HERAUSFORDERUNGEN AN LEHRKRÄFTE IM PROZESS DER BERUFSBILDUNGSREFORM – eine Perspektive für lebenslanges Lernen Bernhard Buck, Mitarbeiter der Europäischen Siftung für Berufsbildung in Turin, skizziert die neuen Herausforderungen an die berufliche Bildung und die Lehrkräfte in der Europäischen Zeitschrift ‚Berufsbildung‘. Auszüge aus dem Artikel: “ Einführung Die Industriestaaten entwickeln sich zunehmend von industriegestützten zu wissensbasierten Volkswirtschaften, in denen sich die Art der Erwerbstätigkeit verändert und Arbeitsplätze in der Industrieproduktion wissens- und informationsbasierten Beschäftigungen weichen. Dieser Wandel bringt es mit sich, dass sich auch der geforderte Typus des Wissens verändert: spezifisches Wissen zur Unterstützung von Handlungsfähigkeit gewinnen gegenüber dem klassischen, vornehmlich wissenschaftsorientierten Wissen immer mehr an Bedeutung. Aus diesem Grunde befasst sich nicht nur die EU mit der Notwendigkeit, verstärkt in die allgemeine und berufliche Bildung zu investieren, sondern auch einzelne Staaten und länderübergreifende Organisationen, wie OECD, Weltbank und Unesco sehen Handlungsbedarf. … In ihrem Memorandum über lebenslanges Lernen machte die EU allen Mitgliedstaaten die langfristige Bedeutung von allgemeiner und beruflicher Bildung als Humanressource zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas in der Welt deutlich. … Die Erforschung der Auswirkungen des lebenslangen Lernens auf die Berufsbildungsreform steht zwar erst am Anfang, doch scheint sich gegenwärtig ein Durchbruch in Bezug auf die Vorstellungen vom permanenten Lernen unter sich wandelnden Bedingungen zu vollziehen. … Die Rolle der Lehrkräfte in diesem Veränderungsprozess wird als entscheidend angesehen. … Die Lehrertätigkeit ist nicht mehr auf den Unterricht beschränkt, sondern umfasst zusätzlich Aktivitäten der Schulentwicklung und Zusammenarbeit mit regionalen Akteuren und Interessengruppen. … Die neue Perspektive Für jedes Bildungssystem lautet die zentrale Aussage lebenslangen Lernens, dass der Lernende als Individuum im Mittelpunkt steht und als solches ernst genommen werden muss. Bislang wirkt Berufsbildung vornehmlich darauf hin, die Individualität des Einzelnen zu ‚vergessen‘ und berechenbares und zuverlässiges Funktionieren innerhalb eines oftmals hierarchischen Kontextes auszubilden. Deshalb ist es in der Berufsbildung so schwierig, lebenslanges Lernen als Leitmotiv zu integrieren. Seit einiger Zeit gibt es jedoch Versuche, ein neues Konzept für die Berufsbildung zu entwickeln, bei dem der Lernende eher als „entrepreneur‘ gesehen wird, als jemand, der seine Vorstellungen eigenständig verfolgt und bestrebt ist, sie erfolgreich umzusetzen. Im Gegensatz zum herkömmlichen Konzept der Berufsbildung baut das Konzept des lebenslangen Lernens auf dem individuellen Potenzial des Lernenden auf. … Anmerkung zum Kompetenzbegriff Im Zusammenhang mit der Neuausrichtung der Berufsbildung gewinnt auch in Partnerländern der EU der Begriff der Kompetenz an Bedeutung. Die Lernenden müssen innerhalb ihres Umfelds Fähigkeiten entwickeln und Gelegenheiten erhalten, ihre eigene Entwicklung aktiv zu steuern. Kompetenz meint die individuelle Fähigkeit, in unsicheren und komplexen Situationen innerhalb eines vorgegebenen Kontextes agieren zu können. … Eigenverantwortung der berufsbildenden Einrichtung Die Fähigkeit des Berufsbildungssystems, eine entscheidende Rolle im Prozess des lebenslangen Lernens des Individuums zu spielen, hängt davon ab, ob sich die Berufsbildungseinrichtungen auf Veränderungen einstellen, ob sie eine zentrale Rolle in ihrer Region einnehmen und als dynamische Organisationen einem breiten Interessenspektrum und einem großen Kundenkreis dienen können. Entscheidend ist dabei zunächst die Frage, ob die Lehrkräfte bereit und in der Lage sind, komplexe Reformen in ihre tägliche Arbeit zu integrieren. Eine wesentliche Herausforderung für die Reform des Berufsbildungssystems ist deshalb, einen Ansatz zu wählen, bei dem sich die Reform des Berufsbildungssystems und die Entwicklung der Humanressourcen von Lehrern wechselseitig ergänzen. … Als zweite Voraussetzung für eine am Paradigma des lebenslangen Lernens ausgerichtete Reform der Berufsbildung muss gelten, dass die politischen Entscheidungsträger den berufsbildenden Einrichtungen ein höheres Maß an Eigenverantwortung und Selbstorganisation übertragen. Dies kann langfristig nur erfolgreich sein, wenn die Hauptzuständigkeit für Details der Berufsbildungsprozesse nicht zentral geregelt, sondern mehr und mehr an die direkt betroffenen Berufsbildungseinrichtungen, ihre Leiter, ihr Lehrpersonal und die Lernenden übertragen wird. Diese müssen sich vom Prinzip der ‚Übernahme von Verantwortung‘ leiten lassen, um so, ohne komplizierte Verwaltungsverfahren beachten zu müssen, möglichst zügig und effektiv auftretenden Problemen und Herausforderungen begegnen zu können. Die Zentralverwaltung muss sich deshalb von der derzeitigen Praxis lösen, Bildungsgänge im Voraus exakt zu planen und die Finanzierung der Berufsbildungseinrichtungen bis ins kleinste Detail zu organisieren. Stattdessen sollte sie sich, was den Lehrplan anbelangt, darauf beschränken, Rahmenbedingungen zu setzen und die Finanzmittel als Pauschale nach einem zuvor festgelegten Schlüssel bereitzustellen. Der Aufbau des Lehrplans und die Verwendung der Mittel sollten überwiegend den Einrichtungen selbst überlassen bleiben. Diese werden ihrerseits die größere Selbstständigkeit in ihren internen wie auch externen Beziehungen sinnvoll nutzen müssen. Unabhängigkeit in den externen Beziehungen Die Entwicklung externer Beziehungen von Berufsbildungseinrichtungen wird die traditionelle Trennung der Funktionen von Schule und Arbeitswelt infrage stellen. Gegenwärtig entstehen in den Mitgliedsstaaten der EU in wachsendem Maße Modelle, die nicht nur die Lernpartnerschaft zwischen Berufsbildungseinrichtung und Unternehmen auf bilateraler Basis betonen, sondern auf die Förderung einer Unternehmenskultur in der Region abzielen, wobei Berufsbildungseinrichtungen und Universitäten, Zentren für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), Arbeitsvermittlungen, Industrie- und Handelskammern usw. zu einem funktionierenden Netz verknüpft werden. Um diesen Ansatz in die Berufsbildung der EU-Partnerländer zu integrieren, müssten berufsbildende Einrichtungen ihre frühere Funktion als reine Ausbildungsstätten aufgeben und sich zu ‚regionalen Kompetenzzentren‘ entwickeln, die verschiedene Typen von Lernenden in allen Phasen ihres Arbeitslebens begleiten (2). Neben der verbindlich vorgeschriebenen berufsbezogenen Ausbildung Jugendlicher besäßen diese Zentren einen Anteil am Markt für private Anbieter. Sie würden Einzelpersonen und Unternehmen Beratung, Entwicklung sowie berufliche Fort- und Weiterbildung zur Verfügung stellen. Die Zentren wären eine Hybridform zwischen öffentlichen und privaten Anbietern, zwischen formalem und nichtformalem Lernen, zwischen Jugend- und Erwachsenenbildung Angebote würden sich auf Individuen genauso beziehen wie auf KMU und andere Unternehmen, sie würden somit sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber betreffen. … Reform von Bildungspolitik und Schulpraxis Abschließend soll auf die schwierigen Aufgaben bei der Implementation des eigentlichen Reformprozesses eingegangen werden. Die Implementationsstrategie entsprechend der zentralen Botschaft lebenslangen Lernens zu formulieren (siehe Kapitel 2), trägt zum Verständnis der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Politik und Praxis der Berufsbildungsreform bei. In vielen Partnerländern der EU wird die Ausformulierung von Berufsbildungspolitik als eine prestigeträchtige Aufgabe angesehen und ist auf der politischen Ebene entsprechend hoch angesiedelt. Im Gegensatz dazu hat die Implementation dieser Politik ein sehr viel geringeres Ansehen. Diese Tatsache wird durch das Vorurteil zementiert, dass Lehrer sich durch Beharrungsvermögen und Widerstand gegen Veränderungen auszeichneten und deshalb Neuerungen nur verwirklicht würden, wenn die Entscheidungen in der Hand von Entscheidungsträgern lägen. … Eine politisch bestimmte Reform der Berufsbildung in Partnerländern der EU zielt in der Regel auf die Modernisierung der organisatorischen Rahmenbedingungen des Berufsbildungssysterns und auf die Anpassung an die Anforderungen des Arbeitsmarkts ab. Die entscheidende Frage für politische Entscheidungsträger lautet deshalb, Wege zu finden, dies zu erreichen. Für die meisten von ihnen liegt die Antwort in einer kohärenteren und ehrgeizigeren Politik. Sie betrachten die staatliche Verwaltung als ihr wichtigstes Instrument und konzentrieren sich deshalb im Wesentlichen auf zwei Bereiche: die Schaffung neuer politischer Instrumente, die sie für die Durchsetzung von Reformen für erforderlich halten, und den Abbau überkommener bürokratischer Vorschriften sowie inkohärenter Verwaltungsmaßnahmen, die die Reform behindern. Falls eine solche Reform der beruflichen Bildung auch das Ziel verfolgt, Lehr- und Lernprozesse zu verändern, so beziehen sich die politischen Instrumente in der Regel auf Maßnahmen wie: Berufsbildungsordnungen, die auf klare und nützliche Lernergebnisse für alle Lernenden gerichtet sind, sowie eine Lehrerweiterbildung, die die Durchsetzung der neuen Ordnungen und entsprechender Bewertungsverfahren gewährleisten sollen. Eine politisch bestimmte Reform tendiert dazu, Bildungseinrichtungen als „Maschinen‘ anzusehen, dazu bestimmt, ein Produkt zu erzielen, und nicht als menschliche Organisationen mit eigenen strukturellen und kulturellen Regeln. Politische Entscheidungsträger sehen Bildungseinrichtungen durch relativ homogene Aktivitäten bestimmt, für die ein kleines, leicht zugängliches Maßnahmenbündel ausreicht, die Reform zum Erfolg zu führen. Dies bleibt allerdings eine Mutmaßung, da es kaum Belege für eine direkte und wirksame Verbindung zwischen staatlicher Politik und institutioneller Praxis in den Bildungseinrichtungen gibt. … Im Zusammenhang mit Schulreformen ist es von entscheidender Bedeutung, ob der Leiter und die Lehrkräfte das erforderliche Engagement für Veränderungen und für die Einbindung komplexer Reformmaßnahmen in ihre tägliche Arbeit mitbringen, die innerhalb und außerhalb der Berufsbildungseinrichtung anstehen. Sehr viel hängt auch davon ab, ob sie bei der Integration von Reformen, die sich unmittelbar auf ihr berufliches und persönliches Leben auswirken, unterstützt werden. Politikorientierte Reform vernachlässigt diesen Aspekt tendenziell … die … Politik … sieht die Reform eines Berufsbildungssystems als ein Bündel technischer Anforderungen, wie die Einführung eines nationalen Berufsbildungsgesetzes, Berufsbildungsordnungen, Finanzierungsprogramme usw. Gemäß der traditionellen Aufgabe von Politik ist das Reformmanagement auf nationaler Ebene überwiegend politischen Entscheidungsträgern verpflichteten Spezialisten vorbehalten, weshalb schwerpunktmäßig einheitliche Verfahren angewandt werden. Es geht darum, die Einhaltung zentral festgelegter Normen und Vorschriften sicherzustellen. Eine andere Sicht auf die Funktion des Managements im Prozess der Berufsbildungsreform hat das Human Resource Management. Reformen werden aus dem Blickwinkel notwendiger sozialer Beziehungen betrachtet, um Erfolg versprechende soziale Fähigkeiten innerhalb der Reform-Community zu entwickeln und zu stabilisieren. Ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden, dem politischen und dem Human-Resource-Ansatz, herzustellen, ist das zentrale Anliegen in der Debatte um die ‚richtige‘ Reform. Der Human-Resource-Ansatz ist auf aktive Teilnahme der Betroffenen ausgerichtet, indem er Verantwortlichkeit und Befugnis für Veränderungen auf die Ebene überträgt, die verändert werden muss: die jeweilige Organisation. … Zusammenfassung … gibt es noch viele offene Fragen zum gegenwärtigen Prozess der Implementation. Die Aspekte des neuen Paradigmas lebenslangen Lernens im Prozess der Berufsbildungsreform zu verstehen, ist wichtig, wenn Maßnahmen entwickelt werden sollen, die den EU-Partnerländern bei der Errichtung moderner Berufsbildungssysteme helfen können. … “
Quelle: Europäische Zeitschrift ‚Berufsbildung‘ Nr. 36