Einwanderungsgesellschaft Deutschland: Integration besser als ihr Ruf – allerdings Problemstau auf der Baustelle Bildung

„Integration in Deutschland ist, trotz einiger Problemzonen, gesellschaftlich und politisch ein Erfolgsfall. Sie ist im internationalen Vergleich viel besser als ihr Ruf im Land.“ Dieses Fazit zog der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Prof. Dr. Klaus J. Bade, bei der Vorstellung des ersten Jahresgutachtens des Sachverständigenrats in Berlin. Die vom SVR präsentierten Einschätzungen und Ergebnisse widersprechen damit der in öffentlichen Debatten oft dominierenden Skandalisierung des Integrationsgeschehens unter dem Schreckbild einer
„gescheiterten Integration“.

Basis dieser Einschätzung ist das Integrationsbarometer des Sachverständigenrats. Die repräsentative Befragung von über 5.600 Personen bezieht erstmals die Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund auch in ihrer wechselseitigen Wahrnehmung ein. Zuwanderer vertrauen der Mehrheitsbevölkerung mitunter mehr als den eigenen oder anderen Herkunftsgruppen. Und sie vertrauen den Deutschen zum Teil sogar mehr als diese sich selbst. Die Zahl der Befürworter der Integrationspolitik der Bundesregierung (54% bei der Mehrheits- und knapp 50% bei der Zuwandererbevölkerung) übertrifft bei weitem die Zahl der Kritiker (9% bei der Mehrheits- und knapp 15% bei der Zuwandererbevölkerung). Anlass zu vorsichtigem Optimismus gibt auch der im Rahmen des SVR-Integrationsbarometers erstmals errechnete Integrationsklima-Index (IKI): Er misst Erfahrungen und Einstellungen der Befragten für verschiedene Bereiche der Integration wie z.B. Arbeitsmarkt, Nachbarschaft oder Bildungssystem. Auf einer Skala von 0 (sehr schlecht) bis 4 (sehr gut) erreicht der IKI für das Jahr 2009 positive Mittelwerte von 2,77 für die Mehrheitsbevölkerung und sogar 2,93 für die Zuwandererbevölkerung. Messbare Integration bedeutet für die Sachverständigen Anerkennung durch möglichst chancengleiche Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Der Überblick über diese Bereiche zeigt ebenfalls beachtliche Integrationsfortschritte, vor allem im internationalen Vergleich. Ausnahmen bei einzelnen Gruppen und Bereichen bestätigen die Regel. So liegt die Arbeitslosigkeit bei Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland zwar nach wie vor mehr als anderthalbmal so hoch wie bei der Mehrheitsbevölkerung. In anderen europäischen Einwanderungsländern, wie etwa in den Niederlanden und Schweden, ist für Zuwanderer das Risiko, arbeitslos zu werden, aber annähernd dreimal so hoch.

Trotz erkennbar zunehmender Erfolge von Integration und Integrationspolitik warnt der SVR vor Euphorie; denn es gebe nach wie vor Problemzonen. Noch könne z.B. von gleichen Bildungschancen oder gar Bildungserfolgen und damit Lebenschancen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund nicht die Rede sein.

Das erste Jahresgutachten des Sachverständigenrats beschreibt Integration in der Einwanderungsgesellschaft als einen komplexen Kultur- und Sozialprozess von hoher Eigendynamik. Sein Kontext ist geprägt durch insbesondere rechtliche, politische und wirtschaftliche, demografische und im engeren Sinne migratorische sowie soziokulturelle Rahmenbedingungen.
Der migratorische Zusammenhang ist heute bestimmt durch sinkende Zuwanderungs- und steigende Abwanderungszahlen mit zunehmender Bedeutung der europäischen Binnenmigration, während zugleich die nationalstaatlichen Möglichkeiten der Zuwanderungssteuerung im rechtlichen und politischen Prozess der europäischen Integration schrumpfen.

Das Jahresgutachten beleuchtet zentrale Partizipationsdimensionen von Integration: Schule und Bildung, berufliche Bildung und Erwerbstätigkeit, soziale Sicherung und politische Partizipation, Wohnen/Quartiere, Gesundheit und Medien, aber auch Kriminalität.
Während chancengleiche Teilhabe für die Zuwandererbevölkerung noch nicht erreicht ist, zeigen sich in einzelnen Bereichen erhebliche Fortschritte, besonders beim Vergleich mit Deutschen ohne Migrationshintergrund gleicher Soziallage. Dem stehen verdichtete Problemlagen und Entwicklungsrückstände wie insbesondere im Bildungsbereich gegenüber.

Auszüge aus dem Jahresgutachten des SVR „Einwanderungsgesellschaft 2010“:
„Zentrale Ergebnisse“

Integration und Migration sind endlich zu politischen Mainstream-Themen geworden. In der öffentlichen Diskussion dominieren dabei aber Vorstellungen von einer weitgehend gescheiterten Integration‘. Teil dieser pessimistischen Sicht ist eine doppelte Schuldzuschreibung: Während für die einen ein beträchtlicher Teil der Zuwandererbevölkerung ,integrationsunwillig‘ oder gar ,integrationsunfähig‘ ist, halten andere die angeblich integrations- und latent fremdenfeindlich eingestellte Mehrheitsbevölkerung für die wichtigste Ursache der gescheiterten Integration‘. Das SVR-Integrationsbarometer hingegen belegt, dass sowohl das negative Bild als auch die wechselseitigen Schuldzuschreibungen wenig mit dem zu tun haben, wie die Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund die Alltagsrealität in der Einwanderungsgesellschaft erlebt. ## a) Mehrheits- und Zuwandererbevölkerung sind mit der Integrationspolitik der letzten Jahre weitgehend zufrieden und blicken verhalten zuversichtlich in die Zukunft der Integration und Integrationspolitik. Von einer Verbesserung der Integrationspolitik in den letzten Jahren sprechen 50 Prozent aller Befragten. Etwa ebenso viele erwarten zukünftig weitere Verbesserungen. …
## b) Mehrheits- und Zuwandererbevölkerung haben ein gemeinsames pragmatisches und lebenspraktisches Integrationsverständnis, das auf Forderungen kultureller Assimilation ebenso verzichtet wie auf das Reklamieren kultureller Sonderrechte. Unter Integration verstehen sie weitgehend dasselbe: Beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft denken dabei primär an Wirkungen im sozialen Nahbereich und wünschen sich zu je über 90 Prozent größere individuelle und gesellschaftliche Chancen durch Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bessere Bildungschancen, Sprachkurse und die Abwehr von Diskriminierung.
## c) Integration gelingt oder scheitert für die Befragten nicht insgesamt und abstrakt, sondern in der konkret erfahrbaren Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder in den jeweils erreichbaren Bildungseinrichtungen sowie den eingegangenen sozialen Beziehungen. … Mehrheits- wie Zuwandererbevölkerung haben … im Umgang mit Integration und gesellschaftlicher Heterogenität überwiegend gute Erfahrungen gemacht, halten kulturelle Vielfalt in der Regel für einen Gewinn und lehnen Abschottung ab.
## d) Der Bereich der Bildung bildet dabei allerdings eine besondere Problemzone: Zwar sind auch hier die eigenen Erfahrungen der Befragten mit Heterogenität weitgehend positiv, doch sehen Personen mit und ohne Migrationshintergrund die Leistungsfähigkeit von Schulen bei wachsender Heterogenität der Schülerschaft in Frage gestellt. Besonders bildungsorientierte Personen mit höherem Sozialniveau auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft möchten ihre eigenen Kinder lieber nicht auf Schulen mit heterogener Schülerschaft schicken.
## e) Auch auf Seiten der Bevölkerung mit Migrationshintergrund dominiert ein relativer ,lntegrationsoptimismus‘. Ihre Kenntnis der in den letzten Jahren initiierten integrationspolitischen Maßnahmen ist jedoch insgesamt gering. Personen ohne Migrationshintergrund sind über Integrationspolitik etwas besser informiert. Vor allem auf symbolische und appellative Breitenwirkung angelegte politische Maßnahmen wie der Nationale Integrationsplan (NIP) und die Deutsche Islam Konferenz (DIK) sind selten gut bekannt, lediglich zwischen 5 und 12 Prozent der Befragten auf beiden Seiten sind darüber gut informiert. Wie erwartbar steigt der Bekanntheitsgrad mit Sozialniveau und Bildung; das ist hier aber weniger belangvoll, weil der Hauptadressat, die Bevölkerung mit Migrationshintergrund, ein deutlich niedrigeres Sozial- und Bildungsniveau aufweist als die Mehrheitsbevölkerung. Maßnahmen mit alltagspraktischen Auswirkungen wie Einbürgerungstests (38%) oder Integrationskurse (20%) sind auf beiden Seiten deutlich bekannter. …
Das SVR-Integrationsbarometer bietet erstmals eine wichtige Ergänzung zu den Untersuchungen ,harter‘ Kriterien struktureller Integration, die in den letzten Jahren zahlreicher geworden sind. In diesen wurde vor allem die sozioökonomische Positionierung der Ausländerbevölkerung und der deutschen Bevölkerung oder der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund verglichen. Solche Studien, etwa die im Auftrag der Bundesregierung durchgeführte Erarbeitung und Erprobung von 100 Integrationsindikatoren sowie die Studie des Bundesarbeitsministeriums zur Wirkung des SGB II auf Personen mit Migrationshintergrund, leisten einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Datensituation in den Feldern Migration und Integration. Sie kranken aber daran, dass fast immer nur – im strengen Sinne des Wortes ,einseitig‘ – die Positionierung bzw. das Anpassungsverhalten der Zuwandererbevölkerung gegenüber der Mehrheitsbevölkerung gemessen wird. Damit kann die Eigendynamik von Integrationsprozessen in einer Einwanderungsgesellschaft, in die neben den Zuwanderern auch die Mehrheitsbevölkerung eingebunden ist, nur unzureichend abgebildet werden.

Das SVR-Integrationsbarometer misst zum ersten Mal diese doppelseitige und interdependente Eigendynamik von Integrationsprozessen in der Einwanderungsgesellschaft durch die Analyse von Selbstbeschreibungen und wechselseitigen Zuschreibungen von Mehrheits- und Zuwandererbevölkerung. Es ergänzt damit vorliegende Untersuchungen zu den objektiven strukturellen Kriterien der Integration um Erfahrungswerte und empiriegestützte persönliche Einschätzungen als Grundlage von Zukunftserwartung und Verhaltenstendenzen. …

Folgerungen aus dem SVR-Integrationsbarometer für Integrationspolitik und Integrationspraxis
Das in diesem Jahr erstmals präsentierte SVR-Integrationsbarometer hat einen doppelten Zweck: Einerseits informiert es die Öffentlichkeit über Erfahrungen, Einschätzungen und darauf gestützte Erwartungen über Migration und Integration in der Einwanderungsgesellschaft. Andererseits bietet es den integrationspolitisch Verantwortlichen eine wissenschaftlich fundierte und empirisch aussagekräftige Orientierungshilfe für die Justierung von Gestaltungskonzepten.
Der Blick auf die auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft wahrgenommene Integrationsrealität kann für die Weiterentwicklung von Integrationspolitik hilfreich sein. Denn eine erfolgreiche Integrationspolitik braucht die kontinuierliche Beobachtung ihrer strukturellen Voraussetzungen und Wirkungen. Sie sollte zum einen wissen, inwieweit es ihr gelingt, das Vertrauen in ihre gesetzlichen und institutionellen Instrumente zu schaffen, das für eine generelle Akzeptanz erforderlich ist. Zum anderen sollte sie die Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund kennen, … .

Grundsätzlich zeigt das SVR-Integrationsbarometer, dass die Akteure der Integrationspolitik auf einem guten Weg sind. Akzeptanz, Vertrauen und Zuversicht sind auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft vorhanden. Die subjektiv wahrgenommene Integrationsrealität ist in vielen Bereichen besser, als viele Stimmen in Publizistik und Migrantenverbänden suggerieren.

Die Ergebnisse des SVR-Integrationsbarometers beleuchten jedoch auch klar Bereiche, in denen mithilfe gezielter Interventionen der begleitenden oder nachholenden Integrationsförderung nachgebessert werden sollte. … ## 1. Die Tatsache, dass der Integrationsalltag aus vielen gemeinsamen Erfahrungen von Personen mit und ohne Migrationshintergrund besteht, stellt die Angemessenheit von exklusiv auf Personen mit Migrationshintergrund zugeschnittenen Fördermaßnahmen in Frage. Personen mit und ohne Migrationshintergrund sind sich in ihren integrationspolitischen Einschätzungen ähnlicher, als weithin unterstellt wird; der Migrationshintergrund verliert im Generationenverlauf an Bedeutung. Dieser Prozess schreitet allerdings gruppenspezifisch durchaus unterschiedlich rasch bzw. langsam voran. Überdies muss im Auge behalten werden, dass individuelle Versäumnisse im Integrationsengagement und politische Versäumnisse in der Integrationsförderung zumindest auf mittlere Sicht das Förderkriterium ,Migrationshintergrund‘ noch notwendig machen. …
## 2. Publizistische Diskussionen über Migration und Integration werden oft schnell zu einer Art,Kulturkampf, in dem kulturelle und religiöse Fragestellungen andere, auch für Zuwanderer meist bedeutendere Aspekte des Integrationsalltags überlagern und in den Hintergrund drängen. Es geht in diesen Debatten um kulturelle Unterschiede oder um kulturelle oder religiöse Sonderrechte, z.B. um die Frage der Vereinbarkeit des Islam mit den Prinzipien liberaler Demokratien. So verfassungsrechtlich wichtig diese Fragen auch sind und so interessant sie für Politik und Publizistik sein mögen – im Alltag der Einwanderungsgesellschaft spielen sie nur eine sehr untergeordnete Rolle. … Die Ergebnisse des SVR-Integrationsbarometers legen daher für die Weiterentwicklung der Integrationspolitik in Deutschland nahe, das Augenmerk stärker auf Chancengleichheit in den Bereichen Bildung, Ausbildung und Arbeit zu richten und sich weniger auf die Problematisierung kultureller oder religiöser Unterschiede zu konzentrieren.
## 3. Für den Bildungsbereich zeigt das SVR-Integrationsbarometer ein Paradox: Vor allem Haushalte der aufsteigenden Mittel- und der Oberschicht – unabhängig davon, ob ihre Mitglieder einen Migrationshintergrund haben oder nicht – befürworten durchaus Heterogentität. Sie sehen aber die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems just durch die Heterogenisierung von Schülerschaften eingeschränkt und schicken ihre Kinder deshalb lieber auf weniger heterogene Schulen. Mit diesem Dilemma kommt ein sich selbst verstärkender bildungspolitischer Teufelskreis in Gang. Dieses Dilemma sollte dringend bildungspolitisch aufgelöst werden durch eine nachhaltige finanzielle, personelle und konzeptuelle Förderung von Schulen mit heterogenen Schülerschaften. …
## 4. Deutsche Islam Konferenz und Nationaler Integrationsplan sind zentrale, auf breite Öffentlichkeitswirkung insbesondere bei der muslimischen Bevölkerung angelegte Initiativen der deutschen Integrationspolitik. Dennoch haben sie offenkundig in Politik und Medien in Deutschland und der Türkei, bei den durch die DIK in ihrem Bekanntheitsgrad bei der Mehrheitsbevölkerung gestärkten islamischen Verbänden sowie bei der Mehrheitsbevölkerung selbst deutlich mehr gewirkt als bei der Zuwandererbevölkerung im Alltag der Einwanderungsgesellschaft. Das sollte bei der Fortsetzung der DIK berücksichtigt werden.“
Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören acht Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Gemeinnützige Hertie-Stiftung, Körber-Stiftung, Vodafone Stiftung und ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Beobachtungs-, Bewertungs- und Beratungsgremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresbericht veröffentlicht.
Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Klaus J. Bade (Vorsitzender), Prof. Dr. Ursula Neumann (Stellv. Vorsitzende) sowie Prof. Dr. Michael Bommes, Prof. Dr. Heinz Faßmann, Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu, Prof. Dr. Christine Langenfeld, Prof. Dr. Werner Schiffauer, Prof. Dr. Thomas Straubhaar und Prof. Dr. Steven Vertovec.

www.svr-migration.de

Quelle: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration

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