Ende 2020 ist der 16. Kinder- und Jugendbericht veröffentlicht worden. Untersucht wurde das Thema „Demokratische Bildung im Kindes- und Jugendalter“ in unterschiedlichen sozialen Räumen. Welche Rolle spielt demokratische Bildung in den Familien, in der Kita oder in der Schule? Auch die Jugendsozialarbeit ist im Blick. Die “Jugendsozialarbeit News” richten in den nächsten Wochen ihr Augenmerk auf die Rolle, Beiträge und Handlungserfordernisse der Jugendsozialarbeit in Bezug auf demokratische Bildung. Wir fragen Expert*innen und Praktiker*innen “WARUM DEMOKRATIEBILDUNG IM JUGENDALTER UNVERZICHTBAR IST…” und bringen damit Standpunkte und Perspektiven der Jugendsozialarbeit in die Fachdebatte ein.
Die ersten Antworten liefert uns Dr. Christian Lüders. Bis vor Kurzem leitete er die Abteilung „Jugend und Jugendhilfe“ beim Deutschen Jugendinstitut (DJI). Er war geschäftsführend zuständig für den 16. Kinder- und Jugendbericht, wie auch für die Berichte zuvor.
Herr Lüders, warum ist das Thema „Demokratische Bildung im Kinder- und Jugendalter“ für den Bericht gewählt worden? Inwiefern ist das Thema aktuell relevant?
Christian Lüders: Die Entscheidung für das Thema eines Jugendberichtes trifft die Bundesregierung. Sehr unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungen waren ausschlaggebend für die Themenwahl: Vom Klimawandel und der Umweltzerstörung und den sie begleitenden Protesten über die Globalisierung, Flucht und Migration bis hin zum politischen und weltanschaulichen Extremismus und demokratiefeindlichen Bewegungen. Gemeinsam ist diesen Entwicklungen, dass sie nicht nur die Demokratie selbst, sondern auch die politische Bildung herausfordern. Aktuell sehen wir an der politischen Auseinandersetzung um die angemessene Bewältigung der Pandemie, wie dringend notwendig politische Bildung ist.
Im Bericht ist abwechselnd von Politischer Bildung und von Demokratischer Bildung die Rede. Warum verwendet die Sachverständigenkommission die Begrifflichkeiten synonym?
Christian Lüders: Im Berichtsauftrag der Bundesregierung war zunächst von demokratischer Bildung die Rede. Dies war der Ausgangspunkt für eine intensive Diskussion innerhalb der Sachverständigenkommission um Begriffe und Konzepte. Diese Selbstvergewisserung kann man im Bericht auch historisch und systematisch nachvollziehen (Abschnitt 2.3). Letztendlich verständigte sich die Kommission darauf, an dem im deutschsprachigen Raum etablierten Begriff der politischen Bildung festzuhalten. Ganz klar liegt in ihrem Selbstverständnis: Politische Bildung war und ist nach der Katastrophe des Nationalsozialismus in (West-) Deutschland der Demokratie verpflichtet. Politische Bildung in diesem Sinne ist also Demokratiebildung.
Warum ist Demokratiebildung im Jugendalter unverzichtbar? Was sind aus Ihrer Sicht die Kernaussagen und zentralen Botschaften des Berichts?
Christian Lüders: Zunächst hält die Kommission fest, dass junge Menschen ein Recht auf politische Bildung haben. Alle jungen Menschen müssen die Möglichkeiten erhalten, die Regeln des demokratischen Miteinanders zu üben und weiterzuentwickeln. Dazu gehört, eigene, begründete Urteile bilden zu können sowie dabei unterstützt zu werden, Fähigkeiten und Motivation zur politischen Partizipation zu entwickeln. Die genannten gesellschaftlichen Herausforderungen machen ja zusätzlich den aktuellen Bedarf überdeutlich! Zugleich liefert der Bericht viele interessante Hinweise darauf, dass politische Bildung in den verschiedenen Räumen des Aufwachsens eine Rolle spielt, aber an vielen Stellen noch Luft nach oben ist.
Für jeden der elf Themenbereiche bzw. der Sozialen Räume haben Sie in der Sachverständigenkommission Empfehlungen formuliert. Wie kam es dazu, dass einzelne Bereiche, wie z. B. die Jugendsozialarbeit, im Sammelkapitel „Unterschätzte Räume der politischen Bildung“ gelandet sind?
Christian Lüders: Der Kommission war es wichtig, dass die in dem Kapitel „Unterschätzte Räume“ genannten Praxisfelder, darunter eben auch die Jugendsozialarbeit, ausdrücklich auftauchen. Es wäre ja auch ein bisschen schräg, in einem Kinder- und Jugendbericht z. B. nichts zur Jugendsozialarbeit oder den Hilfen zur Erziehung zu sagen. Verglichen mit den Debatten z. B. um politische Bildung in der Schule und mit Blick auf das in der Kommission formulierte Verständnis von politischer Bildung, besteht in diesen Feldern noch Entwicklungsbedarf. Die Diskussion um politische Bildung, die Praxen und das fachliche Selbstverständnis erscheinen in den sogenannten unterschätzten Räumen noch ausbaufähig. Als unterschätzt haben wir die Räume bezeichnet, weil der Stellenwert politischer Bildungsprozesse sowohl von der jeweiligen Fachpraxis als auch von der Fachdiskussion um politische Bildung im Jugendalter – beides ist wichtig! – bislang unterschätzt wurde. Das ist nichts Ehrenrühriges, sondern eine Einladung zur Reflexion der eigenen Potenziale, zum fachlichen Austausch und zur Ausreizung der eigenen Möglichkeiten.
Welche Implikationen leiten Sie für die Praxis, aber auch für die politische Ebene der Jugendsozialarbeit ab?
Christian Lüders: Die Jugendsozialarbeit hat erfreulicherweise vor Kurzem begonnen, sich mit dem Thema politischer Bildung in der Jugendsozialarbeit zu befassen. Ich erinnere beispielsweise an die Themenhefte 19 und 22 der Zeitschrift dreizehn, die vom Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit herausgegeben wird. Aber die Jugendsozialarbeit ist vielfältig, sodass die Kernaufgabe wohl darin bestehen dürfte, für die verschiedenen Felder und Adressat*innengruppen die Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildung auszuloten. Da gibt es bereits wichtige Anknüpfungspunkte, vor allem zum Umgang mit fremdenfeindlichen, rassistischen, homophoben und queerfeindlichen Äußerungen und anderen Formen der Menschenverachtung. Aber politische Bildung ist, das hat der 16. Kinder- und Jugendbericht deutlich gemacht, mehr als Prävention und Bekämpfung der verschiedenen Varianten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Zugleich muss auch berücksichtigt werden, dass die Jugendsozialarbeit dabei mitunter dicke Bretter zu bohren hat – auch weil sie an vielen Stellen auf Partner*innen angewiesen ist. So wird es eine zentrale Herausforderung werden, z. B. im Bereich der Jugendberufshilfe die Seite der Jugendberufsagenturen, die berufliche Ausbildung und all die anderen Akteure in diesem Feld mit ins Boot zu holen. Da wird sicherlich auf lokaler Ebene viel zu bewegen sein; einen spürbaren Schritt weiter kommt man an dieser Stelle aber nur, wenn diese Entwicklung auch proaktiv von der Politik unterstützt wird. Auf Seiten der anderen Beteiligten muss auch das Bewusstsein wachsen, dass sie für politische Bildung junger Menschen mitverantwortlich sind.
Welche nächsten Schritte stehen aus Ihrer Sicht für uns in der Jugendsozialarbeit an?
Christian Lüders: Der 16. Kinder- und Jugendbericht lädt zunächst dazu ein, sich über das eigene Verständnis von politischer Bildung klar zu werden und konzeptionell verschiedene Ansätze präziser zu unterscheiden. Nicht jede Form sozialen Lernens und nicht jeder Beteiligungsprozess sind gleich Angebote politischer Bildung! In einem zweiten Schritt gilt es Spielräume für politische Bildung auszuloten und die Potenziale zu erkennen. Drittens bedarf es konzeptionell-fachlicher Weiterentwicklungen und entsprechender Fort- und Weiterbildung. Wiederholt macht der Bericht den Vorschlag, dass es dazu eines Austausches zwischen der Jugendsozialarbeit – um hier bei diesem Feld zu bleiben – und der politischen Jugendbildung bedürfe. Diese Orte der Kooperation und des fachlichen Austausches müssten – von wenigen vorbildlichen Kooperationen abgesehen – erst geschaffen werden. In der Summe geht es darum, vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen demokratischer Gesellschaften politische Bildung junger Menschen im Sinne des Jugendberichts zu stärken.
Vielen Dank für das Gespräch!
Quelle: IN VIA Deutschland im Netzwerk der BAG KJS – Das Interview führte Julia Schad-Heim von IN VIA Deutschland.