Jugendsozialarbeit in Ostdeutschland: ‚Wo die Arbeit bekannt ist, wird sie geschätzt‘

Die Zentralen Beratungsdienste (ZB) der Katholischen Jugendsozialarbeit in den neuen Bundesländern haben mit 27 Trägern bzw. Projekten Gespräche über die Situation und Bedarfe der katholischen Jugendsozialarbeit in Ostdeutschland geführt. Clemens Bech, LAG KJS Sachsen und ZB, hat die Ergebnisse der ‚Bestandserhebung: Katholische Jugendsozialarbeit in den östlichen Bundesländern 2004‘ zusammengestellt. Auszüge: “ … Im ersten Halbjahr 2004 haben die Mitarbeiter des Zentralen Beratungsdienstes der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) der Standorte Berlin, Erfurt, Hildesheim und Leipzig eine Bestandserhebung der KJS in den östlichen Bundesländern in Form eines Einrichtungsbesuches durchgeführt. Mit der Arbeit soll eine Ausgangsbasis für den Strategieprozeß geschaffen werden, in den die AG Neue Bundesländer der BAG KJS eingetreten ist. Ziel dieses Prozesses ist die Unterstützung der Träger und Einrichtungen bei der Aufgabe, ihre Angebote auf sich verändernde Zielgruppen und Rahmenbedingungen einzustellen. Im Rahmen des Strategieprozesses wurden parallel weitere Aktivitäten unternommen. … Die Bestandserhebung erfolgte in Form eines Gespräches auf Leitungsebene, zu dem ein Leitfaden entwickelt wurde. Es stand nicht im Vordergrund, genaue Zahlen über MaßnahmeteilnehmerInnen, MitarbeiterInnen etc. zu erhalten. Vielmehr wurden im Gespräch Schwerpunktthemen angesprochen und es wurde den Anliegen der GesprächspartnerInnen Raum gegeben. Das Interesse an der Arbeit der Einrichtungen und der Unterstützungsgedanke sollte vermittelt werden. Mit der Erhebung sollten besondere Lagen der KJS in Ostdeutschland ermittelt werden. Ein Vergleich der Situationen in Ost- und Westdeutschland ist nicht erfolgt. … Im Ergebnis der Bestandserhebung wurden 33 Träger bzw. Projekte erfasst. Diese sind überwiegend in mehreren Arbeitsbereichen, auch über die JSA hinaus tätig. Bisher wurden 27 Gespräche geführt. Auch unter der Annahme, dass es weitere, noch nicht erfasste Projekte gibt, ist der Umfang an Angeboten der KJS in den östlichen Bundesländern überschaubar. Häufig handelt es sich um kleine Projekte mit wenigen MitarbeiterInnen, seltener um große Träger mit mehreren Leistungen. Die KJS ist nicht flächendeckend vertreten. Beispielsweise ist eine größere Anzahl von Ortscaritasverbänden nicht in der JSA aktiv. … Arbeitsfelderanteil KJS Ost: Offene Angebote 32%, Schulbezogene Jugendsozialarbeit 17%, Jugendberufshilfe 16%, Jugendwohnen 11%, Migrationsdienst 8%, Mobile Arbeit 8%, Geschlechtsspezifische Angebote 8% … Am häufigsten ist die KJS im Arbeitsfeld Offene Angebote für Kinder und Jugendliche tätig (…). Dies erfolgt meist in Verbindung mit anderen Angeboten, insbesondere mit den weiteren Schwerpunktbereichen schulbezogene JSA und Jugendberufshilfe. Kombinationen existieren auch mit Leistungsbereichen außerhalb der JSA, wie beispielsweise den Erziehungshilfen. … Träger KJS Ost: … Caritas 40%, Kolping 15%, SDB 15%, IN VIA 12%, SKF 6%, andere 12% … Die Projekte der KJS in den östlichen Bundesländern werden überwiegend von den etablierten Trägergruppen durchgeführt, zu 40 Prozent von Caritasverbänden. Mit mehreren Standorten sind die Salesianer, Kolping, IN VIA und der SKF vertreten … Steigender Hilfebedarf und Perspektivlosigkeit Ein Gesprächspunkt des Leitfadens war die Frage nach der Einschätzung der GesprächspartnerInnen zur Zielgruppe und deren Perspektive. Auffallend häufig wurde in den Interviews der, meist subjektiv wahrgenommene, steigende Hilfebedarf von Jugendlichen artikuliert. Dieser Bedarf wird nicht gedeckt. Diese Aussage geht einher mit der allgemeinen Einschätzung, dass sich die Perspektiven der Zielgruppe verschlechtern. Einige Zitate aus den Gesprächen: … >Auch wenn es insgesamt weniger Jugendliche gibt, der hohe Sockel der Benachteiligten bleibt.< >Auffallend ist, dass die Krisenfälle zunehmen.< ... >Die Mädchen, die den Treffpunkt anlaufen, erleben die Perspektivlosigkeit, die insbesondere durch die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern entsteht. Die Eltern selbst haben, wenn überhaupt, eine „ABM- Karriere“ hinter sich.< Die prekäre Situation der benachteiligten Jugendlichen in Ostdeutschland scheint sich eher zu verschlimmern. Das im letzten Zitat angesprochene Phänomen der „geerbten“ Chancenlosigkeit wird in einer Bevölkerungsschicht zur Normalität. Das Deutsche Jugendinstitut hat 2003 in einer Studie  feststellt, dass in Ostdeutschland gegenüber Westdeutschland mit Ausnahme von Arbeitslosenprojekten signifikant mehr Angebote der JSA, bezogen auf je 100.000 Jugendliche vorhanden sind. Diese Feststellung bleibt bedeutungslos, wenn nicht gleichzeitig der Bedarf an diesen Leistungen gegenübergestellt wird. ... Es ist zu vermuten, dass der vorhandene Bedarf deutlich über dem Niveau der westlichen Bundesländer liegt und steigende Tendenz hat. ... Finanzierungsjonglage Die Frage nach aktuellen Problemen brachte den Problemschwerpunkt schlechthin, die unsichere Finanzierung der Projekte ins Gespräch. Fast ausnahmslos wurde dieser Punkt von den GesprächspartnerInnen benannt. Die Sicherung der Projektfinanzierungen wird immer schwieriger und bindet immer mehr Managementressourcen. Die Projekte müssen mit stetig sinkenden Mitteln auskommen, was sich auf die Qualität der Arbeit auswirkt. Einrichtungen versuchen, in unterschiedlichsten Feldern der Jugendhilfe tätig zu werden, um überhaupt weiterbestehen zu können. Dabei wird durch verschiedene Standbeine versucht, wegbrechende Bereiche abzufedern bzw. auszugleichen. Einige der benannten Probleme in Stichworten: Mischfinanzierungen mit hohem Verwaltungsaufwand Tarifbindungen, deren Kosten nicht mehr refinanziert werden Steigender Eigenmittelbedarf bei sinkenden kirchlichen Zuschüssen und nicht vorhandenen Reserven Degressive Förderpraxis (Bund, EU) trifft auf Kommunen bzw. Landkreise, die Kofinanzierungen nicht mehr aufbringen können Gleiches Problem bei Anschlussfinanzierung Immer neue Programme mit immer kürzerer Laufzeit statt Regelfinanzierung Vergabepraxis in der Benachteiligtenförderung der Bundesagentur (Billiganbieter) Als notwendig wahrgenommene Leistungen „außerhalb“ von Richtlinien sind nicht finanzierbar Ressourcenbindung durch Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten Demotivation der Tätigen bei unklarer Perspektive. Die aktuellen „Überlebensbemühungen“ überlagern zumindest bei den kleineren Trägern die Beschäftigung mit langfristigen Perspektiven. Daher macht eine Unterstützung der Einrichtungen durch den Strategieprozess der KJS Sinn. Offen ist die Frage, ob und gegebenenfalls welche Hilfestellung bei der aktuellen Lage für die Einrichtungen möglich ist. Eine effektive Gestaltung der Aquise von Geldern oder die weitere Verfahrensweise mit den Tarifbindungen stehen bei den Trägern zur Klärung an. ... Wahrnehmung und Wertschätzung der KJS in Öffentlichkeit und Politik Die Aussagen der GesprächspartnerInnen zu diesem Themenkomplex lassen sich zusammenfassen in dem Satz: Es wird gute Arbeit geleistet, die aber wenig bekannt ist und so gut wie keine Lobby hat. Wo die Arbeit bekannt ist, wird sie geschätzt. Langjährige Projekte haben sich zumindest in den Fachbereichen der Kommunen Anerkennung erworben. Manches Projekt in strukturschwachen ländlichen Regionen wird sogar als Standortfaktor geschätzt. Es gibt allerdings keine Tradition der JSA in den östlichen Bundesländern. PolitikerInnen auf Kommunal- und Landesebene haben keinen eigenen biographischen Bezug zu JSA bzw. Jugendarbeit und damit kaum bis keine Kenntnis der Arbeit. So müssen manche in Amtsstuben und Parteizentralen noch von den Vorteilen freier Trägerschaft und der Trägerpluralität überzeugt werden. Ressourcen für Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit haben aber, wenn überhaupt, nur die größeren Träger. Hinzu kommt, dass keine Wahrnehmung des Profils konfessioneller Träger erfolgt, da die Leitbilder der Arbeit weitgehend unbekannt sind. Der Anteil der christlichen Bevölkerung liegt bei 20 bis 25 Prozent, wovon lediglich 3 bis 4 Prozent KatholikInnen sind. Die Wirkung der Projekte wird zunehmend durch sich verschlechternde Rahmenbedingungen gefährdet. Nicht die Qualität der Arbeit entscheidet zum Beispiel über die Vermittlungsquote, sondern die Marktsituation. Ein Gesprächspartner berichtete, dass sich die Vermittlungsquote halbiert hat, weil der Arbeitsmarkt nicht mehr hergibt. Dies hat fatale Folgen für die Akzeptanz. Mit der Ausnahme, dass sich Einzelpersonen z.B. in Jugendhilfeausschüssen engagieren, gibt es relativ wenig politische Arbeit und Vertretung. Begründet ist dies auch in den begrenzten Ressourcen der ehrenamtlich arbeitenden Landesarbeitsgemeinschaften. Das Defizit an Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit wird von den Verantwortlichen gesehen. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten, wie der bundesweite Aktionstag der Jugendberufshilfe „Jugend braucht Arbeit“, wurden von den Einrichtungen sehr positiv eingeschätzt, da hier mit relativ geringem Aufwand für die Einrichtung vor Ort ein großer Effekt erzielt werden konnte. An dieser Stelle sollten auch die Überlegungen für weitere Schritte ansetzen. Ein Kontakt zur Wirtschaft steht überwiegend als offene Frage. Wie kann eine Zusammenarbeit mit Wirtschaft aussehen? Was braucht die Wirtschaft jetzt, was könnte die JSA bieten? Erfahrungen in diesem Bereich sind selten. An dieser Fragestellung haben nicht nur Einrichtungen der Jugendberufshilfe Interesse. ... Ressource Kirche Die Intensität der Zusammenarbeit mit Kirche stellt sich sehr unterschiedlich dar. Die Arbeit der Einrichtungen der KJS läuft in vielen Fällen ohne nennenswerte Berührungspunkte zu den Kirchengemeinden auf dessen Gebiet  sie sich befinden. Es ist die Sichtweite ausgeprägt, dass es sich um zwei unterschiedliche Dinge handelt, die kaum miteinander zu tun haben. Mehrere GesprächspartnerInnen betonen selbstkritisch, dass sie zu wenig tun, um Verbesserungen zu erreichen, nehmen aber auch kein ideelles Engagement der Kirchengemeinden wahr. Relevante finanzielle Unterstützungen der Projekte sind Ausnahmen. In einigen Fällen kommt es zu intensivem Informationsaustausch und regelmäßigen gemeinsamen Aktionen. Engere Zusammenarbeit gibt es auf der Strukturebene zwischen KJS und Jugendseelsorge. Einige Bistumsleitungen sind sehr an der Arbeit interessiert, unterstützen die KJS nach ihren Möglichkeiten und sehen sie als Bestandteil der Jugendpastoral. Die GesprächspartnerInnen sagen aus, dass das christliche Profil für die Einrichtungen eine wichtige Rolle spielt und es angestrebt wird, Jugendlichen christliche Werte zu vermitteln. Es besteht der Wunsch, im überwiegend nichtchristlichen Umfeld die Kräfte zu bündeln. MitarbeiterInnen bei der Umsetzung des pastoralen Auftrages zu unterstützen und offensiv mit dem Trägerprofil zu agieren ist nur in wenigen Bereichen eine ausgeprägte Vorgehensweise. Die Zusammensetzung der Mitarbeiterschaft, die grob mit je 1/3 katholische und evangelische ChristInnen und 1/3 Konfessionslose beschrieben werden kann, erschwert diese Problematik zusätzlich. Es gibt in diesem Feld eine Reihe von Ansätzen, die Verbesserungen erreichen sollen. So das pastorale Zukunftsgespräch im Bistum Magdeburg oder der Themenschwerpunkt Pastoraler Auftrag  der LAG KJS Sachsen. Perspektivisch sollten Ressourcen, die in der Zusammenarbeit von Kirchgemeinden und Einrichtungen der JSA liegen, entdeckt und genutzt werden. ... Fortbildung Die Abfrage zum Fortbildungsbedarf ergab kein einheitliches Bild. ... Einige GesprächspartnerInnen wiesen darauf hin, dass die Finanz- und/oder Zeitbudgets für Fortbildung eingeschränkt sind. Weniger fehlende Angebote als deren Bezahlbarkeit seien das Problem. Weiterhin müssten Angebote langfristig bekannt sein, damit sie in der Arbeitsplanung berücksichtigt werden können. Häufiger wurde der Bedarf nach Erfahrungsaustausch angemeldet. Dies in erster Linie arbeitsfeldspezifisch. Innerhalb der KJS ist dies aufgrund der geringen Einrichtungsdichte schwer realisierbar. Um so bedeutungsvoller ist die jährliche Tagung der KJS Ost einzuschätzen, die eine der wenigen Möglichkeiten zu Erfahrungsaustausch bietet. ... " - Bestandserhebung Neue BL_Bec_ hüberarbeitet.pdf Quelle: 'Bestandserhebung Katholische Jugendsozialarbeit in den östlichen Bundesländern 2004', Verfasser: Clemens Bech, Aus dem Zentralen Beratungsdienst (ZB) des BAG KJS e.V., Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Kath. Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e.V., Jan. 2 Dokumente: Bestandserhebung_Neue_BL_Bec_hueberarbeitet.pdf

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