Auf dem Weg zum Jugendintegrationskonzept

Bereits 2005 forderte Prof. Peter Schruth auf der Tagung „U25“ der Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit Nordrhein-Westfalen (LAG KJS NRW) die (visionäre) Idee eines Jugendintegrationsgesetzes („SGB XIII“), das alle sozialen Rechte und Leistungen für junge Menschen (mit erhöhtem Förderbedarf) in einem Buch des Sozialgesetzbuches bündelt und integriert. Da diese Idee aufgrund der weit reichenden Implikationen zu diesem Zeitpunkt als nicht realisierbar erschien, entwickelte die LAG KJS NRW … das Grundgerüst eines Jugendintegrationskonzeptes. … Die vorliegende Publikation ist eine Kombination aus wissenschaftlicher Analyse, Praxisbewertung und Formulierung notwendiger (politischer und fachpraktischer) Handlungsanforderungen.
Auch wenn Jugendhilfe, Bildungspolitik und Arbeitsmarktförderung die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Blicks auf die Lebenssituation und eine umfassendere Förderung junger Menschen fordern, werden Förderprogramme oftmals in einer Engführung der Ziele und Zielgruppen, in Abgrenzung bzw. im Widerspruch zu anderen Förderlogiken und Verantwortlichkeiten formuliert. Ein Beispiel stellt die innerhalb der Jugendsozialarbeit geführte Diskussion um zentrale Begriffe dar, die das jeweilige unterschiedliche und widersprüchliche Grundverständnis des SGB II und des SGB VIII charakterisieren: die Eigenverantwortung des jungen Menschen, der Hilfebegriff und das Sanktionsrecht durch den Sozialleistungsträger.
Der Lebenslagenansatz der LAG KJS NRW ist entgegen der Betrachtung von Lebensbedingungen unter rein ökonomischen Gesichtspunkten multidimensional ausgerichtet und stellt prekäre Lebenslagen junger Menschen in den Mittelpunkt: Dazu zählen u. a. Bildung/Schule, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Familie, Wohnsituation, Armut, Überschuldung, seelische Erkrankungen, Abhängigkeiten, Strafvollzug sowie Prozesse der Migration und Flucht. Das Jugendintegrationskonzept beabsichtigt durch den Lebenslagenansatz, den Blick nicht nur auf die Lebenssituation junger Menschen in ihrer Gesamtheit zu richten und die bestehenden sozialen Rechte und Leistungen für junge Menschen zusammenzufassen. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Analyse, welche Spielräume bestehende Hilfen und Angebote bei der Unterstützung junger Menschen haben und welche Hindernisse die Kooperation mit anderen Institutionen erschweren.

Ziele des Jugendintegrationskonzeptes
Das Integrationskonzept verfolgt das Ziel, bestimmte prekäre Lebenslagen junger Menschen besser zu verstehen. Die Integrationsförderung benachteiligter bzw. von Ausgrenzung bedrohter junger Menschen, die bislang von den Angeboten der Jugendsozialarbeit nicht oder nicht ausreichend erreicht werden, die „aus allen Rastern fallen“ oder zwischen den Schnittstellen der unterschiedlichen Felder der Sozialen Arbeit „zerrieben werden“ oder „verloren gehen“, soll weiterentwickelt werden. … Das Konzept beabsichtigt nicht, die Leistungen der anderen Disziplinen durch Angebote der Jugendsozialarbeit zu ersetzen. Vielmehr sollen Kooperationen dort initiiert und angeregt werden, wo Bedarf sichtbar wird, neue Angebote geschaffen bzw. Richtlinienänderungen angestoßen werden, wo junge Menschen nicht erreicht werden bzw. die notwendige Unterstützung nicht zu Verfügung steht, und Kompetenzen im Umgang mit den individuellen Lebenslagen erworben werden, damit junge Menschen nicht durch das bestehende Netz fallen.

Kernpunkte des Lebenslagenansatzes der LAG KJS NRW

Die LAG KJS NRW definiert ihr Verständnis der drei zentralen Begrifflichkeiten des Jugendintegrationskonzeptes wie folgt:
Jugend bezieht sich dem Verständnis des SGB VIII folgend auf die Gruppe von Jugendlichen und jungen Menschen im Alter insbesondere zwischen 14 und 27 Jahren, wobei eine Erweiterung der Altersgruppe aufgrund evtl. bestehender individueller Bedarfe möglich sein sollte. Unter Integration wird die gesellschaftliche Teilhabe junger Menschen an allen zu ihrer persönlichen Entwicklung erforderlichen Lebensbereichen verstanden. Das Konzept umfasst nicht nur eine rechtliche Zusammenschau der jeweils relevanten Sozialgesetze und Förderprogramme, sondern eine inhaltliche Struktur ineinander greifender und wechselseitig aufeinander bezogener Themen wie z. B. Schule – Ausbildung – Arbeit, Rechtsstatus – Wohnen – Ausbildung, Wohnen – Gesundheit – Arbeit. Unter Konzept wird an dieser Stelle keine Handreichung für Einrichtungen verstanden, kein Handlungskonzept zur Umsetzung pädagogischer Prozesse, sondern ein Rahmenkonzept zur Analyse von Strukturen und struktureller Veränderungen. …

Auf dem Weg zu einem Jugendintegrationskonzept – ausgewählte Kernthesen
Die LAG KJS NRW richtet ihren Blick vorrangig auf junge Menschen, die von gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen oder bedroht sind und benennt gesellschaftliche Ursachen für deren Ausgrenzung aufgrund unzureichender Bildungsbeteiligung, Erwerbsbeteiligung und Integration nach Zuwanderung, unsicherem oder fehlendem Aufenthaltsstatus, Straffälligkeit, seelischen Erkrankungen und Abhängigkeiten sowie Überschuldung und Wohnungslosigkeit. Handlungsleitend für die Analyse und das Aufzeigen von Zukunftsperspektiven … sozialpastoralen Grundlagen. …

Ein Jugendintegrationskonzept, das lebenslagenbezogen die Hilfen und Angebote der Jugendsozialarbeit in den Blick nimmt, geht von einer weiten und vom Jugendlichen her gedachten Definition der Jugendsozialarbeit aus, die sich umfassend und ganzheitlich über Gesetzesgrenzen hinaus für die Belange individuell beeinträchtigter und sozial benachteiligter junger Menschen einsetzt. Dies beinhaltet neben politischer Lobbyarbeit auch eine entsprechende fachliche Qualifikation der Hilfen sowie die Entwicklung eines sozialen statt ökonomischen Armutsverständnisses, welches die Beschneidung von Teilhabechancen und sozialer Ungleichheit in den Mittelpunkt stellt. Die Bewältigungsformen Betroffener müssen dabei genutzt und einbezogen, die Informationen zum Leistungsspektrum der Jugendsozialarbeit Betroffenen und Kooperationspartnern bekannt gemacht sowie die Kooperation mit Akteuren aus den entsprechenden Bereichen der Sozialen Arbeit intensiviert und ausgebaut werden.

Die folgenden zentralen Grundsatzthesen aus dem Jugendintegrationskonzept markieren die Herausforderungen, denen sich die LAG KJS NRW zukünftig verstärkt stellen wird:

1. Die Katholische Jugendsozialarbeit spricht sich für eine volle Integration Jugendlicher in allen Teilbereichen der Gesellschaft aus, für ein „Leben in Fülle“. Wir fordern die Übernahme der gesellschaftlichen Verantwortung aller Akteure (Politik, Verwaltung, Unternehmen, Gewerkschaften, Verbände, Kirchen u.a.) für ein förderliches Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Insbesondere benachteiligte junge Menschen sind ganzheitlich zu fördern. Ihre Förderung hat sich an deren Kompetenzen zu orientieren und geht aus von ihren Lebenslagen.

2. Benachteiligung in einer Lebenslage führt häufig zu Nachteilen in anderen. Die Katholische Jugendsozialarbeit favorisiert einen integrativen Ansatz junger Menschen, wobei folgerichtig alle Lebenslagen gleichermaßen betrachtet und – auch wissenschaftlich – bearbeitet werden. Es gilt, den öffentlichen Diskurs über die Lebenslagen von Jugendlichen als eigenständigen, kohärenten und ressortübergreifenden Ansatz von Jugendpolitik zu führen und nicht unter Familienpolitik und anderen sozialpolitischen Debatten zu subsumieren. Wir konzentrieren uns im ersten Schritt auf acht Lebenslagendimension: Bildung, Arbeit, Migration, Überschuldung, Wohnungslosigkeit, prekärer Aufenthaltsstatus, gesundheitliche Probleme und Straffälligkeit.

3. Die Zersplitterung sozialer Rechte und Leistungen zur Förderung benachteiligter junger Menschen in den Sozialgesetzbüchern und ein unübersichtliches Nebeneinander von Regelungen, Förderzielen und nicht eindeutig geklärten Verantwortlichkeiten führt dazu, dass junge Menschen immer wieder zwischen den unterschiedlichen Sozialleistungsträgern hin und her geschoben werden. Die Katholische Jugendsozialarbeit fordert den Gesetzgeber auf, für alle benachteiligten jungen Menschen die gesetzlichen Rahmenbedingungen und Ausführungsverordnungen zu bündeln und zu integrieren, um Schnittstellen klarer zu definieren, Kooperationen der relevanten Akteure verbindlicher zu gestalten und federführende Institutionen eindeutiger zu beauftragen. …

5. Bildung ist die zentrale Lebenslage. Dementsprechend sind alle Kinder und jungen Menschen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, zu fördern. … Da Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen über die Schule hinaus an verschiedenen Lernorten erworben werden, müssen die Bildungsdiskurse aus den jeweiligen Bereichen von Schule, außerschulischer und offener Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit, Jugendbildung, Jugendverbandsarbeit, aber auch Jugendvollzugsanstalten und niedrigschwelligen Angeboten zusammengefasst und mit der öffentlichen Bildungsdiskussion verknüpft werden. Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen, die informell und nonformal erworben wurden, müssen anerkannt und z.B. an der entsprechenden Stelle im Deutschen Qualifikationsrahmen berücksichtigt werden.

6. Bildungserwerb ist nur möglich, wenn das Individuum nicht vollständig damit beschäftigt ist, das eigene psychische und soziale Überleben alltäglich zu bewerkstelligen. Die Katholische Jugendsozialarbeit fordert den Gesetzgeber auf, sich angesichts steigender Zahlen konsequent mit den Phänomenen Jugendarmut und deren Konsequenzen für andere Lebensbereiche auseinanderzusetzen und entsprechende Angebote zur Prävention und Armutsbekämpfung bereitzustellen. …

7. Die Phase des Übergangs zwischen Beendigung der Schulausbildung und Abschluss der beruflichen Ausbildung und damit der Voraussetzung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit hat sich heutzutage aufgrund des höheren Stellenwerts der Bildung und Ausbildung und der schwierigen Einmündung in das Arbeitsleben zeitlich ausgedehnt. Dementsprechend ist weniger von einer Übergangs- als vielmehr von einer eigenen Lebensphase zu sprechen. Die Katholische Jugendsozialarbeit fordert daher, die Förderung junger Menschen in Ausbildung und Arbeit bis zum 27. Lebensjahr fortzuführen. Sie tritt dafür ein, dass allen Jugendlichen die Möglichkeit einer Ausbildung offen steht. Benachteiligte junge Menschen sind bei ihrem Weg in Ausbildung und Arbeit umfassend und nachhaltig zu unterstützen. Zur Umsetzunghält die Katholische Jugendsozialarbeit es für erforderlich, unter Beteiligung der Jugendsozialarbeit örtlich verpflichtende Übergangsnetzwerke einzurichten bzw. auszubauen. ….

11. Zur Schaffung eines jugendgerechten Hilfeverbunds im Sinne von „Hilfen aus einer Hand“ und zur Verbesserung der Kooperation aller Akteure vor Ort, hält die Katholische Jugendsozialarbeit verbindliche Clearing- und Verwaltungsvereinbarungen und die Entwicklung neuer sozialräumlicher Jugendhilfekonzepte für erforderlich. Eigene Angebote der Katholischen Jugendsozialarbeit kooperieren, sofern erforderlich und im Sozialraum vorhanden, mit speziellen Diensten, z.B.## mit Justizvollzugsanstalten und deren Sozialdiensten
## mit der Wohnungslosenhilfe
## mit Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen
## mit Sucht- und Drogenberatungsstellen
## bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit Kinder- und Jugendpsychotherapeuten bzw. der Jugendpsychiatrie und anderen Akteuren im Gesundheitsbereich.“
Für das Jugendintegrationskonzept konnte die LAG KJS NRW ausgewiesene WissenschaftlerInnen als AutorInnen und erfahrene PraxisexpertInnen für eine konstruktiv-kritische Begleitung und Kommentierung des Konzeptes gewinnen. Zusätzlich wurden die katholischen Träger der Jugendsozialarbeit in Nordhrein-Westfalen durch ein Hearing, die Mitarbeit in lebenslagenbezogenen Redaktionsgruppen und die Teilnahme an einer abschließenden Fachdiskussion an dem Projekt beteiligt.

Die Publikation ist in drei Teilen aufgebaut. Teil A fasst gesellschaftliche, rechtliche und sozialpastorale Grundlagen der Konzeptentwicklung und die Entstehung des Ansatzes zusammen. In Teil B werden die jeweiligen Lebenslagendimensionen von WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert und von PraxisexpertInnen konstruktiv kommentiert. Teil C fasst in Form von politischen, auch einzeln nutzbaren Positionspapieren die Bewertung der Dimensionen aus Sicht der Katholischen Jugendsozialarbeit und die Formulierung von Handlungsanforderungen zusammen.

Christine Müller, Franziska Schulz, Ulrich Thien (Hrsg.):
Auf dem Weg zum Jugendintegrationskonzept. Grundlagen und Herausforderungen angesichts veränderter Lebenslagen junger Menschen. Herausgegeben im Auftrag der Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit Nordrhein-Westfalen e.V. Münster. LIT-Verlag 2010

Die Publikation ist zum Preis von 24,90 EUR ab sofort im Buchhandel oder im Internet (bei libri, amazon) unter der ISBN 978-3-643-10510-3 zu beziehen.

www.jugendsozialarbeit.info

Quelle: LAG KJS NRW

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