Rudolf Helfrich: Zukunft der Weiterbildung – Was kommt auf uns zu? Auszüge aus einer Rede des BBB-Vorsitzenden Rudolf Helfrich anlässliche der Fachtagung der FHM, Hannover, 7.9.2005 “ … die Zukunft der Weiterbildung ist heute unser Thema. Wenn man manchen Veröffentlichungen glaubt, ist die Frage schnell beantwortet: „Die berufliche Weiterbildung stirbt” – titelte Ende Juni die Süddeutsche Zeitung. Und die von Monat zu Monat deprimierender werdenden Zahlen aus Nürnberg scheinen diese These zu bestätigen. … Eintritte in Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung sind im August gegenüber Juli um fast 14 % zurückgegangen. Die Grafik zeigt die Teilnehmereintritte in Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung seit Anfang 2003. Sie erkennen leicht das Auf und Ab – jeweils im Herbst und im Frühjahr gab es einen Anstieg der Teilnehmereintritte – aber insgesamt ist der Rückgang überdeutlich, und man sieht auch, dass der zwischenzeitliche Anstieg im Frühjahr dieses Jahres längst nicht mehr so stark war wie in den beiden vorhergehenden Jahren, und diese Tendenz wird sich wohl auch im Herbst fortsetzen. Die zweite Grafik zeigt die Entwicklung des Teilnehmerbestandes für denselben Zeitraum, der im August mit 94.464 Teilnehmern einen neuen Tiefststand markierte. Hier sieht man deutlich, dass selbst in Monaten, in denen die Eintritte gegenüber dem Vormonat leicht anstiegen (z. B. von März auf April sowie von Juni auf Juli dieses Jahres), der Teilnehmerbestand insgesamt zurückging. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Maßnahmen im Schnitt weiter verkürzt werden, ein Umstand, auf den ich später noch einmal eingehen werde. Weiterhin fällt auf, wenn man sich die Statistik der BA genauer anschaut, dass der Teilnehmerbestand gegenüber Juli im Bereich „Qualifizierung behinderter Menschen“ überproportional, nämlich um 12,5 %, zurückgegangen ist. Doch auch andere arbeitsmarktpolitische Instrumente wurden deutlich zurückgefahren, so gab es z. B. im August gegenüber Juli 10 % weniger Teilnehmer in Trainingsmaßnahmen. Besonders eklatant ist der Rückgang der Teilnehmerzahlen im Bereich „Berufsberatung und Förderung der Berufsausbildung“. Hier lag die Zahl im August um 20 % unter der im Juli. Vor allem Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, die Berufsausbildung Benachteiligter und die berufliche Ersteingliederung behinderter Menschen waren vom Rückgang betroffen. Ich finde es erschreckend zu beobachten, wie die Einsparungen der Bundesagentur für Arbeit vor allem zu Lasten der Schwachen in unserer Gesellschaft, nämlich der Benachteiligten und Behinderten, vorgenommen werden. Werfen wir noch schnell einen Blick auf den Bereich der SGB II-Förderung. Niemand hat erwartet, dass die ARGEN und die optierenden Kommunen schon im Januar voll arbeitsfähig sein würden aber jetzt, gut acht Monate nach Beginn ihrer Arbeit, ist doch eine erste Zwischenbilanz gestattet. Schauen wir einmal – in Auszügen – auf die Bewirtschaftungsübersicht für das Haushaltsjahr 2005: Zum 31.8., also nachdem zwei Drittel des Jahres vergangen sind, ist erst etwa die Hälfte der Mittel für Eingliederungsleistungen ausgegeben worden, dahingegen bereits fast drei Viertel der zur Verfügung stehenden Verwaltungskosten. Wenn wir uns die Eingliederungsleistungen etwas genauer anschauen, fällt auf, dass z. B. die berufliche Weiterbildung mit etwa einem Drittel weit unterproportional ausgeschöpft ist, noch deutlicher die Leistungen an Behinderte mit ca. 24 % und die Förderung benachteiligter Auszubildender mit knapp 21 %. Auf der anderen Seite sind beispielsweise die Mittel für Arbeitsgelegenheiten mit etwa 75 % und Zuschüsse zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit 70 % bereits überproportional ausgeschöpft. Wie kommt das zusammen, frage ich Sie, mit Erkenntnissen, wie sie z. B. Bundesminister Clement bereits im April äußerte, dass nämlich die Mehrzahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger durch Motivation und Qualifizierung überhaupt erst beschäftigungsfähig gemacht werden muss. Unmissverständlich hatte Minister Clement am 8.4.05 im Rahmen einer Pressekonferenz zur 100-Tage-Bilanz von Hartz IV klar gemacht, dass die meisten ALG-II-Empfänger ohne ausreichende Qualifizierung keine Chance am Arbeitsmarkt haben werden. Umso wichtiger erschien es bereits im April, dass Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen der richtigen Analyse auch entsprechende Taten folgen lassen und zügig Qualifizierungsangebote auf den Weg bringen würden. Die Zahlen belegen, dass genau das bislang nicht in adäquatem Ausmaß geschehen ist. … … In diesem Moment müssten die politisch Verantwortlichen eindeutig dazu Stellung nehmen, ob der Staat zukünftig überhaupt noch aktive Arbeitsmarktpolitik realisieren will, und eindeutige Aussagen machen z. B. über die Dimension, die Schwerpunkte und nicht zuletzt über die Kosten und die Finanzierung. Die von der CDU/CSU angekündigte Erhöhung der Mehrwertsteuer wird u. a. damit begründet, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung reduziert werden sollen, was sich wiederum positiv auf die Beschäftigungsentwicklung auswirken soll. Das bedeutet aber auch, dass Mindereinnahmen von ca. 14 Milliarden Euro kompensiert werden müssen – und das wäre, wie schon erwähnt, nur bei den Ermessensleistungen der Arbeitsverwaltung möglich. Dagegen hat Frau Merkel noch vor kurzem betont, man könne die Arbeitsmarktpolitik nicht „von jetzt auf gleich“ auf Null fahren. Ein weiterer Aspekt erscheint mir hier wichtig, den der Staatssekretär im niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Gerd Hoofe (CDU), kürzlich herausstellte. Herr Hoofe betont die Wichtigkeit, die Unterqualifikation bei Langzeitarbeitslosen zu beseitigen. Die einzige Alternative dazu wäre es, den Niedriglohnsektor auszuweiten, das aber ist für ein Land wie Deutschland kaum möglich oder gewünscht. Eine stärkere Aktivierung von Bildung und Arbeit sieht er als „elementare Grundvoraussetzung für Prosperität und einen starken Sozialstaat“. Auf den Zusammenhang zwischen der Qualifikation der Beschäftigten und der Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft wird ja – zurecht – immer gerne hingewiesen. Was uns also interessiert, meine Damen und Herren, ist nicht nur die Zukunft der aktiven Arbeitsmarktpolitik insgesamt, sondern die Zukunft der beruflichen Weiterbildung als eines von vielen Instrumenten dieser Arbeitsmarktpolitik. Wie viele es sind, weiß kaum jemand zu sagen – die Zahl 76 wird manchmal genannt – , aber dass es zu viele sind, darüber sind sich die meisten Experten einig. Hier ist eine Reform und eine Verschlankung dringend erforderlich. Der Umfang der arbeitsmarktpolitschen Instrumente muss auf ein überschaubares, handhabbares Maß effektiver Maßnahmen – und zwar sowohl unter Integrationsaspekten als auch unter gesellschaftlicher Nutzenentfaltung – reduziert werden. Der Bildungsverband fordert daher, dass alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf den Prüfstand gestellt werden. Damit sind wir nicht allein. Bereits Ende 2002 hatte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, die Umsetzung der Hartz-Vorschläge zeitnah evaluieren zu lassen. Neben der Neuorganisation der Bundesagentur für Arbeit müsste auch die Weiterentwicklung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente umfassend untersucht werden. Erste belastbare Ergebnisse der Untersuchungen sollten nach drei Jahren, also Ende 2005, vorliegen. In einem Gespräch mit dem Bildungsverband am 6. Mai dieses Jahres kündigte Bundesminister Clement die Vorlage eines Evaluierungsberichtes im September dieses Jahres an. … Dafür spricht sehr viel, meine Damen und Herren: Das IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit) z. B. erkennt in einer Studie aus diesem Jahr: „Mittel- bis langfristig zeigen sowohl kurzfristige als auch langfristige Weiterbildungsprogramme einen positiven Brutto- als auch Nettoeffekt.“ (IAB-Forschungsbericht 09/2005 S. 38) Entgegen der ständigen Behauptung der Bundesagentur für Arbeit (BA), kurze Fortbildungen seien wesentlich billiger aber genau so effektiv wie längere, kommt das BA-eigene Forschungsinstitut zu der Erkenntnis: „Langfristige Qualifizierungsprogramme steigern durch eine nachhaltige Verbesserung des Humankapitals langfristig auch die Beschäftigungsrate der Teilnehmer gegenüber Nicht-Teilnehmern.“ So überrascht das Fazit des IAB-Kurzberichtes vom Juni 2005 nicht: „Bildungsförderung bleibt – langfristig – die beste Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.“ (IAB-Kurzbericht 09/2005 S. 1) Auch aus der Praxis werden diese Untersuchungsergebnisse bestätigt. So meldete die Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen am 4. Juli 2005: „71,3 Prozent der Absolventen sind nach der Qualifizierung nicht mehr arbeitslos.‘ Und auch die Süddeutsche Zeitung berichtet am 16. Juli 2005, kaum mehr als 14 Tage, nachdem sie den Tod der Weiterbildung prognostiziert hat: „Berufliche Weiterbildung in der Krise? Eine Studie belegt, dass sich Umschulungen langfristig doch lohnen.“ Experten befürchten für den Herbst einen deutlichen Rückgang der Vermittlungsquote. Dies hängt damit zusammen, dass in diesem Jahr die letzten Umschulungslehrgänge ausgelaufen sind, Maßnahmen, die ausgewiesenermaßen hohe Vermittlungsquoten vorweisen konnten. Da die BA durch ihre Geschäftspolitik dafür gesorgt hat, dass diese erfolgreiche Form der Arbeitsmarktpolitik nicht – oder nur noch in sehr geringem Maß – fortgeführt wurde, ist jetzt mit einem deutlichen Sinken der Vermittlungsquoten zu rechnen. Wenn also die Politik der richtigen Analyse auch entsprechende Taten folgen lässt, sollte die Zukunft der Weiterbildung eher positiv eingeschätzt werden. Allerdings würden wir gerne der nächsten Bundesregierung ein paar Hinweise geben, welche Punkte aus unserer Sicht ein Programm für eine zukunftsweisende Arbeitsmarktpolitik in Deutschland berücksichtigen sollte. Dieser Katalog ergibt sich zum Teil aus den gerade gemachten Überlegungen, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit: 1. Arbeitsmarktpolitik braucht eine abgesicherte Finanzierung. Wie oben ausgeführt, müssen sich die politisch Verantwortlichen grundsätzlich entscheiden, ob sich der Staat auch zukünftig arbeitsmarktpolitisch engagieren will (Zielsetzung, Art und Umfang) und sodann eine klare Finanzierungsregelung schaffen. 2. Arbeitsmarktpolitik braucht Kontinuität. In den vergangenen Jahren war der Umfang des arbeitsmarktpolitischen Engagements immer abhängig vom jeweiligen Haushalt der BA, was zu einem kontraproduktiven – zudem in der Regel prozyklischen – „Stopp-and-Go“ der Arbeitsmarktpolitik führte. Die Folgen waren u. a. Planungsunsicherheiten bei 5 allen Beteiligten, kostenintensiver Auf- und Abbau von Infrastrukturen, Arbeitsplatzunsicherheit bei den Beschäftigten. Eine effiziente, „professionelle“ Arbeitsmarktpolitik erfordert Planungssicherheit und Kontinuität. 3. Arbeitsmarktpolitische Instrumente müssen fortlaufend evaluiert werden. … 4. Der beruflichen Qualifizierung Jugendlicher und Erwachsener muss ein adäquater Stellenwert zukommen. Auch wenn Weiterbildung nicht die Arbeitslosigkeit beseitigen kann, für den Einzelnen mindert sie aber die Risiken am Arbeitsmarkt. 35 Prozent der Langzeitarbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung, bei den Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren sind es sogar mehr als drei Viertel. Das Risiko, langzeitarbeitslos zu werden, steigt ohne berufliche Qualifikation. Wer einmal als Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin den Anschluss verliert, für den ist es in besonderem Maße schwierig, wieder ins Erwerbsleben einzusteigen ein besonderes Problem für Frauen, die nach einer längeren Familienpause den Wiedereinstieg in das Berufsleben suchen. 5. Aktivitäten, die eine langfristige Integration in den Arbeitsmarkt sichern, müssen stärkere Berücksichtigung finden. Ich habe eben auf die Untersuchungsergebnisse des BA-eigenen Forschungsinstituts IAB hingewiesen, dass langfristige Qualifizierungsprogramme durch eine nachhaltige Verbesserung des Humankapitals langfristig auch die Beschäftigungsrate der Teilnehmer steigern. Solchen Erkenntnissen muss in Zukunft Rechnung getragen werden. 6. Die vorhandenen Mittel müssen effizienter umgesetzt werden, z. B. durch ein früheres Einsetzen der Förderung arbeitslos gewordener Menschen, um den Übergang in die Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden. 7. Eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik braucht eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Akteure. An der Umsetzung der Arbeitsmarktpolitik ist eine große Anzahl von Akteuren beteiligt. Ein kontinuierlicher und systematischer Austausch zwischen den Akteuren, eine gegenseitige Konsultation und Beratung sind für eine erfolgreiche praktische Umsetzung unerlässlich. 8. Arbeitsmarktpolitik darf sich nicht ausschließlich an ökonomischen Parametern orientieren. Eine allein an ökonomischen Parametern orientierte Arbeitsmarktpolitik kann auf Dauer nicht zielführend sein, sondern es müssen auch andere sozialund bildungspolitische Effekte Berücksichtigung finden (z. B. die Integration von Schwerbehinderten, Förderung benachteiligter Jugendlicher, Reintegration Langzeitarbeitsloser etc.). 9. Arbeitsmarktpolitik muss auch präventiv ansetzen. Die demografische Entwicklung kann zu einem schwerwiegenden Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in Deutschland führen. Ab 2015 rechnet das IAB wegen der zunehmenden Alterung der Bevölkerung mit einem deutlichen Rückgang des Erwerbspersonenpotentials. Um diese Entwicklung aufzufangen, muss Arbeitsmarktpolitik auch präventiv ansetzen, dies betrifft in erster Linie das duale System und die berufliche Weiterbildung, allerdings nimmt die Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der BA, Frau Prof. Jutta Allmendinger, hier auch bereits die Schulen in die Pflicht. Schnelles Handeln ist erforderlich, denn Erfolge werden erst mittelfristig sichtbar werden. Insbesondere sind an dieser Stelle auch die Untersuchungsergebnisse der Kommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ zu berücksichtigen. 10. Arbeitsmarktpolitik muss nach neuen Wegen suchen. Nur auf die sogenannten „bewährten“ Instrumente zu setzen, sollte nicht Grundlage einer zukunftsweisenden Arbeitsmarktpolitik sein. Das Suchen nach neuen Wegen und der Blick „über den Tellerrand“ müssen systematischer Bestandteil einer modernen Arbeitsmarktpolitik sein. Meine Damen und Herren, ich denke, dass die berufliche Weiterbildung als Teil einer Arbeitsmarktpolitik, die sich an solchen Kriterien orientiert, auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen kann und muss. Ob ihr diese Rolle zuteil wird, muss die politische Entwicklung der nächsten Wochen und Monate zeigen. “
Quelle: http://www.bildungsverband-online.de/helfrich-fhm-07-09-05.pdf