LEBENSKOMPETENZ IST GEFRAGT. Auszüge aus einem Vortrag von Prof. Dr. Münchmeier (Freie Universität Berlin) im Rahmen einer Veranstaltung des Verbands der Kolpinghäuser: “ Welche Konzepte von Bildung und Erziehung brauchen wir in der Jugendsozialarbeit? 1. Aktuelle Bildungsdiskurse – worum geht es? Ein vielfältiger Bildungsdiskurs bewegt die Gemüter in Deutschland. Versucht man, zusammenzufassen, kann man wohl drei Stoßrichtungen des Diskurses unterscheiden: • Ein Diskurs kreist um die Frage nach dem „output“ des deutschen Bildungssystems wie er sich in den Schülerleistungen (Noten) spiegelt. In diesem Zusammenhang wird die Verbesserung der Qualität des Bildungssystems mit der Erhöhung der Leistungen gleichgesetzt. • Eine zweite Debatte beschäftigt sich mit Fragen der Schulorganisation und mit Strukturfragen des Bildungssystems. Hier geht es v.a. um die Themen zu frühe Trennung der Bildungswege, Ganztagsschule, lebenslanges Lernen. • Eine vor allem unter Experten und Bildungswissenschaftlern geführte Diskussion befasst sich mit inhaltlichen Fragen, insbesondere mit dem Problem, welches Verständnis von Bildung den heutigen Voraussetzungen angemessen und tragfähig ist. In diesem Zusammenhang fallen die wichtigen Stichworte „Bildung als Selbstbildung“ und „Bildung als zentrale Ressource der Lebensführung“ oder „Bildung als Lebenskompetenz“. 2. Bildung tut Not. Bildung als zentrale Ressource der Lebensbewältigung … Ungleiche Bildungsvoraussetzungen spielen nach wie vor die entscheidende Rolle bei der Entwicklung ungleicher Einstellungen, Werthaltungen und Optionen für Lebensplanung und Lebensführung. – junge Menschen mit guten Bildungsvoraussetzungen blicken optimistischer in die Zukunft, weil sie ein höheres Zutrauen in die eigene Wirksamkeit besitzen sie trauen sich eher zu, ihr Leben trotz aller wahrgenommenen Schwierigkeiten zu meistern … – junge Menschen mit guten Bildungsvoraussetzungen sind offener für andere, haben einen größeren Freundeskreis, dichtere soziale Kontakte und Netzwerke sie sind deshalb besser sozial integriert und können sozialen Rückhalt für ihre Bewältigungsaufgaben mobilisieren – sie sind deshalb weniger ausländerfeindlich, toleranter, sozial aufgeschlossener. … 4. Bildung ist mehr. Für ein weit gefasstes Bildungsverständnis … Bildung im Sinne einer zentralen Ressource der Lebensführung meint nicht einfach Wissenserwerb, das Lernen von Bildungsgütern. Bildung im hier gemeinten Sinn heißt sich bilden. Bildung ist immer ein Prozess des sich bildenden Subjektes, ist Selbstbildung. Dieses Subjekt muss im Zentrum der Betrachtung stehen, wenn es um Bildung geht. Bildung ist also nicht ein Katalog von kumuliertem Wissens, … Bildung ist kein Gut und keine Ware. Bildung ist ein Prozess. … Diese Argumente wenden sich gegen drei Einseitigkeiten bzw. Verkürzungen der gegenwärtigen Diskussion und fordern aus der Perspektive der Jugendhilfe einen angemessenen, umfassenden Bildungsbegriff … a) Bildung ist mehr als Wissenserwerb … Problematisch ist, dass in vielen Diskussionen Bildungsprozesse vordergründig unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweckmäßigkeit und Verwertbarkeit konzipiert, bewertet und durchgeführt werden. Deutlich wird dies vor allem in der einseitigen Betonung der notwendigen Qualifikationserfordernisse der Arbeitskräfte in einer sich globalisierenden Wirtschaft. … Bildung ist aber mehr als Wissenserwerb sie ist Ressource der Lebensführung und Lebensbewältigung, der Persönlichkeitsentwicklung, Grundlage für Teilhabe an der Gesellschaft, der Politik und Kultur . … b) Bildung ist mehr als Schulbildung … Nicht alles, was Bildung angeht kann im Kontext von Schule eingelöst werden. Zur Landschaft der Bildung gehören Institutionen, Einrichtungen, aber auch informelle Zusammenhänge und Gemeinschaften. Im internationalen Sprachgebrauch unterscheidet man: – Formelle, – nicht-formelle, – informelle Bildung. … c) Bildungsqualität ist mehr als individuelle Leistung Bildung ist nicht reduzierbar auf eine individuelle Leistung. Gerade PISA hat gezeigt: Lernleistungen sind abhängig von der Qualität des Aufwachsens und der sozialen Umwelt. Dies fordert geradezu die Kooperation von Bildungspolitik und Jugendpolitik heraus. Bildungspolitik greift zu kurz, wenn sie nur in formelle Bildung investiert und die anderen Bereiche übergeht. … d) Bildung beginnt von Anfang an … 5. Bildung meint „ganzheitliche“ Entfaltung … Die sehr starke Betonung des Wissens, wie sie in manchen Diskussionen rund um das Stichwort Wissensgesellschaft geführt wird, verkürzt, worum es bei Bildung eigentlich geht. Wissen ist nur ein, wenn auch nicht unerheblicher Teil von Bildung. Im Bildungsprozess entwickeln sich biographische Kompetenzen, kognitive, soziale und moralische Fähigkeiten idealerweise so, dass sie das Subjekt sowohl zu aktueller Lebensbewältigung als auch zu fortlaufender Lebensgestaltung vor dem Hintergrund sich ändernder Lebensaufgaben im Lebenslauf und im gesellschaftlichen Wandel befähigen. 6. Zukunftsfähige Bildung – auch für die Jugendhilfeklientel? … angesichts der Herausforderung sich für eine unwägbare Zukunft und die in ihr sich stellenden „Aufgaben der alltäglichen Lebensbewältigung“ zu rüsten, haben die Kinder und Jugendlichen im Bereich der Jugendhilfe, besonders der Hilfen zur Erziehung, größere Hürden und Schwierigkeiten vor sich, um mit der Entwicklung Schritt halten, Chancen ergreifen und ein auskömmliches und selbstbestimmtes Leben führen zu können. Die ohnehin bereits schwierige Frage nach „zukunftsfester“ Bildung wird im Bereich von Benachteiligung und Beeinträchtigung noch schwieriger und offener. 7. Welche Angebote können Jugendhilfe und Sozialpädagogik machen? … Vieles wurde ausprobiert, der Mitteleinsatz – auch der finanzielle – wurde kontinuierlich ausgeweitet, aber Erfolge sind wenig feststellbar. Im Gegenteil: die Abwärtsspirale, in die sich benachteiligte Kinder und Jugendliche zu leicht verfangen, dreht sich heute schneller als zuvor. Bedrückenderweise kommt noch hinzu: die von den besten Intentionen bestimmten sozialpädagogischen Maßnahmen bewirken keine Integration und Inklusionschancen, sondern bewirken oft mehr Desintegration und Marginalisierung. Das Wort von der „Maßnahmenkarriere“ wird für die Betroffenen zu einem biographischen Problem. In den Strudel der Marginalisierung geraten heute bereits junge Menschen, die früher vermutlich ohne Probleme ihren Platz im Erwerbsleben und damit in der Gesellschaft gefunden hätten es sind die Behinderten, die sozial Benachteiligten, solche die besondere Belastungen zu verkraften hatten. Je rigoroser die Qualifikationsanforderungen der Berufswelt steigen, je dringender Bereitschaft zur Mobilität und Unabhängigkeit erwartet wird, je höher die erforderlichen sozialen Kompetenzen, desto zahlreicher werden die, die an solchen Hürden hängen bleiben. Das ist die „neue Klientel“ der Jugendsozialarbeit besonders der Jugendberufshilfe. Sie sind dreifach benachteiligt: besonders betroffen von den Rationalisierungsmaßnahmen der Wirtschaft (Abbau von Einfacharbeitsplätzen), weniger reich an Ressourcen, Unterstützung und finanziellen Spielräumen, werden sie zu den Hauptbetroffenen der Krise der Arbeitsgesellschaft. Obwohl sich die Frage nach zukunftsfester Bildung sozialpädagogisch nicht stringent und konkret beantworten lässt, kann man … folgende Schlussfolgerungen ziehen: • Immer wieder zeigt sich die Versuchung, die Schwierigkeiten benachteiligter junger Menschen, sich auf dem Erwerbsarbeitsmarkt zu integrieren, dadurch lösen zu wollen, dass man ihnen Qualifizierungsmöglichkeiten („Maßnahmen“) für sog. einfache Tätigkeiten anbietet, die geringe Kompetenzen und Qualifikationen verlangen. Eine solche Strategie ist riskant. Erstens wurden und werden die meisten Arbeitsplätze gerade in diesem Bereich einfacher und ungelernter Arbeit abgebaut. … Zweitens findet sich gerade hier der gravierendste Sinnverlust von Arbeitstätigkeiten, so dass Selbstwirksamkeitsüberzeugungen durch solche Arbeitserfahrungen mehr zerstört und gelähmt als gestärkt werden. Das aber hat wiederum Folgen für die allgemeine Lebenskompetenz. • Eine Gestaltung der Arbeitsvollzüge wäre notwendig, die nicht einfach … Kompetenzen nutzt und verbraucht, sondern die durch Arbeit Kompetenzen … entwickelt und erhält. Man könnte etwas emphatisch von der Notwendigkeit einer „Sozialpädagogisierung“ der Arbeitswelt sprechen. Die alte Dichotomisierung zwischen der Bildungsphase (Jugend) als Vorbereitungs- und Qualifikationserwerbsphase und der Arbeitsphase (Erwachsenenalter) als Phase der Anwendung und Nutzung der erworbenen Qualifikationen stimmt ja schon lange nicht mehr … Notwendig wäre hier die Verstärkung von Forschung über die „Bildungswirkungen“ bestimmten Arrangements und Settings von Erwerbsarbeit, um das Verhältnis von Arbeit und Bildung neu bestimmen zu können. • Es reichen alle Programme nicht aus, die nur oder hauptsächlich bei den Betroffenen ansetzen, also in einem schlechten Sinn individualistisch verfahren. Die auf die Personen ausgerichteten Förder- und Lernstrategien kompensatorischer Sozialpädagogik fruchten nur dann, wenn sie die Gestaltung des sozialen Umfelds, die Beeinflussung und Qualifizierung der Lebensumstände, der Gelegenheitsstrukturen mit einbeziehen … Subjektorientierung … und Sozialraumorientierung gehören deshalb untrennbar zusammen. “
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Quelle: Verband der Kolpinghäuser