Übergangssystem eingerichtet werden, um die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren zu verbessern und die Übergangsangebote transparenter zu gestalten. Es sollte eine Prüfung der Kosteneffizienz der einzelnen Übergangsmaßnahmen erfolgen und die vielversprechendsten Initiativen sollten bundesweit eingeführt werden.
  2. Das Berufsberatungssystem sollte dahingehend reformiert werden, dass alle Schülerinnen und Schüler eine sachlich fundierte Beratung erhalten. Die federführende Verantwortung für die Berufsinformation und -beratung sollte einer einzigen staatlichen Stelle übertragen werden. Auf längere Sicht sollte eine strukturelle Reform des dualen Systems in Erwägung gezogen werden, um die erfolgreiche Berufswahl zu erleichtern.
  3. Die Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen aller Schülerinnen und Schüler, die in das Übergangssystem eintreten, sowie aller Schülerinnen und Schüler ohne Realschul- oder Gymnasialabschluss, die eine qualifizierende Berufsausbildung beginnen, sollten einer Prüfung unterzogen werden. Schülerinnen und Schüler, bei denen Lücken festgestellt werden, sollten explizit Unterricht in diesen Basiskompetenzen erhalten. In den Berufsschulen sollte mehr Wert auf die Allgemeinbildung und die Entwicklung allgemeiner Kompetenzen gelegt werden.
  4. Es sollte vorgeschrieben werden, dass die in der Berufsschule erzielten Abschlussnoten auch im Kammerzeugnis vermerkt werden und die Abschlussprüfung der Berufsschulen sollte eine explizite Beurteilung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen beinhalten. Auf längere Sicht sollte die Prüfung der Kammern mit der Abschlussprüfung der Berufsschulen zusammengelegt werden. Durch einen integrierten Beurteilungsprozess sollte die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Arbeitgebern gestärkt werden.
  5. Der Zugang zur Tertiärbildung sollte weiter erleichtert und es sollte gegen die von den Betroffenen wahrgenommenen Zugangsbarrieren vorgegangen werden. Für Personen mit weniger akademisch ausgerichteter Ausbildung, die eine Hochschule besuchen möchten, sollten geeignete Beratungs-, Einführungs- sowie finanzielle Unterstützungsmaßnahmen entwickelt werden. Es sollten duale Studiengänge und duale Programme an regulären Hochschulen sowie flexiblere Teilzeitstudienmöglichkeiten gefördert und die Anerkennung bereits erworbener Kompetenzen und Berufserfahrungen erleichtert werden. (…)“

Quelle: OECD

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