Zur Lage der Kinder in Deutschland: Politik für Kinder als Zukunftsgestaltung – UNICEF Vergleichsstudie

BEDEUTUNG DES KINDESWOHLS FÜR DIE ZUKUNFT DER DEUTSCHEN GESELLSCHAFT UNICEF veröffentlichte eine Studie von Hans Bertram zur Lage der Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Diese Studie ist als Teilstudie einer Überblick gebenden internationalen Vergleichsuntersuchung zu verstehen. Darin wurden die Lagen der Kinder und Jugendlichen in wohlhabenden (Industrie)Ländern untersucht. Auszüge aus der Studie: “ Der internationale Vergleich von UNICEF wird in dieser deutschen Teilstudie zum Ausgangspunkt für einen Vergleich auf der Ebene der Bundesländer. Die Analyse zeigt anhand von sechs Dimensionen, Materielle Lage, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, die Beziehungen zu Eltern und Freunden, die Risiken im Alltag und das subjektive Wohlbefinden von Kindern, dass sich die Situation von Kindern zwischen den einzelnen Bundesländern teilweise stark unterscheidet. … Es wird klar, dass die vorgenommene Differenzierung die Lebenslage und Lebenssituation … umfassender und präziser beschreibt als die Konzentration nur auf die materielle Lebenslage oder die schulische Situation. Aus dem Vergleich der sechs Dimensionen lassen sich politische Anregungen und Hinweise für Länder und Gemeinden ableiten, wo und in welcher Weise sich … Lebensbedingungen in den jeweiligen regionalen Kontexten verbessern lassen. Besonders deutlich macht dieser Vergleich aber zudem, dass Deutschland nicht über alle Daten zur kindlichen Entwicklung verfügt, die einen Ländervergleich in allen sechs Dimensionen ermöglichen. Diese Informationen sind jedoch notwendig, um die gesellschaftlichen Zukunftschancen eines Landes durch seine Kinder angemessen bewerten zu können. 5. REGIONALE DIFFERENZIERUNGEN ALS URSACHE FÜR DAS MITTELMAß … Viele dieser Differenzierungen in den … Lebensverhältnissen lassen sich möglicherweise auch durch Anstrengung der Bundesländer und der Kommunen verringern. … Manche Probleme zeigen auch die Grenzen einer wesentlich föderal strukturierten Aufgabenteilung. Denn in einzelnen Bundesländern kumulieren verschiedene Entwicklungen dermaßen, dass die Leistungsfähigkeit und Leistungskraft des jeweiligen Bundeslandes völlig überfordert ist sicherzustellen, dass die verlässliche Lebensumwelt von Kindern in diesem Bundesland den Kindern die gleichen Lebenschancen ermöglicht wie in anderen Bundesländern. … 5.1 Bildung – Erziehung – Betreuung Die internationalen PISA-Studien haben die bildungspolitische Diskussion in Deutschland nicht nur erheblich beeinflusst, sondern auch zu einer sehr positiven Entwicklung beigetragen. Denn mit ihrer ausdifferenzierten Analyse schulischer Kompetenzen von Jugendlichen im Alter von 15 Jahren haben sie auf der einen Seite den Leistungsstand deutscher Kinder im internationalen Vergleich gezeigt und zudem durch die Ausweitung auf eine ausdifferenzierte Analyse der einzelnen Bundesländern die Möglichkeit geschaffen, innerhalb Deutschlands auch die regionalen Variationen und Unterschiede in der Leistungsfähigkeit von Schülern herausarbeiten. … Bei … nationalen Ergebnissen wird aber verdeckt, dass ein Bundesland wie Bayern in den drei PISA-Kompetenzbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften die meisten anderen internationalen Vergleichsländer hinter sich lässt und bezogen auf die Vergleichsländer der UNICEF-Studie direkt hinter Finnland platziert ist … Da aber auch die anderen Indikatoren, die UNICEF heranzieht, um das Wohlergehen der Kinder im Bildungsbereich zu vergleichen, ähnliche Differenzen aufweisen, stellt sich die Frage, ob diese Unterschiede tatsächlich allein auf die Institution Schule zurückgeführt werden können. Während in Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg knapp 3 Prozent der 15- bis 19-Jährigen weder zur Schule gehen noch beschäftigt sind, liegt dieser Anteil in Berlin, Bremen oder Hamburg zwischen 5 und 6 Prozent. … Nach den UNICEF-Daten weisen zudem deutsche Schüler und Schülerinnen im Alter von 15 Jahren auch ein sehr geringes Anspruchsniveau für den erwarteten Schulabschluss auf und bewegen sich hier im untersten Drittel. Im Wissen, wie wichtig die Selbsteinschätzung für die Leistungen von Schülern ist, stellt sich auch hier die Frage, wer deutsche Kinder so demotiviert, dass sie nur wenig von sich erwarten. … Weder die PISA-Autoren noch der jetzt vorliegende Bildungsbericht beschäftigen sich mit der außerfamiliären und außerschulischen Lebensumwelt von Kindern. … Eine zentrale Frage für eine kinderfreundliche und zukunftsfähige deutsche Gesellschaft wird die Integration der Kinder nichtdeutscher Herkunft sein, insbesondere aus dem nichteuropäischen Ausland. … In West-Berlin, Hamburg und Bremen kommen 22 bzw. 20 resp. 16 Prozent der 15- bis 19-Jährigen aus Elternhäusern mit nichtdeutschem Hintergrund, in Bayern dagegen nur etwas über 9 Prozent. In den meisten Bundesländern ist der Anteil der Kinder nichtdeutscher Herkunft, die ohne Abschluss die Schule verlassen, viel höher, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. So liegt der Anteil dieser Kinder in Hessen in dieser Altersgruppe bei etwa 15 Prozent, aber 30 Prozent derjenigen, die ohne Abschluss die Schule verlassen, haben einen solchen Hintergrund. Nach der OECD-Auswertung zur Situation von Migrantenkindern fallen die Ergebnisse für Deutschland besonders problematisch aus. … kommt allerdings auch zum Ausdruck, dass insbesondere in Deutschland die Differenz beim Bildungsniveau der Eltern mit nichtdeutschem und deutschem Hintergrund besonders ausgeprägt ist. Das ist Ergebnis einer bestimmten Einwanderungspolitik … Ein Schulsystem kann solche Entscheidungen, die vor 30 Jahren getroffen wurden, natürlich nicht ausgleichen. Dabei stellt sich aber die Frage, ob die großen Variationen bei den Leistungen im Schulsystem in Deutschland und die außerordentlich geringe Integration von Kindern mit nichtdeutschem Hintergrund auch damit zu tun haben, dass wir in unserem Bildungssystem wesentlich eine Institution zur Vermittlung von Leistungskompetenzen sehen, während alle anderen Aspekte der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen an die Familie delegiert werden. … Die Schule bildet, aber die Betreuung und die Erziehung der Kinder ist nach wie vor Aufgabe der Eltern. … In einer Gesellschaft mit einer heterogenen Bevölkerung mit ganz unterschiedlichem kulturellem Hintergrund ist es eine solche Vorstellung jedoch nicht nur problematisch, sondern widerspricht geradezu dem skizzierten Ansatz eines sozial-ökologischen Entwicklungsmodells für Kinder und Jugendliche. … Die kindliche Entwicklung betrifft als Prozess die gesamte kindliche Persönlichkeit, und die Fragmentierung zwischen Betreuung, Erziehung und Bildung ist kein angemessenes Modell zur Zukunftsgestaltung. … 5.2 Gesundheit und Risiken … Die Gesundheitssituation in den einzelnen Bundesländern kann nicht gegeneinander gewichtet werden, doch scheinen die Risiken für Kinder, auf die Welt zu kommen und gesund aufzuwachsen, in Deutschland regional sehr unterschiedlich verteilt zu sein. … Obwohl Deutschland … für das Gesundheitssystem insgesamt wesentlich mehr ausgibt als etwa Dänemark oder Schweden, die im Bereich der kindlichen Gesundheit den 4. und 1. Platz einnehmen, stellt sich die Frage, warum das dortige Niveau weder in einzelnen Bundesländern, noch überall in Deutschland zu erreichen ist. Mit großer Selbstverständlichkeit werden die steigenden Gesundheitskosten mit dem medizinischen Fortschritt und dem steigenden Lebensalter der Bevölkerung begründet. … Doch Daten zum Gesundheitsverhalten von Kindern, … sind auf Länderebene gar nicht verfügbar. … ebenso wenig wie der Alkohol- oder Drogenkonsum von 15-Jährigen oder ihr Sexualverhalten. Nun könnte man das für unerheblich halten, wenn sich Jugendliche hier in Deutschland im Durchschnitt kaum voneinander unterscheiden. Doch zeigen einige wenige Studien (Kraus etal., 2004) zum Risikoverhalten von Schülern in ausgewählten Bundesländern erhebliche Variationen bei diesen Indikatoren. So geben 8 Prozent der 15- bis 16-jährigen Brandenburger an, in den letzten 30 Tagen zweimal betrunken gewesen zu sein, in Bayern waren es hingegen fast 13 Prozent. Der Cannabiskonsum wird in Berlin von 15- bis 16- Jährigen von 17 Prozent angegeben gegenüber etwa 12 Prozent in Brandenburg in Mecklenburg-Vorpommern sagen fast 50 Prozent der 15- bis 16-Jährigen, regelmäßig zu rauchen, in Bayern wiederum nur 30 Prozent (Tabellen im Anhang). Diese Zahlen können hier nur unkommentiert mitgeteilt werden als Hinweis darauf, dass für Kinder und Jugendliche in Deutschland offenbar regional sehr unterschiedliche Risiken bestehen. Wenn es darum geht, das schlechte Abschneiden Deutschlands im internationalen Vergleich zu verbessern … dann gelingt das nur durch eine gezielte Prävention entsprechend der regionalen Risikoprofile diese gibt es bisher aber nicht. … ist festzustellen, dass sich die Erfahrung von Gewalt und Gewalttätigkeit, obwohl in der Öffentlichkeit immer wieder intensiv diskutiert, bundesweit in den alten Bundesländern auf keine verlässlichen Daten stützen kann. … Nach den Tatverdächtigenzahlen deutscher Jugendlicher in der polizeilichen Kriminalstatistik werden in Berlin auf 100.000 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren über 10.000 als tatverdächtig gezählt gegenüber 5.800 in Bayern und nur 5.100 in Hessen. Diese Unterschiede sind nicht als eine Stadt-Land-Differenz zu interpretieren. Denn Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg liegen mit Tatverdächtigenzahlen zwischen 8.300 und 8.800 nur wenig hinter den Stadtstaaten und unterscheiden sich deutlich von Bayern, Hessen und Baden-Württemberg. Sachsen-Anhalt liegt als Flächenland dagegen hinter Berlin an 2. Stelle. Nun sagen Tatverdächtigenzahlen nicht unbedingt etwas über das tatsächliche abweichende und kriminelle Verhalten von Jugendlichen aus, sondern dokumentieren zunächst nur die Aufmerksamkeit und Aktivität der Polizei. … Zum anderen ist denkbar, dass auf Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen in diesem Alter unterschiedlich reagiert wird. Die doch erheblichen Variationen zwischen den Bundesländern können jedoch theoretisch von großer Bedeutung sein. Denn die sozialökologische Forschung hat nachdrücklich gezeigt, dass verschiedene Risikovariablen in ihrem Effekt auf die kindliche Entwicklung einzeln eher schwach ausgeprägt sind, hingegen führt die Kumulation von mehreren dieser Variablen dazu, dass die schwachen Effekte der Einzelvariablen bei gemeinsamem Auftreten die Lebenschancen und das Wohlbefinden der Kinder erheblich beeinträchtigen. … Inzwischen haben einzelne Kommunen höchst differenzierte Systeme der Sozialberichterstattung entwickelt, die jedoch immer noch der eingangs kritisierten fragmentierten Institutionenlogik folgen. Nicht das Kindeswohl steht im Mittelpunkt, sondern die Leistungsfähigkeit und Effizienz der jeweiligen Institution. … Da verschiedene Bundesministerien eine Reihe von Studien finanzieren, wäre – im Sinne des Nationalen Aktionsplans – eine Integration der verschiedenen Ansätze relativ leicht zu erreichen, und das versprochene Monitoring zur Verwirklichung der Kinderrechte hätte hier eine fundierte und solide Basis. 5.3 Ökonomische Sicherheit und kindliches Wohlbefinden … Das am Kindeswohl orientierte Modell materiellen Wohlbefindens von UNICEF unterscheidet sich jedoch von vielen Diskussionen in Deutschland. Häufig wird hier die ökonomische Benachteiligung von Kindern als Ursache für viele andere Beeinträchtigungen der Lebenschancen von Kindern interpretiert, so dass der Eindruck entsteht, die wichtigste Ursache der Benachteiligung von Kindern in hoch differenzierten Gesellschaften sei die ökonomische Deprivation. Logischerweise folgt daraus als politische Konsequenz die Forderung nach weiteren ökonomischen Transferleistungen. Das Modell von UNICEF geht jedoch in seiner Orientierung an Bronfenbrenners sozial-ökologischem Modell davon aus, dass erst durch eine Kumulation von einzelnen Dimensionen im positiven wie negativen Sinne entsprechende Formen von Benachteiligung entstehen. Diese sozial-ökologischen Ansätze sehen in finanziellen Transfers lediglich einen Aspekt in einem Policy Mix, der auf spezifische Kumulationen benachteiligender Faktoren reagieren muss. … Für die relative Kinderarmut ist daher davon auszugehen, dass die relative Gefährdung von Kindern, nicht an der materiellen Entwicklung der Gesellschaft partizipieren zu können, vor allem dann festzustellen ist, wenn sie in den großen urbanen Zentren der Republik aufwachsen. Unabhängig von der gewählten Berechnungsmethode und unabhängig vom gewählten Maßstab sind Kinder in Bremen, Hamburg und Berlin in hohem Maße armutsgefährdet, während selbst auf der Basis des Bundesdurchschnitts arme Bundesländer wie Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern besser dastehen. … 6.2 Nachhaltige Politik für Kinder als Zukunftspolitik einer Gesellschaft Eine nachhaltige Politik für Kinder hat zum Ziel, die Lebensbedingungen von Kindern so zu gestalten, dass diese Kinder als Jugendliche und junge Erwachsene ihr Leben und ihre Lebensziele auf der Basis ihrer eigenen Fähigkeiten und eigenen Kompetenzen selbstständig entwickeln und entscheiden können. … Die öffentliche Debatte in Deutschland betont diesen Gedanken gegenwärtig eher selten, weil demgegenüber der Sinn von Kindern heute in der politischen Argumentation häufig mit ihrer Nützlichkeit für die Sicherung der sozialen Sicherungssysteme oder die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft begründet wird. … Im Gegensatz zu dieser Defizitperspektive hebt der UNICEF-Ansatz viel stärker auf die Ressourcen und die Chancen kindlicher Entwicklungen ab. Daher spielen das kindliche Wohlbefinden und die subjektive Wahrnehmung der Lebenswelt durch die Kinder in diesem Ansatz eine zentrale Rolle. Denn nur wenn die Kinder selbst an ihre eigene Zukunft glauben und die Hoffnung haben können, dass sie ihre Zukunft auch selbst gestalten können, können sie die Chancen, die ihnen geboten werden, und die Fähigkeiten, die in ihnen stecken, auch so entwickeln, dass sie als Erwachsene eigenständig und selbstständig ihr Leben gestalten können. Ein solches ressourcentheoretisches Konzept übersieht keinesfalls die Probleme und Benachteiligungen von Kindern auch in wohlhabenden Gesellschaften, thematisiert aber stärker die Frage, wie auch in möglicherweise sehr schwierigen Lebensumständen noch Ressourcen mobilisiert werden können, damit die Kinder diese Chancen, die ihr Bürgerrecht sind, auch wahrnehmen und sich entsprechend entwickeln können. Unter einer solchen ressourcentheoretischen Perspektive ist die materielle Benachteiligung von Kindern in manchen Regionen der Bundesrepublik weder gutzuheißen noch hinzunehmen. Aber statt wie häufig in der deutschen Debatte gefordert einfach die ökonomischen Unterschiede auszugleichen, wird sich ein ressourcentheoretischer Ansatz stärker die Frage stellen, wie sich die Chancen der Kinder in solchen Situationen und solchen Regionen so verbessern lassen, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten auch entfalten können. … Den Volltext der Studie entnehmen Sie bitte dem Anhang oder dem aufgeführten Link.

http://www.unicef.de
http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/fotomaterial/Kinderarmut/Studie.pdf

Quelle: German Committee for UNICEF

Dokumente: Studie_Unicef.pdf

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