Folgt man den Aussagen des Bundesinnenministers in Interviews und Statements, ist alles ein Pullfaktor für Flucht und Einwanderung nach Deutschland, was Menschenwürde wahrt, Menschen- und Kinderrechte garantiert oder eine sichere Gegenwart und Zukunft bedeutet. Kein Wunder, dass viele Kinder und Jugendliche, die in Deutschland Schutz suchen, nicht bekommen, was sie benötigen: sichere Zukunftsaussichten. Terre des Hommes Deutschland (TDH) macht mit einer Befragung die Perspektiven junger Schutzsuchender auf ihre Unterbringung sichtbar – und damit auch ein Versagen des Staates aus Fahrlässigkeit oder aus Absicht.
Kriege, Naturkatastrophen, Gewalt und Armut sind Gründe, warum vor allem Kinder und Jugendliche fliehen. Die meisten blieben in ihrem Land oder in einer Region. Nur wenige wagen und schaffen die Flucht nach Europa. Kommen sie in Deutschland an, erleben viele weiter einen Alltag voller Unsicherheit – geprägt von engen Containern, maroden Kasernengebäuden und prekärer Unterstützung. Terre des Hommes schreibt: „Hinter dieser Situation stehen politische Entscheidungen: Um Asylverfahren zu zentralisieren und Menschen schneller abzuschieben, wurden zahlreiche asyl- und aufenthaltsrechtliche Regelungen verschärft“. Leidtragende sind auch jene, die besonderen Schutz benötigen: Kinder und Jugendliche.
Massive Einschränkungen
Ist die Unterbringung mangelhaft, wirkt das auf Integration und Teilhabe – in der Schule, in der Ausbildung, in der Freizeit. Joshua Hofert, Sprecher von TDH sagt: „Zwar variiert die Unterbringungspraxis je nach Bundesland, ob Erstaufnahmeeinrichtung, AnkER-Zentrum oder Folgeunterkunft – überall erleben Kinder und Jugendliche massive Einschränkungen: eingeschränkte Bildung oder gar kein Schulbesuch, kaum Privatsphäre, wenig Freizeitangebote und selten pädagogische Begleitung“. Hinzu kommen teils katastrophale Wohnbedingungen sowie traumatisierende Situationen, wenn insbesondere Menschen aus dem direkten Umfeld plötzlich abgeschoben werden. Organisationen und Verbände aus der Mitgliedschaft der BAG KJS versuchen mit Bildungs- und Freizeitangeboten oder mit Rechtsberatung Freiräume, Sicherheit und Geborgenheit zu schaffen.
Was sie, die Kinder und Jugendlichen dabei erleben, ruft Fassungslosigkeit hervor: Unfassbar langsame, bürokratische Prozesse in den Asylverfahren, schleppende medizinische Versorgung oder Hilfe bei Traumata, fehlende oder stark beschränkte finanzielle Mittel (etwa für Fahrkarten des öffentlichen Nahverkehrs), großes Misstrauen bei Altersnachweisen, unhygienische Bedingungen, Ungeziefer, schlechtes Essen, schlaflose Nächte. Selbst Familien mit anerkanntem Schutzstatus stecken in diesen Unterkünften fest und kommen oft nicht weiter: Wohnungen sind kaum bezahlbar, Behördenverfahren schwer verständlich und staatliche Hilfen reichen nicht aus.
Gute Bedingungen zum Aufwachsen schaffen
Was Terre des Hommes als Folge fordert, dürften nicht nur der Bundesinnenminister, sondern zahlreiche Politiker*innen aus den Koalitionsparteien und der undemokratischen Opposition als Anreize für Einwanderung bezeichnen: Kinder raus aus Erstaufnahmeeinrichtungen, dezentrale und menschenwürdige Unterbringung für alle Kinder und Familien, angemessene Verfahrensgarantien, gleichberechtigte Teilhabe statt Ausgrenzung und Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen. Europa und vor allem Deutschland sollte mit Blick auf Werte und Grundgesetz gute Bedingungen zum Aufwachsen schaffen und Sorge tragen, dass Kinder und Jugendliche eine Wahl und Gestaltungsmacht haben, ihre Potenziale zu entfalten.
Text: Michael Scholl