Kinder- und jugendpolitisches Leitpapier der AGJ anlässlich des Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages

13. DEUTSCHER KINDER- UND JUGENDHILFETAG 18.-20. JUNI 2008 IN ESSEN Gerechtes Aufwachsen ermöglichen. Kinder- und jugendpolitisches Leitpapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ anlässlich des 13. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages Das Leitpapier der AGJ soll im Vorfeld des 13. DJHT den fach- und jugend(hilfe)politischen Diskurs zum von der AGJ festgelegten Motto „Gerechtes Aufwachsen ermöglichen.“ in den Strukturen, bei Trägern und Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe anregen. Es soll damit zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe auf allen Ebenen beitragen und den kritisch konstruktiven Dialog beim 13. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag 2008 in Essen unterstützen und fördern. Auszüge aus dem Papier: “ GERECHTES AUFWACHSEN IST MÖGLICH – FÜR EINE AKTIVE KINDER- UND JUGEND(HILFE)POLITIK. … Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit Kinder und Jugendliche sich optimal entwickeln können? Dazu müssen sie einerseits über notwendige Handlungsfähigkeiten für eine gelingende Lebensführung verfügen, andererseits aber auch entsprechende Verwirklichungsmöglichkeiten vorfinden. Dieses Zusammenspiel von Befähigungschancen und Verwirklichungsmöglichkeiten ist der Kern sozialer Gerechtigkeit. Ausgehend von einem so verstandenen Gerechtigkeitsbegriff geht es vor allem darum, entsprechende Rahmenbedingungen für alle jungen Menschen zu gestalten. … Umfassende Bildung, Integration und Teilhabe stellen hierfür den inhaltlichen Rahmen dar und markieren entscheidende Bedingungen und Voraussetzungen für ein gelingendes Aufwachsen. Sie sind der Schlüssel für eine offene Zukunftsgestaltung, für demokratisches Bewusstsein und ein solidarisches Miteinander. Diesen Aufgaben müssen sich, seien es Familie, Jugendhilfe, Schule, Wirtschaft, Arbeitsverwaltung, Politik und Gemeinwesen gleichermaßen stellen. Jugendpolitik und Jugendhilfe können und sollten aber der Motor in diesem Prozess sein. … * Grundlagen, Rahmenbedingungen und Perspektiven — Für eine kinder- und jugendfreundliche Gesellschaft. … Je weniger für das einzelne Kind oder den einzelnen Jugendlichen einerseits hinreichende Befähigungschancen und andererseits tatsächliche Verwirklichungschancen vorhanden sind, bzw. je unverbundener diese mit dem individuellen Anspruch eines guten Lebens sind, desto unterentwickelter ist die gesellschaftliche Realisierung von sozialer Gerechtigkeit und desto größer werden die Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe. – Gerechtes Aufwachsen erfordert Unterstützung und Entlastung für Eltern, die nach wie vor die größten Leistungen für ihre Kinder erbringen. – Gerechtes Aufwachsen erfordert eine Politik, die Armut und Ausgrenzung von jungen Menschen entgegenarbeitet und Teilhabechancen für sie öffnet. – Gerechtes Aufwachsen erfordert ein kinderfreundliches Gemeinwesen, eine aktive Kinder- und Jugend(hilfe)politik, die vor Ort Beachtung findet. – Gerechtes Aufwachsen erfordert eine nachhaltige Reflexion von Geschlechterrollen und die Berücksichtigung des Prinzips von Gender Mainstreaming. Ziel muss es sein, allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich zu eigenverantwortlichen, kompetenten und verantwortungsbewussten Mitgliedern der Gesellschaft zu entwickeln. … * Gerechtigkeit durch Bildung Für die Bundesrepublik Deutschland wird im 21. Jahrhundert prognostiziert, dass Bildung das alles bestimmende Thema sein wird. …. Die Gesellschaft wird dabei als eine „Gesellschaft im Übergang“ gekennzeichnet, in der zunehmend Erfolg über Bildung und Wissen definiert wird. Dadurch gerät besonders die öffentlich verantwortete Organisation und Institutionalisierung von Erziehungs-, Erfahrungs- und Betreuungsprozessen als Voraussetzung für gelingende Bildungsprozesse und zur Verhinderung einer neuen „Zwei-Klassen-Gesellschaft“, die sich in „bildungsnahe“ und „bildungsferne“ Milieus spalten könnte, in den Blickpunkt. … Damit die Kinder- und Jugendhilfe eine offensive Rolle in der Gestaltung einer neuen Bildungslandschaft einnehmen kann, sind allerdings kritische und selbstreflexive Anfragen an ihre notwendige Positionierung zu Bildungsfragen zu stellen, um folgende Aspekte ihrer professionellen Identität und ihres Verständnisses von Bildung produktiv zu bearbeiten: – Die Differenzierung in unmittelbare eigenständige Bildungsleistungen und die Ermöglichung von Bildung durch Erziehungsleistungen sowie von Gelegenheiten zur Teilhabe an Bildungsprozessen durch Betreuungsarrangements ist eine zentrale Voraussetzung für ihre selbstbewussten Zuständigkeits- und Ressourcenzuordnungen. – Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich mit den fachlichen Standards anderer Bildungsträger auseinandersetzen. Kooperation mit diesen bedeutet aber nicht nur kompensatorisch zu arbeiten, sondern auch, sich aktiv in die aktuelle Bildungsdebatte einzubringen. – Eine verstärkte Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe auf Bildung darf aber nicht dazu führen, dass sie den aktuellen „Verlockungen“, zukünftig als Teil des Bildungssystems betrachtet zu werden nachgibt. Ein solches Verständnis würde die Einheit der Jugendhilfe in Frage stellen und es besteht die Gefahr, auf einen kleinen Kernbestand defizitorientierter erzieherischer Hilfen reduziert zu werden. … Der im 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung zugrunde gelegte umfassende Bildungsbegriff in seinen vier Dimensionen, der kulturellen, sozialen, subjektiven und materiell- dinglichen Weltaneignung, ist sowohl als Grundlage für die bildungspolitische Selbstvergewisserung in der Kinder- und Jugendhilfe als auch für die Gestaltung der zukünftigen Kooperation mit der Schule geeignet. … – Vor allem in der Konkretisierung der zurzeit entstehenden Diskussion um die Ausgestaltung von Kommunalen Bildungslandschaften, in denen ein kohärentes Gesamtsystem von Erziehung, Bildung und Betreuung Realität werden kann, wird die Kinder- und Jugendhilfe einen aktiven Teil einbringen. Bildungslandschaften sind eine geeignete Möglichkeit zur Überwindung von institutionellem Denken und der Zuweisung separierender Einzelzuständigkeiten mit dem Ziel einer umfassenden kommunalen Bildungspolitik. … * Gerechtigkeit durch Integration … Rund ein Viertel der in Deutschland aufwachsenden jungen Menschen haben einen Migrationshintergrund. Mit ihren besonderen Ressourcen bieten sie unserer Gesellschaft die Chance zur kulturellen Vielfalt. Integration ist zu begreifen als Aufgabe sämtlicher gesellschaftlichen Kräfte, allen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien die Möglichkeit zu eröffnen, ihr Recht auf Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen wie Eigentum, soziale Sicherheit, Arbeit, Bildung, Gesundheit und Kultur zu verwirklichen wie auch Meinungsbildung und Entscheidungen unserer Gesellschaft mit zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. Integration setzt Gleichberechtigung und gegenseitige Wertschätzung voraus und ist ein wechselseitiger und dauerhafter Prozess. … Träger von Einrichtungen und übergeordnete Verbände müssen Integration zum Bestandteil ihrer eigenen Strukturen, ihrer Konzeptionen, ihrer Führungsaufgaben und ihrer Aktivitäten machen. Öffnung für die kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft muss umgesetzt werden durch: – Angebote, die das Miteinander von jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund und deren Familien fördern und dabei sowohl deren besondere Stärken als auch Bedarfe berücksichtigen. Dazu gehört auch die Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund auf den verschiedenen Ebenen der Entscheidung über Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe ebenso wie über die Angebote und Maßnahmen. – Eine öffentliche Kommunikation, die die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und ihre Medien ausdrücklich und direkt anspricht und einbezieht. – Standards des fachlichen Handelns, die die unterschiedlichen Zielgruppen in die (Weiter)entwicklung der Standards einbeziehen und die ihre Bedarfe berücksichtigen. Die Sicherung einer differenzierten Verständigung ist unabdingbarer Bestandteil solcher Standards. Die Umsetzung der Standards sollte durch die Formulierung von messbaren Indikatoren und deren regelmäßige Erhebung abgesichert werden. – Die Entwicklung interkultureller Kompetenz der Fachkräfte, die sich durch Empathiefähigkeit, Ambiguitätstoleranz, Selbstreflexion, Handlungsfähigkeit für interkulturelle Situationen und Wissen über kulturelle und soziale Kontexte auszeichnet. – Die gezielte berufliche Förderung fachlich qualifizierten Nachwuchses mit Migrationshintergrund. – Aus- und Fortbildungen für die vor Ort oder in übergeordneten z.B. verbandlichen Funktionen arbeitenden Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, die Aspekte von Vielfalt und Integration als integralen Bestandteil aller Ausbildungselemente enthalten, die auch sehr praktische Elemente für die Arbeit in interkulturellen Kontexten vermitteln wie z.B. die Fähigkeit, Dolmetscher zu nutzen. * Gerechtigkeit durch Teilhabe … Teil zu haben an der Gesellschaft und am gesellschaftlichen Leben ist grundlegendes Recht eines jeden jungen Menschen und gleichzeitig Voraussetzung dafür, als mündiger Bürger in eine Demokratie und ein lebendiges Gemeinwesen hereinzuwachsen. … Kindern und Jugendlichen wird die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und auch an Entscheidungen, die ihre Lebenswelt betreffen, erschwert. …. Ein wichtiger Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe liegt in der Ermöglichung von Teilhabe für alle jungen Menschen jenseits von soziokultureller Herkunft, Geschlecht und Behinderung und in der Kompensation von Benachteiligung durch individuelle Förderung, wie sie in den entsprechenden Paragraphen des SGB VIII (§1, §8, §9) gefordert wird. Die Aufgaben liegen einerseits darin, junge Menschen zur Teilhabe zu befähigen, andererseits aber auch darin, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Verwirklichungschancen zur Verfügung gestellt werden. … Eine … Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist die Anwaltschaft für die Interessen junger Menschen in deren Lebensumfeld aber auch auf politischer Ebene. … Manche Zielgruppen der Kinder- und Jugendarbeit benötigen intensive Förderung, um sie zu einer aktiven Teilhabe zu befähigen. Besonders die Arbeit mit sozial benachteiligten jungen Menschen findet häufig in Projekten statt, die zwar auf individuelle Förderung ausgelegt sind, aber nicht in kontinuierliche und auf Nachhaltigkeit angelegte Strukturen überführen. Diese auf spezifische Zielgruppen zugeschnittenen Projekte leisten so nur wenig für die soziale Integration, die Gruppen bleiben „unter sich“. Nachhaltige gesellschaftliche Teilhabe kann auf diesem Wege nur schwer ermöglicht werden. … Die Kinder- und Jugendhilfe muss – um die eigentlichen Ziele bei der Beteiligung junger Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren – ihre Arbeit an der Ermöglichung von Teil- Habe ausrichten und ihre Angebote dahingehend überprüfen. Konzepte, die sich besonders an Teilhabe und an einer gerechten Verteilung der Befähigungs- und Verwirklichungschancen ausrichten, müssen entwickelt und durch die Kinder- und Jugend(hilfe)politik als Lobby für junge Menschen aktiv in politischen Zusammenhängen vertreten werden. … * Für eine gerechte Kinder- und Jugend(hilfe)politik … In der nationalen Kinder- und Jugend(hilfe)politik liegt die Aufgabe der Akteure vor allem darin, auf Ungerechtigkeiten und die Zusammenhänge zwischen Herkunft und verweigerten Teilhabechance hinzuweisen und auf eine strukturelle Veränderung hinzuarbeiten. Da solche Zusammenhänge aber keine national beschränkten Phänomene sind, ist es von großer Bedeutung, grenzübergreifende Vernetzungen in Kinder- und Jugend(hilfe)politik zu nutzen, um auf europäischer Ebene an politischen Priorisierungen mitzuwirken. …“ Den Volltext des Kinder- und Jugendpolitischen Leitpapiers entnehmen Sie bitte dem Anhang. Die BAG KJS wird auf Europas größtem Fachkongress und Fachmesse für die Zukunft von Kindern und Jugendlichen vertreten sein. Im Rahmen eines Informationsaustausches werden Tischgespräche zu bildungspolitischen Fragen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Kirche und Gesellschaft angeboten. In Kooperation mit zwei Mitgliedsorganisationen – Deutscher Caritasverband und IN VIA – wird die BAG KJS ein Fachforum anbieten. Das Fachforum „Bildung und Menschenwürde – christliche und sozialpolitische Forderungen katholischer Jugendsozialarbeit“ wird am Freitag, 20. Juni 2008, von 11.00 bis 12.30 Uhr stattfinden. Eine Programmübersicht entnehmen Sie bitte dem aufgeführtem Link.

http://www.agj.de
http://www.jugendhilfetag.de
http://www.agj.de/pdf/Programmuebersicht.pdf

Quelle: AGJ – Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe

Dokumente: Leitpapier_13__DJHT.pdf

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