Über den Tag hinaus  Perspektiven für die berufliche Bildung und den Ausbildungsmarkt

Über den Tag hinaus  Perspektiven für die berufliche Bildung und den Ausbildungsmarkt Auszüge des Vortrages von Prof. Dr. Felix Rauner, gehalten auf der Fachkonferenz Benachteiligtenförderung 2005 Benachteiligtenförderung neu denken  Herausforderungen durch die Arbeitsmarktpolitik am 12. April in Berlin …“ Das Durchschnittsalter der Auszubildenden am Beginn ihrer Berufsausbildung liegt mittlerweile bei 19,6 Jahren – insgesamt mit einer leicht steigenden Tendenz. 1970 lag das Durchschnittsalter bei 16,5 Jahren. Das bedeutet: seit drei Jahrzehnten hat sich zwischen Schulabschluss und Beginn der dualen Berufsausbildung ein Übergangssystem herausgebildet, das immerhin einen zeitlichen Umfang von beinahe drei Jahren hat, ein System, das in den Schaubildern des deutschen Bildungssystems gar nicht vorkommt. Man kann dieses Übergangssystem als ein Versorgungssystem bezeichnen. Und wenn Sie die Begriffe analysieren, die in der bildungspolitischen Diskussion benutzt werden, dann werden Sie sehr häufig den Begriff der Versorgung von Jugendlichen hören. Es geht also offenbar in der Berufsbildungs- und Arbeitsmarktpolitik darum, Jugendliche zu „versorgen“. Die Ausweitung dieses Versorgungssystems auf drei Jahre hat Folgewirkungen, die ich nur andeuten möchte. Einmal abgesehen von den direkten Kosten, die dieses System verschlingt, ist es natürlich ein gigantisches System der Entmutigung von Jugendlichen. Es ist schwer abzuschätzen, was diese Entmutigung in den drei Jahren des Überganges im Niemandsland zwischen dem Abschluss einer Schule und dem Beginn einer Beschäftigung an gesellschaftlichen Folgekosten verursacht. Man muss in diesem Zusammenhang auch die Frage des Anstieges der Delinquenz bei Jugendlichen studieren. Amerika, so glaube ich, ist ein gutes Beispiel, an dem studiert werden kann, was es bedeutet, wenn dieses Übergangssystem ausgeweitet wird und wenn die berufliche Qualifizierung der Jugendlichen dem freien Markt überlassen wird…“ …“ Wenn es uns nicht gelingt – um es positiv zu formulieren -, eine gesellschaftliche Herausforderung nach Kompetenzentwicklung zu erzeugen, Kompetenz und Kompetenzentwicklung gesellschaftlich nachzufragen, dann wird es wohl nicht gelingen, durch Maßnahmen im Schulsystem den Umfang der Risikogruppe deutlich zu reduzieren…“ ..“ Die nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) geordneten Berufe sind einerseits Ausdruck eines nach diesen Berufen dimensionierten Qualifikationsbedarfes sowie andererseits Ausdruck einer spezifischen mitteleuropäischen Industriekultur. Die Pragmatik der historisch geprägten deutschen Berufsstruktur ist mit einiger Sicherheit noch keine hinreichende Basis für eine zukunftsweisende Berufsbildung. Das Beispiel der Berufsfelder ‘Elektrotechnik‘ und ‘Metalltechnik’ zeigt, dass Berufe, die an eine Technologie oder ein technologisch definiertes Produkt gebunden sind, höchst instabile Berufe sind, die es ebenso wenig erlauben, langfristig berufliche Identität zu stiften, wie solide Facharbeiter-Arbeitsmärkte zu konstituieren. So wie der Beruf des Arztes – unabhängig vom technologischen Wandel der Medizintechnik – über ein die Jahrhunderte überdauerndes Berufsbild verfügt, das nicht an die Oberfläche des medizintechnischen Wissens, sondern an die ärztliche Kunst gebunden ist, so kommt es darauf an, die nach dem BBiG geordneten Berufe derart weiterzuentwickeln, dass sie sich (wieder) stärker an Arbeitszusammenhängen sowie am Arbeitsprozesswissen orientieren…“ ..“Es macht keinen Sinn, Jugendliche, die sich für den Beruf des Automobilmechanikers entschieden haben, in einer falsch verstandenen Grundbildung mit wissenschaftsbezogenem Fachwissen zu traktieren, dessen Bedeutung sie für die eigene Berufsarbeit nicht einsehen können. Das, worauf Jugendliche am Beginn ihrer Ausbildung neugierig sind, wird ihnen nicht selten in kunstvoll konstruierten weltfremden Lehrplänen vorenthalten. Lernen und Bildung im Medium des Berufes bedeutet, an berufliche Aufgaben heranzuführen, die ihre berufliche Identität und ihre berufliche Kompetenz wachsen lassen und herausfordern. Nicht das Induktionsgesetz, sondern eine reale Lichtmaschine in einem Auto, das es zu warten gilt, gehört an den Beginn der Berufsausbildung zum Automobilmechaniker. Eine Berufsbildung, die der Logik der natürlichen Entwicklung auf dem Weg zur reflektierten Meisterschaft folgt, geht natürlich einher mit der schrittweise verlaufenden Vertiefung des Wissens – zuletzt auch bis in die Tiefen des systematischen Wissens, das zur Identifizierung schwierigster Fehler in komplexen Anlagen erforderlich ist und in ein Wissen, das die berufliche Weiterbildung bis hin zur Hochschule mitbegründet. Nur einer betont arbeitsprozessbezogenen (duale) Berufsausbildung, die sich an modernen Berufen orientiert, gelingt es, Jugendliche auf dem Übergang von der Schule in das Beschäftigungssystem angemessen vorzubereiten, so dass die Jugendarbeitslosigkeit besonders niedrig ausfällt…“ Grundsätze für ein Reformkonzept beruflicher Bildung ..“Das primäre Ziel ist also nicht die „Schaffung von Ausbildungsplätzen“ in der Form einer sozial- und arbeitsmarktpolitischen Kraftanstrengung, sondern die Erhöhung der Ausbildungsqualität als ein innovationspolitisches Reformvorhaben, mit dem die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und ihre Innovationsfähigkeit gestützt werden soll. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass dadurch zugleich die Ausbildungskosten reduziert und die Ausbildungsquote deutlich angehoben werden können. Das Berufsbildungssystem muss seine Attraktivität für alle Schulabgänger erhalten. Dies schließt auch die Einbeziehung der Risikogruppe ein, die angemessen auf die Berufsausbildung vorbereitet werden muss. Appelle an die Erhöhung der Ausbildungsbereitschaft der Betriebe sind dann eher kontraproduktiv, wenn sie dem sozialpolitischen Leitbild entspringen, Jugendliche zu „versorgen“. Auf der Basis sozialen Engagements lassen sich keine Ausbildungsplätze nachhaltig etablieren…“ ..“Realisierung setzt voraus: die verantwortliche Einbeziehung der Berufsschule in die Berufsausbildung die Umsetzung des Konzeptes integrierter Berufsbildungspläne (das Lernfeldkonzept) die gemeinsame Ausgestaltung des neuen Bildungsauftrages für eine gestaltungsorientierte berufliche Bildung die Realisierung einer neuen Grundbildung, die sich am Novizen-Experten-Paradigma orientiert die Stärkung der Lernortkooperation auf der Grundlage eines lokalen Berufsbildungsdialoges zur dezentralen Ausgestaltung der beruflichen Bildung ein schlankes, der konkreten Berufsausbildung förderliches Prüfungswesen. Einführung der Vorlehre für einen verbesserten Übergang von der Schule in Arbeitswelt. Verzahnung der dualen Berufsausbildung mit einer dualen Fachschulausbildung…“

http://www.hiba.de/downloads/net2005/Fk_BNF_05_Gastvortrag_Prof_Dr_Rauner.pdf

Quelle: Fachkonferenz hiba Tagungen: http://www.hiba.de/index.php?seite=http://www.hiba.de/fachbeitraege.htm

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