‚Welt ohne Grenzen? – Globalisierung und Migration‘ –

‚Welt ohne Grenzen? – Globalisierung und Migration‘ – Eröffnungsrede von Kerstin Müller Auszüge aus der Rede der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, auf dem 12. Forum Globale Fragen, Berlin, 02./03.062005 “ … Migration ist kein neues Phänomen, es ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Es reicht von den antiken Wanderungsbewegungen diverser Völker in die fruchtbaren Ebenen Mesopotamiens über die Völkerwanderungen im Mittelalter bis zu den mit der Industrialisierung beginnenden Emigrationswellen in die ‚Neue Welt‘. Wenn wir im Zusammenhang mit Migration die Frage nach einer ‚Welt ohne Grenzen‘ stellen, so zeigt ein Blick in die Geschichte: Massenhafte Arbeitsmigration war eine der treibenden Kräfte hinter der Internationalisierung der Weltwirtschaft vor dem ersten Weltkrieg. Sie wurde ermöglicht durch den weitgehenden Verzicht auf staatliche Einwanderungsbeschränkungen. Zu dieser Zeit konnte man in der Tat von einer ‚Welt ohne Grenzen‘ für Migranten sprechen. Heute sieht unsere Welt ganz anders aus. Die treibende Kraft hinter der Globalisierung ist die Entscheidung der westlichen Industrienationen zur Liberalisierung des Welthandels und der Finanzmärkte. In den letzten Jahrzehnten wurden Beschränkungen des internationalen Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs kontinuierlich abgebaut. Im Gegensatz dazu sind Grenzen für Menschen, die in einem anderen Land arbeiten oder leben möchten, immer noch von Bedeutung. Unsere Öffnung der Grenzen in Europa – im Rahmen des Schengen-Abkommens – bleibt im Vergleich zu anderen Regionen eine Ausnahme. Beispielsweise wurde zwar im ‚North American Free Trade Agreement‘ zwischen Mexiko, Kanada und den USA der Handel weitgehend liberalisiert. Die Grenze zu den USA bleibt für mexikanische Staatsbürger nach wie vor geschlossen. Eine ‚Welt ohne Grenzen‘ gibt es heute nur für Güter, Dienstleistungen und Kapital, nicht aber für Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge. Zwar verständigten sich die Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation im ‚General Agreement on Trade in Services‘ darauf, den vorübergehenden Aufenthalt von Mitarbeitern ausländischer Dienstleistungsunternehmen zu erleichtern. Und zudem gibt es darüber hinaus eine Reihe anderer internationaler Organisationen, die sich mit Migration beschäftigen, wie zum Beispiel die Internationale Arbeitsorganisation, die ‚International Organisation for Migration‘ und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen. In keiner dieser Organisationen ist es uns jedoch bisher gelungen, einen geeigneten Rahmen für eine umfassende und effektive Zusammenarbeit zwischen Auswanderungs- und Einwanderungsländern zu schaffen. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 scheint eine ‚Welt ohne Grenzen‘ eher in weite Ferne gerückt. Denn offene Grenzen werden nicht nur von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen genutzt, sondern auch von Terroristen, Menschenschmugglern und Kriminellen missbraucht. Aus sicherheitspolitischen Gründen werden deshalb die Kontrollen an den Grenzen vieler Staaten verschärft. Und heute ist es eine zentrale Aufgabe die Interessen eines Staates an Öffnung und internationalem Austausch einerseits und seinen Sicherheitsbedürfnissen andererseits in eine kluge Balance zu bringen. Trotz der weiter bestehenden Grenzen hat die Migration am Anfang des 21. Jahrhunderts ein nie zuvor gekanntes Ausmaß erreicht. Heute sind schätzungsweise an die 175 Millionen Menschen unterwegs, um vor Armut und Perspektivlosigkeit, vor Unfreiheit und Unterdrückung, vor Krieg und Gewalt oder vor verheerenden Naturkatastrophen zu fliehen. Zwischen 1975 und 2000 hat sich die Zahl der internationalen Migranten verdoppelt. In den letzten zehn Jahren stieg sie um jährlich sechs Millionen und damit schneller als das Wachstum der Weltbevölkerung. Diese Zahlen belegen, dass internationale Migration längst ein Bestandteil des Globalisierungsprozesses ist. Globalisierung vollzieht sich in diesem Bereich jedoch nach einem anderen Muster als etwa in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Während die Liberalisierung der Finanzmärkte und des Welthandels auf das strategische Verhalten von Staaten zurückgeht, sind Wanderungsbewegungen Folge individueller Entscheidungen. Globalisierung vollzieht sich hier ‚von unten‘ und entzieht sich damit zumindest teilweise staatlicher Kontrolle. Illegale Immigration stellt heute viele Staaten vor große Herausforderungen. Lassen Sie mich Ihr Augenmerk auf einen weiteren problematischen Zusammenhang zwischen Migration und Globalisierung lenken: Innerstaatliche Probleme wie Überbevölkerung, Armut, Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen, politische Unruhen und Bürgerkriege haben durch Wanderungsbewegungen schwerwiegende Auswirkungen auf andere, meist benachbarte Staaten. Als Beispiele der 90er Jahre nenne ich hier nur die Flüchtlingsströme in Folge der bewaffneten Konflikteim ehemaligen Jugoslawien und der zahlreichen Bürgerkriege auf dem afrikanischen Kontinent. Etwa 17 Mio Flüchtlinge befinden sich derzeit ausserhalb ihrer Heimatländer. Wir tragen dem in Deutschland durch unsere Asylpolitik Rechnung, bei der nicht der Schutz vor Flüchtlingen, sondern der Schutz von Flüchtlingen das Ziel unseres Handelns sein muß. Deshalb war es notwendig, daß wir mit dem neuen Zuwanderungsgesetz weitere Fluchtgründe anerkennen, etwa nichtstaatliche Verfolgung oder – vor allem für Frauen wichtig – Verfolgung aufgrund Geschlechtszugehörigkeit. In diesen Kontext gehört ebenfalls die Aufenthaltserlaubnis für solche Flüchtlinge, die aus zwingenden humanitären Gründen – etwa drohende Folter, oder Todesstrafe – nicht abgeschoben werden können. Viele Menschen fliehen vor Bürgerkriegen und bewaffneten Konflikten jedoch nicht in ein anderes Land, sondern in eine andere Region innerhalb ihres Heimatstaates. Es gibt heute schätzungsweise zwischen 20 und 25 Millionen Binnenvertriebene. Die Situation vieler dieser Flüchtlinge ist sehr schwierig, sie sind oft hilflos Überfällen bewaffneter Konfliktparteien ausgeliefert. Ein weitaus größerer Teil der Binnenwanderung vollzieht sich heute jedoch als Migration aus ländlichen Gebieten in große Städte. Land-Stadt-Migration übersteigt zahlenmäßig die internationale Migration um ein Vielfaches. Allein in China, schätzt man, sind in den 90er Jahren über 100 Millionen Menschen aufgrund ärmlicher Lebensverhältnisse von den landwirtschaftlich geprägten westlichen Provinzen in die Küsten-Metropolen im Osten des Landes gezogen. Diese Urbanisierung der Welt stellt die multi- und bilaterale Entwicklungspolitik vor schwierige Fragen. Sollen wir den Schwerpunkt auf die Sicherung der Versorgung der ländlichen Bevölkerung legen, trotz schlechter Infrastruktur in diesen Regionen? Oder ist eine Neuorientierung unserer Entwicklungspolitik auf die urbanen Zentren notwendig? Während internationale Migration ein wichtiger Bestandteil des Globalisierungsprozesses ist, werden moderne Wanderungsbewegungen gleichzeitig von der Globalisierung in anderen Bereichen geprägt. Ich denke etwa daran, wie billige Transportmöglichkeiten die Migrationsmuster verändern und neue Wanderungsformen wie die ‚Pendel-Migration‘ ermöglichen. Oder wie dank Internet und Email Migrantengemeinschaften engen Kontakt mit ihren Familien und Freunden in den Herkunftsländern pflegen können. Dies gibt der Diaspora die Möglichkeit, durch den Austausch ihrer Erfahrungen in Gastländern zur sozio-kulturellen und politischen Entwicklung ihrer Herkunftsländer beizutragen. In Deutschland und Europa ist die Debatte über die Gewinne und Verluste aus grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen oft von Ängsten geprägt. Ich erfahre dies oft in den Diskussionen über das Zuwanderungsgesetz und über ‚Billigarbeiter‘ aus den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Wir müssen diese Ängste ernst nehmen. Allerdings werden sie oft auch durch polemische Debatten verstärkt und können durch bessere Information und vor allem sachliche Diskussion zumindest teilweise überwunden werden. Fakt ist: Es kommen doch höchstens ein bis zwei Prozent aller Migranten nach Europa. Ich bitte jeden eindringlich sich vor Augen zu halten, daß es gerade die armen und ärmsten Länder dieser Welt sind, welche die Hauptlast der weltweiten Wanderungsbewegungen tragen. Aufgrund der schrumpfenden und alternden Bevölkerung ist gerade Deutschland  wie andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch  auf Einwanderung angewiesen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan hat im Januar 2004 vor dem Europaparlament auf die Gefahr des Bevölkerungsrückgangs hingewiesen mit den Worten: ‚Ein Europa, das sich abschließt, wäre ärmer, schwächer und älter. Einwanderer sind ein Teil der Lösung, nicht Teil des Problems‘.Dem kann ich voll und ganz zustimmen. Ich denke, Migration als Ausdruck einer Globalisierung ‚von unten‘ lässt sich nicht unterdrücken. Sondern wir müssen sie gestalten und steuern, damit sie zur nachhaltigen Entwicklung aller beteiligten Länder beiträgt. Das ist die zentrale Aufgabe von Politik heute – auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Regierungen der Herkunfts- und Gastländer, internationale Organisationen, zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Akteure sind gefragt, wenn es darum geht, aus der Migration einen Nutzen für alle Beteiligte zu ziehen. Dazu gehören moderne Einwanderungsregelungen, welche die Immigration erwünschter Personen ermöglicht. Deutschland trägt dem durch das Zuwanderungsgesetz Rechnung. Damit haben wir trotz aller Mängel des Gesetzes immerhin einen ersten Schritt für die Gestaltung einer zeitgemäßen Einwanderungspolitik begonnen. Insbesondere für Höchstqualifizierte, für Selbstständige, aber auch hinsichtlich der Arbeitsaufnahme von Studienabsolventen bedeutet dies eine Abkehr vom alten Ausländerrecht. Ich sehe allerdings auch, dass die Integrationsbemühungen noch weitergehen müssen. Sprachkenntnisse zu vermitteln ist zwar absolut notwendig, aber keinesfalls ausreichend. Erfolgreiche Integration bedeutet darüber hinaus auch Zugang zu Arbeit, Wohnraum, Bildung und politischen Gestaltungsmöglichkeiten. Ziel einer gelungenen Integrationspolitik ist es, den Migrantinnen und Migranten, die Teilhabe am politischen, wirtschaftlichen und kulturtellen Leben zu ermöglichen. Neben diesen modernen Einwanderungsregelungen müssen wir unsere Außen- und Entwicklungspolitik gleichzeitig stärker auf die Bekämpfung von Fluchtursachen ausrichten. Niemand soll gezwungen sein, sein Land aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen zu verlassen. Auch deshalb müssen wir dazu beitragen, die Armut in Entwicklungsländern zu reduzieren und die dortigen Lebensbedingungen zu verbessern. Schließlich muss die Einreise etwa von Terroristen und Menschenschmugglern durch sicherheitspolitische Maßnahmen verhindert werden. Gestaltung und Steuerung von Migration setzt eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema voraus. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan hat deshalb die Schaffung einer ‚Weltkommission für Internationale Migration‘ angeregt. Sie wurde 2003 ins Leben gerufen und soll Mitte 2005 einen Bericht vorlegen. Im September 2006 soll dann auf der 61. Generalversammlung der Vereinten Nationen ein ‚Dialog auf hoher Ebene‘ über internationale Migration und Entwicklung stattfinden. Ich erhoffe mir davon wichtige Impulse für einen sachlicheren Umgang mit dem Thema Migration. …“  

http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/index_html

Quelle: http://www.pressrelations.de/new/standard/result_main.cfm?r=192353&sid=&aktion=jour_pm&print=1

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