Gender-Spiegelungen: Reflexionen, Ein- und Ausblicke zum Thema Gender Mainstreaming in der Benachteiligtenförderung

Gender-Spiegelungen: Reflexionen, Ein- und Ausblicke zum Thema Gender Mainstreaming in der Benachteiligtenförderung Auszüge aus einem Artikel von  Martina Hörmann (INBAS) und Thomas Kugler (Gender Forum Berlin), der von INBAS im Rahmen eines Info-Briefes zu ‚Gender Mainstreaming in der Arbeit der Kompetenzagenturen‘ veröffentlicht wurde. In dem Info-Brief Nr. 1/2005 heißt es „…Vor diesem Hintergrund wurde Gender Main-streaming Messlatte und Qualitässtandard für alle öffentlich geföderten Projekte der Jugendsozialarbeit, so auch für die aktuelle Modellphase der  ‚Arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit – Kompetenzagenturen‘. Wie weit die fachliche Diskussion und praktische Umsetzung von Gender Mainstreaming in den Kompetenzagenturen bereits gediehen ist, soll der vorliegende Info-Brief dokumentieren.“ “ In diesem Artikel wollen wir einen genaueren Blick auf den Gender-Begriff werfen, ihn durchleuchten und abklopfen und bisher nicht wahrgenommene Aspekte an ihm entdecken. Zu diesem Zweck haben wir den Begriff „Gender-Spiegel“ kreiert, der sich als so vielseitig erweist, wie es auch der Begriff Spiegel ist, den wir alle kennen. Ein Spiegel nämlich ist weit mehr als eine „glatte Fläche, die den größeren Teil der auftreffenden Lichtstrahlen zurückwirft“. Wenn wir alle in denselben Spiegel schauen, sieht trotzdem jeder von uns etwas anderes: in der Regel sich selbst. Der Spiegel hilft uns bei der Eigenwahrnehmung. Wir können uns selbst ins Gesicht sehen und das erblicken, was sonst nur die anderen sehen. … SPIEGEL ALS INSTRUMENTE ZUR DIAGNOSE …Ihre Anwendung ist zwar meist unangenehm, dafür aber diagnostisch unentbehrlich. Nur wenn erkannt wurde, wo ein Problem liegt und wie es beschaffen ist, kann die richtige Behandlung gewählt werden. Daher lautet unsere zweite Anregung für Sie: Erstellen Sie eine Diagnose mit Ihrem Gender-Spiegel. Sie können das zunächst an sich selbst erproben und mit dem Gender-Spiegel diagnostizie-ren, wie es sich beispielsweise mit ihrer eigenen Geschlechtsidentität verhält. Hierbei kann man vier Aspekte unterscheiden: Das biologische Geschlecht begleitet uns, seit jene unvermeidliche erste Frage über unsere Person gestellt wurde: Ist es ein Mädchen oder ein Junge? Für alle von uns fiel diese Antwort eindeutig aus, denn auf dem Standesamt wurde unser Geschlecht eingetragen. Doch es gibt auch Kinder, für die keine eindeutige Antwort möglich ist, weil sie intersexuell geboren sind. Das psychische Geschlecht ist verbunden mit einer anderen Frage: Habe ich eine innere Gewissheit darüber, welchem Ge-schlecht ich angehöre? Sehr viele Menschen haben diese innere Gewissheit. Einige haben sie nicht. Und einige wissen ganz genau, dass ihr psychisches Geschlecht nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt. Wann und wodurch war mir zum ersten Mal bewusst, dass ich ein Mädchen bin und kein Junge oder dass ich kein Mädchen bin, son-dern ein Junge? Beim sozialen Geschlecht (englisch Gender) stehen wir vor der entscheidenden Frage, wer sich wie verhalten darf. Denn in unserer Sozialisation haben wir alle gelernt, wie die Angehörigen eines bestimmten Geschlechts aussehen, wie sie sich kleiden, sich bewegen, sprechen und vor allem, was sie tun und was sie nicht tun – und was sie unter keinen Umständen tun dürfen. War ich ein richtiger Junge, ein richtiges Mädchen? Woher wusste ich, was ein richtiges Mädchen ist und was ein richtiger Junge? Gab es Situationen, in denen ich mich nicht rollenkonform verhalten habe oder so wahr-genommen wurde? Habe ich Geschlechter-grenzen überschritten? Wurde dies sanktio-niert? Habe ich eher eindimensionale oder eher vielfältige Gender-Bilder kennenge-lernt? Die sexuelle Orientierung als vierter Aspekt stellt die Frage, wer wen liebt und wer wen lieben darf. Damit ist in unserer Gesell-schaftsordnung unauflöslich die Frage verknüpft, wer wegen des Begehrens und der Liebe als normal oder unnormal gilt. Die Ab-wertung gleichgeschlechtlicher Liebe trifft nicht nur Lesben und Schwule, sondern auch all jene, deren Begehren vielfältiger ist als die in vielen Kulturen zur Norm erklärte Heterosexualität. Was liebe ich an Frauen, was an Männern?   Durch das Aufspüren von Antworten auf solche Fragen zur eigenen sexuellen Identität lässt sich unser Gender-Bewusstsein stärken. … Doch nicht nur unser eigenes geschlechtliches Gewordensein lässt sich mit einem diagnostischen Gender-Spiegel durchleuchten und er-hellen, wir können ein solches Diagnose-Instrument auch auf Organisationen anwenden und prüfen, wie es dort mit der Geschlechter-gerechtigkeit bzw. den Geschlechterverhältnissen bestellt ist. Der Europarat definiert Gender Mainstreaming (GM) als „(Re-)Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluierung von Entscheidungsprozessen mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung beteiligten Akteurinnen und Akteure den Blickwinkel der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen.“ Gleichstellung von Frauen und Männern soll durch GM also zum Querschnittsthema werden. In den skandinavischen Ländern wurden im Rahmen von GM gute Erfahrungen mit der in Schweden entwickelten 3-R-Methode gemacht, die als Analyse-Instrument verwendet wird. Dabei folgt einer quantitativen Erfassung von Repräsentation (Welches Geschlecht ist wie vertreten?) und Ressourcen (Welchem Geschlecht steht was zur Verfügung?) eine qualitative Beschreibung der Realität (Warum ist die Situation so? Wie können vorgefundene Ungleichheiten überwunden werden?). Hier geht es zum einen um die Erhebung von Daten, um den Ist-Zustand zu erkennen, zum anderen um die Bewertung der Daten, um Ursachen zu benennen und Konsequenzen zu beschreiben. Die kompetente Nutzung eines diagnostischen Gender-Spiegels in Ihrer Organisation ist Bestandteil Ihrer Gender-Kompetenz. Gender-Kompetenz umfasst nach unserem Verständnis die Fähigkeit, die Wirksamkeit der Kategorie Geschlecht in allen sozialen Zusammenhängen zu erkennen und anzuerkennen, d.h. ein spezifisches Reflexionsvermögen (Gen-der-Reflexivität), eine spezifische Kenntnis (Gender-Wissen) sowie ein strukturell-organisationsbezogenes Know-how. Doch wenden wir uns zunächst dem eher individuellen Aspekt von Gender-Kompetenz zu. … Erhöhen Sie Ihren individuelen Gender-Spiegel. Zur Erhöhung Ihres mentalen Gender-Spiegels stellen wir Ihnen einige wesentliche Aspekte individueller Gender-Kompetenz im beruflichen Handeln vor. Dies sind insbesondere: das Wissen um die unterschiedliche Bewertung von Weiblichkeit und Männlichkeit und um die Wirksamkeit von Geschlechterrollen, die persönliche Auseinandersetzung mit dem eigenen geschlechtlichen Gewordensein, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, die Fähigkeit zu Dialog und partnerschaftlichem Umgang mit Angehörigen beider Geschlechter, der genderbewusste Umgang mit den Zielgruppen, die Verwendung einer gendersensiblen Sprache. … Bevor Geschlechterverhältnisse verändert werden können, müssen sie sichtbar und zu einem relevanten Thema gemacht werden. … Werfen wir z.B. einen Blick auf zwei Aspekte der Neuregelungen im Rahmen von Hartz IV unter Gender-Gesichtspunkten. Konkret bedeutet dies, dass bei der Berücksichtigung einer Bedarfsgemeinschaft nach einer Berechnung der Gewerkschaft ver.di zukünftig ca. 60% aller arbeitslosen Frauen kein Arbeitslosengeld mehr bekommen werden, dies ist ein ca. doppelt so hoher Prozentsatz wie bei den Männern. Letztendlich werden arbeitslose Frauen (wieder) massiv auf das Modell der Versorgerehe rückverwiesen. Ein effiziente Vermittlung ist nach Hartz IV oberstes Gebot für die Arbeitsagenturen. Allerdings wird eine Arbeitsagentur unter Erfolgszwang versuchen, zunächst die „teuren“ und „einfachen“ Arbeitslosen verstärkt zu vermitteln. Frauen sind aber oftmals „billige“ und zudem „komplizierte“ Arbeitslose, wenn sie für die Kinderbetreuung zuständig und dadurch weniger flexibel sind, ein Phänomen, das auch in anderen Kontexten der Erfolgsmessung unter dem Begriff „Creaming“ (= die Sahne abschöpfen) bekannt geworden ist. Das Beispiel zeigt, dass eine Gleichbehandlung von Frauen und Männern bei genauerem Hinsehen diskriminierend sein kann, da sie die unterschiedlichen Lebenslagen, Zugänge und Möglichkeiten von Frauen und Männern ausblendet. Möglicherweise ist hier auch der Tatbestand einer mittelbaren Diskriminierung im Sinne der neuen Antidiskriminierungsrichtlinien der EU erfüllt. … Ungeschriebenes Gewohnheitsrecht in Sachen Gender ist mindestens so alt und ebenso mittelalterlich. Auch im Bereich von Beschäftigung und Beruf gibt es traditionelle genderbezogene Praxen, die zwar meist auf langjährigen Erfahrungen beruhen, gleichzeitig aber auch Gewohnheitsrecht reproduzieren können. Seien Sie sich bewusst über den traditionellen Gender-Spiegel. Gerade beim Aspekt Berufswahl ist ein breites Spektrum verschiedener Berufsfelder bedeutsam. Auch wenn sich junge Menschen im Anschluss an die Berufsvorbereitung „traditionell“ entscheiden, so haben sie ihre Entscheidung doch auf einer breiteren, fundierteren Grundlage getroffen. Was kann GM hier erreichen? Genau hinsehen, genau nachforschen, alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Traditionen kritisch hinterfragen, auch wenn es manchmal langjährigen Erfahrungen widerspricht. Sozialisationsbedingte Unterschiede in den Selbstkonzepten und Kompetenzen von Mädchen und Jungen berücksichtigen. Die Zukunftsfähigkeit einzelner Berufe im Blick behalten. Noch einen anderen Spiegel zwischen Buchdeckeln haben wir gefunden, den SPIEGEL ALS REGEL- UND VERHALTENSBUCH … etwa in Form der so genannten Fürsten-spiegel: Schriften also, die Regeln zum Ver-halten der Fürsten festhalten. Verhaltensregeln und Leitlinien spielen auch für eine Organisation und deren Gender-Kompetenz eine wichtige Rolle. Geben Sie Ihrer Organisation einen zeitgmäßen Gender-Spiegel. Im Rahmen von Gender Mainstreaming wird gerne mit Leitfäden und Checklisten gearbeitet. Enggruber plädiert dafür, GM-Kriterien in bereits bestehende Entscheidungsleitfäden zu integrieren. Beispielhaft nennt sie einen Leitfaden zur Überprüfung der geschlechterreflexiven Gestaltung von Angeboten bzw. Maßnahmen der arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit, der sich konkret am „Entscheidungsleitfaden zur fachlichen Qualitätsbeurteilung bei der Vergabe von Maßnahmen in der Benachteiligtenförderung“ nach §§ 235, 240 bis 246 SGB III der Bundesagentur für Arbeit“ orientiert (vgl. Enggruber 2001, S.75). Viele solcher Fragen werden auch im Rahmen von Qualitätsmanagement aufgeworfen, und auch hier ist es sinnvoll, GM-Prozesse mit anderen Prozessen zu verknüpfen. Ein gelungenes Beispiel ist u. E. die Integration von GM in das EFQM-Mo-dell, das aufgrund seiner inhaltlich-qualitativen Ausrichtung viele Möglichkeiten bietet. Für die Arbeit in den Kompetenzagenturen bietet sich insbesondere auch die Nutzung von Leitfäden an, die auf die regionale Angebotsstruktur Bezug nehmen (vgl. ebd., S.75ff.). Exemplarisch hier vier Leitfragen in Bezug auf die Institution: Welches „genderbezogene“ Leitbild gibt es in der Einrichtung (verdeckt oder explizit)? Gilt Gender Mainstreaming als ein Qualitätsmerkmal? Wird „Geschlecht“ durchgängig berücksichtigt? Welche institutionellen Strukturen sind geschlechterbezogen wirksam (z.B. Teamstrukturen, Kooperations- und Hierarchieformen)? (Wie) wird überprüft, ob Frauen und Männer die gleichen Zugangschancen haben? Welche Kriterien werden zur Überprüfung herangezogen? Gender-Kompetenz bezogen auf die organisationale Ebene bedeutet unter anderem, ein Umfeld zu schaffen, in dem Frauen und Männer sich gleichermaßen willkommen fühlen und gleichberechtigt an allen relevanten Prozessen – insbesondere Entscheidungsprozessen – beteiligt sind, sowie das eigene Handeln als Organisation kritisch zu reflektieren und regelmäßig zu überprüfen. SPIEGEL ALS ERZIEHUNGSBUCH „Gender-Kompetenz muss bei allen pädagogisch Tätigen auch bedeuten, sich darüber klar zu werden, welche normativen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in die eigene Arbeit einfließen“ (Horstkemper 2001, S. 53). Im Modellprogramm „Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit – Modellphase: Kompetenzagenturen“ lautet eine zentrale Leitidee: Weg von der Maßnahmeorientierung hin zu individuellen Qualifizierungsverläufen, zu einer Ausrichtung an der Biographie der/des einzelnen Jugendlichen, auch verdeutlicht an der Wichtigkeit von Case Management. Gerade hier ist es ein komplexes Unterfangen, einerseits den Blick auf das Individuum zu fokussieren, dabei aber gleichzeitig auch strukturell verursachte Aspekte von Benachteiligung aufzuspüren. Als Beispiel seien hier jüngste Untersuchungser-gebnisse zu Strategien junger Menschen an der ersten Schwelle im geschlechtsspezifischen Vergleich genannt: Granato (2004) bilanziert „ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen den Interessen, der schulischen Eingangsqualifikation und dem Engagement junger Frauen einerseits sowie ihren Chancen auf Ausbildung andererseits“. Das Risiko der Ausbildungsplatzlücke trifft vor allem Schulabgängerinnen. Die Zahl der jungen Frauen, die in eine duale Ausbildung einmündeten, sank 2003 im Vergleich zum Vorjahr um 5%, die der jungen Männer um 0,6% (vgl. Berufsbildungs-bericht 2004). Hilfreich für den Klärungsprozess auf konzeptioneller Ebene können zudem einige Leitfragen in Bezug auf die Zielgruppen sein: Wie sieht die Adressat(inn)enstruktur unse-rer Institution aus (Statistik)? Ist sie zufällig oder geplant und gewollt? Was trägt die Einrichtung zur Veränderung oder Stabilisierung bei? Sind uns die „Zugangsgeschichten“ der jungen Frauen und Männer bekannt? Was sagen uns diese Geschichten in Bezug auf die Gender-Dimension? Welche Bandbreite von Unterschieden gibt es: bei den jungen Frauen, bei den jungen Männern? Welche Auswirkungen haben diese auf unsere Arbeit? Wie sieht das Angebotsspektrum der Einrichtung aus? Wie wirken sich diese Angebote für die jungen Frauen und die jungen Männer aus? Engen sie ein oder eröffnen sie neue Möglichkeiten? Was bedeutet „Mädchenarbeit“, was „Jungenarbeit“ in unserer Einrichtung? Wo machen geschlechtsspezifische Angebote Sinn und wo nicht? Wie beschreiben wir die jeweilige Lebenslage der jungen Frauen/jungen Männer? Welche Formen der Selbstorganisation für junge Frauen und junge Männer gibt es? Wir halten es für wichtig, einen möglichen Gender-Bias zu prüfen, d.h. Vorannahmen über Interessen und Fähigkeiten einer Person, die (oft unbewusst) aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit getroffen werden. Dazu zwei Fragen zur Überprüfung: Würde ich dieser Person dasselbe Angebot machen, wenn sie ein anderes Geschlecht hätte? Wird Angehörigen beider Geschlechter dasselbe Spektrum angeboten oder scheiden manche Möglichkeiten von vornherein aus? Im Hinblick auf die konzeptionelle Ebene der Arbeit in den Kompetenzagenturen findet sich in einer Veröffentlichung zur Modellphase folgendes Arbeitsprinzip: „Im Sinne des Gender Mainstreaming überprüfen die Kompetenzagenturen ihre Methoden und Strategien kontinuierlich daraufhin, welchen Beitrag diese zur Verbesserung der Chancengleichheit leisten“ (vgl. INBAS GmbH: Modellprogramm: Arbeitsweltorienterte Jugendsozialarbeit. Modellpha-se: Kompetenzagenturen. Übersicht über die Modellphase. Mai 2004, S. 7). Spannend wird es bei der Frage, wie diese Überprüfung stattfindet, ob es Indikatoren für die Erfolgsmessung gibt, ob es operationalisierte Ziele gibt und wie die verschiedenen Kompetenzagenturen dies in der Praxis handhaben. … “ – INBAS GM.pdf

Quelle: http://www.kompetenzagenturen.de/themen/gendermain.html#infobrief1_05

Dokumente: INBAS_GM.pdf

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