Bertelsmann-Stiftung: Jugendarbeitslosigkeit in Europa – Konsequenzen für Deutschland Vergleichende Untersuchung der Arbeitslosenquoten von Jugendlichen in Europa und eine Diskussion fordernde Vorschläge zu einer Verbesserung der Ausbildungssitution in Deutschland Dr. Thorsten Hellmann, Eric Thode “ Die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren hat in vielen Ländern Europas bedenkliche Ausmaße angenommen. Ende 2003 waren im Raum der EU 15-Länder gut 3,3 Millionen Jugendliche arbeitslos. Der internationale Vergleich der Arbeits-losenquoten auf Basis von OECD-Daten zeigt dabei ein sehr differenziertes Bild. Während in Dänemark im Jahr 2004 lediglich 7,8 Prozent der Jugendlichen ohne Beschäftigung waren, lag die Arbeitslosen-quote für junge Menschen in Griechenland mit 26,5 Prozent mehr als dreimal so hoch. Überhaupt sind Jugendliche in den südeuropäischen Ländern deutlich stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als ihre Altersge-nossen im Norden oder in der Mitte Europas. … Ausnahmen in diesem Nord-Süd-Gefälle stellen Belgien und Finnland dar, wo ebenfalls nahezu jeder fünfte Jugendliche ohne Beschäftigung ist. In Deutschland lag die Arbeitslosenquote Jugendlicher 2004 bei 11,7 Prozent und damit deutlich unter dem Durchschnitt der EU 15-Staaten, der in diesem Zeitraum 15,6 Prozent betrug….Generell ist die Jugendarbeitslosigkeit in allen betrachteten Ländern höher als die der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren. Doch auch hier gibt es bedeutende Unterschiede zwischen den Ländern. Während die Arbeitslosenquote Jugendlicher in Deut-schland nur geringfügig über dem allgemeinen Niveau liegt, übersteigt sie in Italien die Gesamtquote nahezu um das Dreifache. Betrachtet man den Verlauf der Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland über die letzte Dekade hinweg, so ist sie zunächst weit-gehend stabil. Am aktuellen Rand hat sie jedoch deutlich zugenommen. Von 8,3 Prozent im Jahr 2001 ist sie um 3,4 Prozent-punkte auf 11,7 Prozent im Jahr 2004 geklettert. Allein im vergangenen Jahr betrug der Anstieg mehr als einen Prozentpunkt. Mit dieser Entwicklung besteht die Gefahr, dass auch in Deutschland immer mehr Jugendlichen der Einstieg in den Arbeitsmarkt erschwert oder gar unmöglich gemacht wird. Hauptursache der Jugendarbeitslosigkeit Jugendlichen mit einem geringen oder gar keinem Schulabschluss fällt es besonders schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden. … Junge Menschen mit Abitur oder weiterführendem Abschluss weisen in allen Ländern – mit Ausnahme Griechenlands – deutlich geringere Arbeitslosenquoten auf als ihre Altersgenossen mit einem Abschluss der Sekundarstufe 1 oder weniger. Für Jugendliche ist das Bildungsniveau von noch höherer Bedeutung als für Arbeitnehmer in höheren Altersgruppen, da die 15- bis 24-Jährigen im Regelfall kaum über Berufserfahrungen verfügen, die Defizite in der Schulbildung ausgleichen könnten. Auch wenn sicherlich nicht alle Kinder und Jugendlichen beliebig weit qualifizierbar sind, kommt doch der Qualität der Schulbildung die maßgebliche Rolle zu, junge Menschen mit den Qualifikationen auszurüsten, die für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt erforderlich sind. Auch das System der Berufsausbildung beeinflusst die Arbeitsmarktchancen Jugendlicher. In Österreich, Dänemark, Deut-schland und der Schweiz findet der weit überwiegende Teil der Jugendlichen, die keine tertiäre Ausbildung absolvieren, über das duale Ausbildungssystem in den Arbeitsmarkt. Gerade in diesen Ländern fallen die Arbeitslosenquoten Jugendlicher verhältnis-mäßig niedrig und die Beschäftigungsquoten relativ hoch aus…. Allerdings hat die Zahl der Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz in Deutschland in den letzten Jahren ständig zugenommen, und auch in Österreich oder der Schweiz gibt es eine wachsende Überschussnachfrage nach Lehrstellen. Als Ursache für diesen Sachverhalt wird in der Bundesrepublik oft ins Feld geführt, die betrieblichen Ausbildungsvergütungen seien in den letzten Jahren zu stark gestiegen. Tatsächlich haben die Ausbildungsvergütungen in den vergangenen Jahren stärker zugenommen als der Durchschnitt der Löhne. …. Auszubildende sind somit gegenüber Arbeitnehmern mit abgeschlossener Berufsausbildung für die Unternehmen relativ teurer und somit weniger attraktiv geworden. Handlungserfordernisse Deutschland gibt bei der Arbeitsmarktsituation Jugendlicher im internationalen Vergleich noch ein relativ gutes Bild ab. In der letzten Zeit fällt aber die Bundesrepublik auch in diesem Bereich zurück, wie sich mit dem zunehmenden Ausbildungs-platzmangel und den verschlechterten Arbeitsmarktchancen in den letzten Jahren zeigt. Es gilt, diesen Negativtrend möglichst schnell zu stoppen. Genau wie bei anderen Arbeitnehmern muss es zunächst darum gehen, die Kosten, die einem Unternehmen aus der Beschäfti-gung eines Jugendlichen entstehen, mit dessen Produktivität in Einklang zu bringen. Das macht eine Anpassung der Ausbil-dungsvergütungen erforderlich. Kurzzeitig kann auch Entlastung auf dem Ausbildungsmarkt in Deutschland geschaffen werden, indem bestehende Diskre-panzen zwischen Lehrstellenangebot und -nachfrage abgebaut werden. Neben mehr Transparenz für Jugendliche über den Lehr-stellenmarkt sind auch Profiling-Angebote hilfreich, die junge Menschen über die eigenen Stärken und Schwächen aufklären und somit die Wahl einer geeigneten Berufsausbildung erleichtern. Darüber hinaus können Mobilitätshilfen für Jugendliche die räumliche Ungleichverteilung von Ausbildungsplätzen und Lehrstellen-bewerbern … abbauen. Neben diesen kurzfristig Entlastung schaffenden Maßnahmen müssen jedoch vor allem die großen strukturellen Probleme angegangen werden. Die zentrale Strategie im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit liegt zweifelsohne in einer verbesserten Schulbildung, die die Ausbildungsfähigkeit der Schulabsolventen auf breiter Front gewährleistet. Eine besondere Rolle für den Übergang in den Arbeitsmarkt spielt in Deutschland darüber hinaus das duale Ausbildungs-system. In den letzten Jahren hat es bei den Unternehmen spürbar an Akzeptanz verloren. Betriebe in vielen Branchen können angesichts hoher Arbeitslosigkeit ihren Fachkräftebedarf über den regulären Arbeitsmarkt decken und müssen sich nicht selbst über eigene Ausbildungsanstrengungen um den Nachwuchs kümmern. Außerdem gewinnen breiter einsetzbare Kenntnisse und Fähigkeiten gegenüber betriebsspezifischen Qualifikationen in der Ausbildung immer mehr an Gewicht, da die Lehrlinge nicht mehr davon ausgehen können, ihr Berufsleben in einem einzigen Betrieb oder einer eng begrenzten Branche verbringen zu können. In dem Maße, wie betriebsspezifische Qualifikationen von allgemeiner anwendbaren Kenntnissen und Fähigkeiten verdrängt werden, nimmt für Ausbildungsbetriebe das Risiko zu, dass junge Arbeitnehmer nach der Ausbildung das Unternehmen wechseln. Damit kann der Ausbildungsbetrieb seine entstandenen Kosten nicht amortisieren, und die Ausbildung rechnet sich nicht mehr. Außerdem entsteht für Betriebe der Anreiz, eigene Ausbildungsanstrengungen zu vermindern und stattdessen Absolventen von anderen Unternehmen abzuwerben. Der daraus entstehenden abnehmenden Ausbildungsbereitschaft kann auf verschiedenen Wegen begegnet werden. Ein möglicher Ansatz besteht darin, dass der Auszubildende einen Teil seiner Ausbildung selbst finanziert oder dass er sich auf eine bestimmte Dauer der Betriebszugehörigkeit nach Ausbildungsende verpflichtet. Ferner ist auch eine Abfindungslösung vorstellbar, bei der der neu einstellende Betrieb dem Ausbildungsbetrieb eine Ablöse-zahlung zukommen lässt. Wenn – vorwiegend aus sozialpolitischen Erwägungen – derartige Lösungen gesellschaftlich unerwünscht sind, sind auch andere Wege denkbar. Eine Ausbildungsplatzabgabe, bei der alle Unternehmen einer Branche in eine Ausbildungskasse einzahlen und aus der die Ausbildungsbetriebe einen Teil ihrer zusätzlichen Kosten decken können, wäre eine solche Lösung. Die Einführung einer solchen Abgabe kann zu Effizienzsteigerungen führen, wenn sich gegenwärtig manche Betriebe als Trittbrettfahrer im dualen System verhalten. Versteht man die Ausbildung von Jugendlichen zu Fachkräften als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, so wären auch staatliche Zuschüsse aus dem Steueraufkommen an Ausbildungsbetriebe ein geeignetes Instrument, die nötigen Anreize zur Schaffung von Ausbildungsplätzen zu liefern. Bei der Reform der dualen Berufsausbildung gibt es keinen Königsweg. Unterschiede der Branchen, z.B. in der räumlichen Konzentration oder in der Verteilung der Unternehmensgrößen, erfordern ein differenziertes Ausbildungssystem. Nicht zuletzt bestimmen auch gesellschaftliche Werturteile über das Gut „berufliche Ausbildung“ darüber, wohin die Reise gehen wird. Im Wesentlichen wird es darum gehen, einen Zeitraum von einem Jahrzehnt zu überbrücken, bis die Unternehmen angesichts der demographischen Entwicklung die Nützlichkeit und Notwendigkeit des dualen Systems auf breiter Front wiederentdecken werden.“
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Papier
‚Jugendarbeitslosigkeit
in
Europa‘
(PDF,
0,19
MB)
http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-0A000F0A-DE4850B7/stiftung/Jugendarbeitslosigkeit_Europa.pdf
Quelle: Bertelsmann Stiftung, 2. September 2005