Zur Diskussion: Sozialstaat statt Konzern-Gesellschaft – Alternativen zur Wirtschaftspolitik

Memorandum 2005 Sozialstaat statt Konzern-Gesellschaft – Alternativen zur Wirtschaftspolitik (Arbeitsgruppe Alternative Beschäftigungspolitik) Auszug aus der Kurzfassung zu den Punkten Arbeitsmarktreform, Beschäftigungspolitik und Arbeitslosenversicherung “ …I. 2. Fordern und unterdrücken – Arbeitsmarktreform als Disziplinierung Mit dem „Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ist am 1. Januar 2005 das letzte Gesetz für die Reform des Arbeitsmarktes in Kraft getreten, das im Dezember 2003 mit großer Mehrheit in Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden war. Es sieht mit der Abschaffung der bisherigen Arbeitslosenhilfe und der Einführung des sog. Arbeitslosengeldes II (ALG II) die schnelle und radikale Kürzung der öffentlichen Unterstützung für Arbeitslose vor, sobald deren – verkürzter – Anspruch auf die. Versicherungsleistung Arbeitslosengeld ausläuft. Zugleich verstärkt sie – durch die neuerliche Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen – in bislang unbekannter und mit Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft kaum vereinbarer Weise den Druck auf die Arbeits-losen und die Beschäftigten: Erstere müssen jeden angebotenen Arbeitsplatz annehmen, letztere werden mit einem neuen Niedriglohnsektor konfrontiert. Mit der Annäherung an die Einführung einer Arbeitspflicht leistet die Politik einen massiven Beitrag zu weiterer sozialer Polarisierung und zur Gefährdung der demokratischen Gesellschaft. Hartz IV steht in der Tradition der Arbeitsmarktreformen, die ökonomisch und beschäftigungspolitisch erfolglos bleiben müssen, weil sie per Saldo keine neuen Arbeitsplätze schaffen, sondern durch Kürzung kaufkraftwirksamer Sozialleistungen dazu beitragen, Arbeitsplätze zu vernichten. Dieser Missstand war schon bei den Personal Service Agenturen zu beobachten. Die Flucht vor Hartz IV in staatlich bezuschusste Existenzgründungen erklärt eine Zunahme dieser neuen Selbständigkeit im ver-gangenen Jahr, begründet aber auch Zweifel an ihrer Überlebensfähigkeit in relevantem Maßstab. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass mehr als die Hälfte der Gründerinnen nach Auslaufen der Förderung arbeitslos wird. Der im zweiten Halbjahr 2004 zu beobachtende Run auf die sog. Minijobs dürfte ebenfalls auf den Druck von Hartz IV zurückgehen – und wurde deshalb als ein früher Erfolg dieser Reform gefeiert -, wird aber die Tendenz zum Ersatz sozialversicherungspflichtiger durch prekäre Arbeitsverhältnisse noch verschärfen, die bereits im Vorjahr zu beobachten war. Gegenüber dem Jahr 2001 war 2003 die Zahl der Selbständigen um168.000 und die der geringfügig Beschäftigten um 243.000 gestiegen, während die der sozial-versicherungspflichtig Beschäftigten um 861.000 gesunken war. Die beschäftigungspolitische Wirkungslosigkeit ihrer Arbeitsmarktreformen dürfte auch der Bundesregierung nicht verborgen geblieben sein. Wenn sie dennoch relativ unbeirrt an diesem Kurs festhält, dann ist zu vermuten, dass es hierfür neben ideologischem Starrsinn und konzeptioneller Ratlosigkeit weitere Ursachen gibt. Diese sehen wir in drei politischen Tendenzen, die auch schon frühere Reformen kennzeichneten und in Hartz IV einen besonders markanten Niederschlag gefunden haben. Zum einen verfolgt die Reform die Absicht, eine gesellschaftliche Verantwortung für die Überwindung der Arbeitslosigkeit zurückzuweisen und damit die Orientierung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) von 1969 endgültig aufzugeben. Dort waren die „Vermeidung des Eintritts und der Fortdauer von Arbeitslosigkeit“ sowie die „Verhinderung unterwertiger Beschäftigung“ ausdrücklich als politische Zielvorgaben definiert worden. Deutliche Abstriche von dieser Konzeption wurden schon mit der Reform des AFG im Jahr 1997 erkennbar, die darauf abstellte, dass „Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ die Verantwortung für den Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt tragen sollten. Allerdings suchte man hier vergeblich Konkretisierungen für die Verantwortung der Arbeitgeber oder gar nach Sanktionen, wenn sie dieser Verantwortung – etwa durch Massenentlassungen – nicht gerecht werden. Diese Arbeitsmarktreform kam mit der Attitüde daher, staatliche Bürokratie und Reglementierung abbauen und mehr Verantwortung an die Beteiligten auf beiden Seiten des Arbeitsmarktes übertragen zu wollen. Hartz IV beendet die Schein-Symmetrie und schiebt die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit ausschließlich den Arbeitslosen zu. Ihnen wird auferlegt, diesen Zustand, durch den sie der Gesellschaft überdies zur Last fielen, schnellstmöglich und um jeden Preis zu beenden. Zum zweiten verschärft Hartz IV in bislang nicht da gewesener Weise den Druck auf die Arbeitslosen. Damit dementiert Hartz IV das Märchen vom Rückzug des Staates und demonstriert deutlich, dass der Staat bei der neoliberalen Regulierung wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse durchaus präsent bleibt. Er verändert sich allerdings von einem im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte zunehmend erodierenden Sozialstaat zu einem immer stärker autoritären Staat. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bedeutet an sich schon außerordentlichen Druck zur Unterbietung aller gesicherten Arbeitsstandards. Er wird durch die Drohung verstärkt, dass die Weigerung, irgendeine angebotene Arbeit anzunehmen, zu weiteren Kürzungen des ALG II führt. In diesem Zusammenhang sind die sog. „Ein-Euro-Jobs“ von Bedeutung, die Arbeitslose ohne Rücksicht auf ihre Qualifikation annehmen müssen, wenn sie ihnen angeboten werden. Dies kommt der Einführung einer Arbeitspflicht sehr nahe, die allen Vorstellungen von Qualitäts- und Qualifikationsstandards sowie partnerschaftlichen Arbeitsbeziehungen ins Gesicht schlägt. Es geht um die offene Ausnutzung einer existenziellen Notlage der Arbeitslosen. Unterwertige Beschäftigung, im AFG noch ein zu bekämpfender Missstand, wird bei Hartz IV zum akzeptierten und absehbar regelmäßig eingesetzten Instrument. Die dritte Hauptstoßrichtung der jüngsten Arbeitsmarktreformen reicht über den Paradigmenwechsel der Arbeitsmarktpolitik weit hinaus. Es geht um die weitere Verschiebung in den gesellschaftlichen Macht- und Verteilungsverhältnissen zugunsten der Reichen und der Privatwirtschaft. Durch den Zwang zur Annahme unterbezahlter und prekärer Arbeitsverhältnisse soll ein zusätzlicher Niedriglohnsektor geschaffen werden, der den disziplinierenden Druck auf die wirtschaftliche und rechtliche Lage der Beschäftigten insgesamt verstärkt. Mit Hilfe dieses Drucks sollen dann weitere „unzeitgemäße“ Bastionen des Sozialstaates geschleift werden: Nach der Durchlöcherung des Netzes der sozialen Sicherung durch Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktreformen starten die Unternehmerverbände bereits Versuchsballons für die Identifizierung der nächsten Einfalltore: Ankündigungen, den Kündigungsschutz als unzeitgemäß aufheben und die deutschen Mitbestimmungsregelungen als Europa-untauglich abschaffen zu wollen, stoßen zwar noch auf ein geteiltes Echo im Unternehmerlager und auf Ablehnung bei der Regierung. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre muss jedoch bezweifelt werden, dass diese Ablehnung von langer Dauer ist. Die weitere Entwicklung ist absehbar: Die ökonomische Umverteilung und soziale Polarisierung soll durch politische Entrechtung abgesichert werden.   …II. Alternativen zur Sicherung des Sozialstaates Die neoliberale Prägung der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist zwar der Haupttrend der Zeit, aber sie ist weder schicksalhaft noch unveränderlich. Es gibt dazu machbare Alternativen. In den letzten Jahren und Monaten sind der klassengebundene Interessencharakter dieser Politik sowie ihre Stoßrichtung auf Abschaffung des Sozialstaates besonders deutlich hervorgetreten. Das hat die Kritik, die Opposition und die Diskussion über die Möglichkeiten und die Form von Alternativen zu dieser Politik befördert. In diese Diskussion bringen wir unsere Vorstellungen von einem alternativen Typ ökonomischer Entwicklung ein, in dem die Dynamik der Märkte und privates Gewinnstreben in einen Rahmen gesellschaftlicher und politischer Vorgaben eingebunden sind. Die Eckpunkte dieses Rahmens werden durch Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, Gerechtigkeit, ökologische Verträglichkeit und internationale Solidarität umrissen. Zu diesen Punkten haben wir in früheren Memoranden ausführliche Konzepte vorgelegt. Von ihrer Verwirklichung ist Deutschland allerdings weit entfernt, und die Politik hat sich in den letzten Jahren noch weiter in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Eine Beendigung und Umkehr dieses Trends erfordert große politische Anstrengungen und soziale Mobilisierung, in deren Verlauf sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten der von Beschäftigung und Arbeitseinkommen abhängigen Menschen ändern. Ein wesentlicher Schritt in diese Richtung ist eine deutliche und dauerhafte Verminderung der Arbeitslosigkeit. Denn diese ist der entscheidende Hebel zur Schwächung der Widerstandskraft der Mehrheit und zur Durchsetzung der Minderheitsinteressen. Im Zentrum der Alternativen stehen daher Wege zur Verminderung der Arbeitslosigkeit. II. 6. Strategien zu mehr Beschäftigung und besseren Arbeitsplätzen In Zeiten anhaltender Wachstumsschwäche muss der demokratische Staat die Verantwortung für mehr und bessere Arbeitsplätze übernehmen. Dafür gibt es mehrere Instrumente: öffentliche Investitionsprogramme, die Zunahme öffentlicher Beschäftigung, eine ergänzende Arbeitsmarktpolitik und die Verminderung der individuellen Arbeitszeit im öffentlichen Sektor bzw. die Förderung einer Arbeitszeitverkürzung in der Privatwirtschaft. Ausführliche Vorstellungen und Konkretisierungen hierüber haben wir in früheren Memoranden vorgelegt. Hier sollen nur die Kernpunkte noch einmal betont werden. Das vorgeschlagene öffentliche Investitionsprogramm soll einen Umfang von jährlich 75 Mrd. € für einen Zeitraum von 10 Jahren haben. Dadurch würden – einschließlich multiplikator- und vorleistungsinduzierter Wirkungen – zum einen über eine Million zusätzlicher Arbeitsplätze entstehen. Zum anderen würde ein solches Programm dem Verfall der öffentlichen Infrastruktur entgegenwirken, der in dem dramatischen Rückgang der öffentlichen Investitionen – von 2,6% auf 1,4% des BIP innerhalb der letzten 10 Jahre – angelegt ist. Ein besonderer Bedarfsbereich ist die ökologische Modernisierung und Sanierung (Nah- und Fernverkehr, Wasserver- und -entsorgung, Stadtsanierung, Energieeinspa-rung etc.). Hierfür Annen relativ schnell 40 Mrd. € verwendet werden. Weitere 15 Mrd. € sollten in die Bereiche Wissenschaft, Bildung und Kultur fließen. Auch ein Sonderprogramm Aufbau Ost in Höhe von 20 Mrd. € ist angesichts der bestehenden Entwicklungsunterschiede nach wie vor aktuell. Der dramatische Abbau öffentlicher Beschäftigung – um über 1,2 Millionen Personen seit Beginn der 1990er Jahre – muss endlich gestoppt und die Zahl der Arbeitsplätze für öffentliche Dienstleistungen wieder erhöht werden. Mit einem Aufwand von 30 Mrd. € jährlich können eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen werden. Dadurch würde die Qualität des öffentlichen Dienstleistungsangebotes – zum Beispiel im Gesundheits-, Pflege-, Kindergarten- und Bildungsbereich – wesentlich verbessert werden. Da insbesondere die unteren Einkommensklassen auf derartige öffentliche Güter besonders angewiesen sind, ist eine Ausweitung und Verbesserung in diesem Bereich gleichzeitig ein wesentlicher Beitrag zur Überwindung gesellschaftlicher Polarisierung, zur Stärkung des sozialen Zusammen-haltes und der politischen Stabilität. Dabei muss es sich nicht ausschließlich um Arbeitsplätze im klassischen öffentlichen Sektor handeln. Auch genossenschaftliche oder Beschäftigung in anderen selbstverwalteten Einrichtungen Annen mit öffentlichen Mitteln finanziert werden, sofern sie der öffentlichen Kontrolle unterliegen. Die oben vorgetragene Kritik an der neoliberalen und beschäftigungspolitisch kontraproduktiven Entwicklung der Arbeitsmarktreformen bedeutet keine Zurückweisung von Arbeitsmarktpolitik als potenziell wichtigem Instrument der Beschäftigungspolitik, das ergänzend zur makroökonomischen Politik eingesetzt werden sollte. Vernünftige Arbeitsmarktpolitik kann dazu beitragen, die Qualifikationen der Arbeitssuchenden entsprechend ihren Fähigkeiten zu fördern, Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt besser zusammen zu bringen, Benachteiligungen und Diskriminierungen am Arbeitsmarkt abzubauen und auszugleichen. Die weitgehende Beendigung öffentlich geförderter Beschäftigung in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und anderen institutionellen Formen stellt daher – auch wenn diese Arten der Beschäftigungsförderung gerade in den letzten Jahren nicht immer den Idealvorstellungen entsprachen – einen Rückschritt dar. Eine Wiederaufnahme und der personelle und finanzielle Ausbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik würde zumindest den Druck auf die Arbeitslosen vermindern, sich jeder Zumutung durch die Hartz-IV-Regelungen zu unterwerfen. Wir schätzen die Kosten einer solchen progressiven Reform der Arbeitsmarktpolitik auf rund 20 Mrd. €. …. Als viertes Instrument einer aktiven Beschäftigungspolitik spielt nach wie vor die Arbeitszeitverkürzung eine zentrale Rolle. Ihr Beschäftigungspotential ist höher als die aller anderen Maßnahmen. Eine zehnprozentige Arbeitszeitverkürzung, die nur zur Hälfte beschäftigungswirksam würde, könnte – bei gut 38,4 Millionen Beschäftigten in Deutschland – fast zwei Millionen Arbeitsplätze schaffen oder sichern. Die Entwicklung in Frankreich Ende der 1990er Jahre zeigt, dass die gesetzliche Einführung der 35-Stunden-Woche durchaus beschäftigungspolitisch erfolgreich war (die Angaben schwanken zwischen einer halben und einer Million zusätzlicher Normalarbeitsplätze). Sie zeigt auch, dass der gesellschaftliche Widerstand gegen Versuche groß ist, diese Erfolge wieder zurückzunehmen. Es kommt allerdings darauf an, Arbeitszeitverkürzungen nicht schematisch zu verfügen, sondern differenziert unter Berücksichtigung der Wünsche von Arbeitgebern und Beschäftigten durchzuführen. Der allgemeine Trend geht dem gegenüber in die entgegengesetzte Richtung. Das ist gegen jede ökonomische Vernunft, weil es die Zahl der Arbeitsplätze vermindert: Im öffentlichen Sektor wird das Dienst-leistungsangebot nicht ausgeweitet, sondern mit weniger Arbeitskräften – und daher auch in schlech-terer Qualität – bewältigt. In der Privatwirtschaft steigt das Angebot an Produkten und Dienstleistun-gen auf Grund der Arbeitszeitverlängerung, Ohne dass gleichzeitig die Nachfrage steigt. Entlassungen werden die Folge sein. Eine gesamtwirtschaftlich vernünftige Politik müsste demgegenüber die Arbeitszeit verkürzen, ohne gleichzeitig die Löhne zu senken. Das würde in der Privatwirtschaft zu einer relativen Übernachfrage mit nachfolgenden Neueinstellungen führen. Im öffentlichen Dienst wirkt dieser Mechanismus nicht. Hier müssten Arbeitszeitverkürzungen ohne entsprechende Lohn- und Gehaltskürzungen durch eine bessere Ausstattung der öffentlichen Haushalte finanziert werden. Hierfür veranschlagen wir einen Betrag von 10 Mrd. €. Weitere 4 Mrd. € sind für befristete Lohnkostensubventionen an solche kleine und mittlere Betriebe vorzusehen, für die eine drastische Arbeitszeitverkürzung mit existenzgefährdenden Kostensteigerungen verbunden sein kann. Bei den oben genannten Wegen zu mehr Beschäftigung und besseren Arbeitsplätzen handelt es sich um Maßnahmen, mit denen staatliche Politik entweder direkt Arbeitsplätze schafft oder auf die private Wirtschaft einwirkt, dies zu tun. An dieser Stelle wollen wir aber auch auf die wichtige Rolle hinweisen, die eine aktive Lohnpolitik für die Beschäftigung spielt. Die Schwäche der Binnennachfrage, wesentliche Ursache der anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, ist vor allem eine Schwäche des privaten Verbrauchs – dem mit großem Abstand wichtigsten Element der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Diese Konsumschwäche geht ihrerseits auf die seit mehr als zwei Jahrzehnten verfestigte Schieflage der Einkommensverteilung zurück, die sich aus den Tarifverhandlungen ergibt: Die Löhne und Gehälter, die weit überwiegend für den privaten Verbrauch ausgegeben werden, sind seit vielen Jahren hinter der Entwicklung der gesamten Wertschöpfung zurück geblieben und haben nicht einmal den verteilungsneutralen Lohnspielraum ausgeschöpft, der sich aus der Steigerung der Produktivität und der Inflationsrate ergibt. Diese Lohnzurückhaltung ist ein zentrales Element des Teufelskreises aus zunehmender Ungleichheit der Verteilung, Wachstumsschwäche und steigender Arbeitslosigkeit, in dem sich die deutsche Wirtschaft seit langem befindet. Die Durchsetzung höherer Lohnsteigerungen würde demgegenüber nicht nur die wirtschaftliche und soziale Lage der Beschäftigten unmittelbar verbessern. Sie wäre auch ökonomisch vernünftig und wichtig, weil sie mit dem privaten Verbrauch auch die Gesamtnachfrage beleben und dadurch mehr Beschäftigung Adern würde. Eine konsequente Lohnpolitik, die keine Umverteilung von unten nach oben zulässt, sondern im Gegenteil die entwicklungshemmende Fehlentwicklung der Verteilung korrigiert, ist also – ganz im Gegensatz zur Propaganda von Seiten der Unternehmen und der Mehrheit der Medien – nicht nur keine Politik zu Lasten der Arbeitslosen, sondern eine Politik zu Gunsten der Beschäftigten und der Arbeitslosen. Insofern stehen auch die Gewerkschaften in der Verantwortung für mehr Beschäftigung. Diese Ver-antwortung wahrzunehmen, erfordert einen klaren Blick auf die gesamtwirtschaftlichen Zusam-menhänge und die geschlossene Bereitschaft und Kraft, die Macht zu entwickeln, die für mehr Ver-nunft in der Wirtschaft erforderlich ist. II. 7. Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung – Neue Wege zur Finanzierung Die Systeme der Arbeitslosenunterstützung und der Arbeitsförderung leiden seit längerem an finanzieller Auszehrung. Dies liegt in erster Linie daran, dass die Arbeitslosigkeit trendmäßig steigt und daher mehr Mittel für gesetzliche Versicherungsleistungen beansprucht werden. Es liegt aber auch daran, dass der Hauptteil der Einnahmen aus Beiträgen auf die Einkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stammt. Deren Zahl geht jedoch zurück, und die Entwicklung der Löhne und Gehälter bleibt hinter der des BIP und der Wertschöpfung zurück. Auch der Bundeszuschuss, der die Defizite im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit (BA) ausgleichen muss, steht wegen der verfehlten Finanzpolitik der Regierung unter massivem Druck. Ein weiteres Problem besteht in der prozyklischen Entwicklung der Finanzlage der BA. Die Finanzmittel werden dann in besonderem großen Maße, nämlich bei steigender Arbeitslosigkeit, gebraucht, wenn sie aus dem gleichen Grund in be-sonders geringem Maße in die Kassen fließen. In derartigen Situationen bleibt kein Spielraum für aktive Arbeitsförderung, die nach bisherigem Recht eine freiwillige Leistung der BA ist. Die Bundesregierung versucht, die Finanzprobleme durch Leistungskürzungen (ALG II), durch Billigmaßnahmen (Ein-Euro-Jobs) und durch Anreize zu lösen, das Versicherungssystem zu verlassen (Ich-AG). Dies ist aus den in Abschnitt 3 dargelegten Gründen weder ökonomisch sinnvoll noch sozial vertretbar. Als Alternative hierzu schlagen wir vor, das System grundlegend zu reformieren. Dies wird zu wesentlich höheren Einnahmen führen. Ihnen stehen allerdings auch wesentlich höhere Aufwendungen gegenüber, die einerseits für die zuverlässige Sicherung der Arbeitslosen auf akzeptablem Niveau und andererseits für eine wirksame Arbeitsförderungspolitik auch und gerade in Zeiten der konjunkturellen Stagnation oder Rezession erforderlich sind. Im Einzelnen enthält unser Vorschlag folgende Elemente: Grundsätzlich sollte das Finanzierungssystem für die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsförderung gesamtgesellschaftlich ausgestaltet werden und neben den Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen auch alle anderen Erwerbspersonen mit Arbeitsmarktrisiken in ein umfassendes gesetzliches Pflichtversicherungssystem einbeziehen, aus dem dann im Falle der Arbeitslosigkeit Rechtsansprüche auf Unterstützung abzuleiten sind. Der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsförderung entspricht es auch, ihre Finanzierung auf alle Einkommensarten zu stützen, also neben Löhnen und Gehältern auch auf Gewinne, Mieten und alle Arten Kapital- und Vermögenseinkommen. Für die unselbständig Beschäftigten ist die Finanzierung der Beiträge durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer grundsätzlich beizubehalten. Wir schlagen allerdings vor, den Finanzierungsanteil der Arbeitgeberseite über die gegenwärtig geltenden 50% hinaus anzuheben. Dies ist in den meisten Ländern der Fall und entspricht der Tatsache, dass die Arbeitgeber in weit höherem Maße als Ar-beitnehmerinnen für Arbeitslosigkeit verantwortlich sind. Für die Arbeitgeberbeiträge sollte eine individuelle Differenzierung der Durchschnittsbeiträge nach amerikanischem Muster eingeführt werden. Dabei zahlen diejenigen Unternehmen einen höheren Beitrag, bei denen die Entwicklung der Beschäftigung hinter der der Wertschöpfung zurückbleibt, während im umgekehrten Fall eine Beitragsermäßigung stattfindet. Auf diese Weise werden Entlassungen in gewissem Umfang sanktioniert und Einstellungen honoriert. Bei den Arbeitnehmerbeiträgen sind die Beitragssätze auf dem gegenwärtigen Niveau konstant zu halten, um bei Arbeitslosigkeit eine Sicherung auf hohem Niveau zu gewährleisten. Die Beitragsbemessungsgrenzen werden schrittweise verdoppelt. Die Versicherungspflicht beginnt ab einem Jahresverdienst ab 2.400 €. Bis zu einem Jahresverdienst von 4.800 € sind die Beiträge ausschließlich durch die Arbeitgeberseite zu entrichten. “ – memo05-kurz.pdf

http://www.memo.uni-bremen.de/docs/memo05-kurz.pdf

Quelle: http://doku.iab.de/chronik/2x/2005_05_10_20_memorandum2005.pdf

Dokumente: memo05_kurz.pdf

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