Teilhabe ist kein Zufall: Was der neue Atlas über Chancen junger Menschen verrät

Wie gut junge Menschen in Deutschland aufwachsen können, hängt entscheidend davon ab, wo sie leben. Der neue „Teilhabeatlas Kinder und Jugendliche“ verdeutlicht: Die Chancen auf Bildung, Gesundheit, Freizeit und ein selbstbestimmtes Leben sind in deutschen Städten und Landkreisen ungleich verteilt – mit teilweise gravierenden Folgen für Kinder und Jugendliche. Für Fachkräfte der Jugendsozialarbeit ist der Atlas deshalb ein zentrales Arbeitsinstrument – und eine Einladung zur politischen Diskussion.

Region entscheidet über Zukunft

Herausgegeben von der Wüstenrot Stiftung, dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) im Mai 2025 untersucht der Teilhabeatlas systematisch, wie sich Teilhabechancen junger Menschen über Deutschland hinweg unterscheiden – erstmals fokussiert auf die Altersgruppe unter 25 Jahre.

Grundlage der Analyse sind statistische Daten aus allen 400 Kreisen und kreisfreien Städten Deutschlands. Die Forscher*innen analysierten neun Schlüsselindikatoren, darunter:

  • Kinderarmutsquote
  • Schulabbruchquote
  • Jugendarbeitslosigkeit
  • Lebenserwartung
  • Betreuungsquote von Vorschulkindern
  • Ausbildungsplatzangebot
  • Erreichbarkeit von Grundschulen, Bushaltestellen und Kinderarztpraxen
  • Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung
  • Breitbandversorgung in Haushalten

Auf dieser Basis wurden Regionen typisiert – etwa als teilhabefreundlich oder teilhabeschwach, jeweils für Stadt und Land. Die Ergebnisse zeigen: Teilhabechancen „häufen sich“ – oder fehlen flächendeckend. Besonders Kinderarmut, Schulabbrüche und geringe Lebenserwartung treten oft gemeinsam auf.

Unterschiedliche Chancen in benachbarten Kreisen

Wie kleinteilig Unterschiede sein können, zeigt das Beispiel Südwestfalen: Obwohl die Kreise Olpe, Siegen-Wittgenstein und der Hochsauerlandkreis ähnliche geografische und strukturelle Voraussetzungen haben, unterscheiden sich ihre Teilhabeindikatoren erheblich. In Siegen-Wittgenstein ist die Kinderarmutsquote fast doppelt so hoch wie im benachbarten Kreis Olpe. Auch bei der Lebenserwartung und Jugendarbeitslosigkeit schneidet Siegen-Wittgenstein schlechter ab – und wird in der Studie als „teilhabeschwache Region“ eingeordnet.

Die Einschätzung der jungen Menschen auf Teilhabechancen

Neben der Datenanalyse enthält der Atlas auch qualitative Erkenntnisse. Das Forschungsteam führte in acht ausgewählten Regionen Gespräche mit Kindern und Jugendlichen sowie mit Fachkräften aus Schule, Sozialarbeit und Kommunalverwaltung. Ziel war es, die subjektive Sicht auf Teilhabe zu erfassen – also zu hören, was jungen Menschen wichtig ist, wo sie sich eingeschränkt fühlen, und wie sie ihre Umgebung erleben.

Die Aussagen sind eindeutig: Junge Menschen haben Ideen und wollen ihre Umgebung mitgestalten. Doch häufig erleben sie, dass ihre Perspektiven nicht ernst genommen oder ignoriert werden. Beteiligung findet vielerorts eher symbolisch als strukturell statt. Die Interviewten äußerten drei zentrale Wünsche:

  • Freizeitangebote, die ihnen Raum zur Mitgestaltung geben und in denen sie unter sich sein können
  • Selbstbestimmung, z. B. durch unabhängige Mobilität oder kostenfreie Angebote
  • Mitbestimmung, bei Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen

Diese Wünsche gelten unabhängig vom jeweiligen Wohnort und machen deutlich, worauf es jungen Menschen in ländlichen wie urbanen Räumen ankommt.

Handlungsempfehlungen mit Relevanz für die Jugendsozialarbeit

Die Herausgeber*innen des Teilhabeatlas formulieren konkrete Empfehlungen für Politik und Praxis. Viele davon betreffen direkt den Arbeitsalltag in der Jugendsozialarbeit:

  • Beteiligung strukturell ermöglichen: Kinder und Jugendliche sollen mitreden und mitentscheiden – in Schulen, in der Kommune, bei Planungen und Gesetzgebung. Beteiligung muss verbindlich und kontinuierlich sein, nicht projektbezogen und punktuell.
  • Selbstbestimmung stärken: Junge Menschen brauchen kostenfreie Freizeit- und Kulturangebote, eine verlässliche Verkehrsanbindung sowie ein sicheres Umfeld – gerade in benachteiligten Quartieren.
  • Bildung gezielt fördern: In Regionen mit hoher Bildungsbenachteiligung braucht es gezielte Investitionen – in Schulsozialarbeit, Bildungsübergänge, berufliche Orientierung und inklusive Lernsettings.
  • Öffentliche Räume jugendfreundlich gestalten: Junge Menschen brauchen Orte, an denen sie willkommen sind. Fehlende Aufenthaltsorte, Konflikte mit Anwohner*innen oder der Polizei – all das erschwert soziale Teilhabe.

Nicht zuletzt mahnt die Studie: Junge Menschen sind eine schrumpfende Bevölkerungsgruppe und werden strukturell zu wenig berücksichtigt. Gerade deshalb brauche es eine entschlossene Jugendpolitik, die Chancengerechtigkeit nicht dem Zufall überlässt.

Der Teilhabeatlas liefert eine fundierte, differenzierte und praxisnahe Bestandsaufnahme. Er bietet sowohl Fachkräften der Jugendsozialarbeit als auch Entscheidungsträger*innen in Politik und Verwaltung wertvolle Orientierung – und zeigt: Teilhabe ist machbar, wenn man sie ermöglicht.

 

Autorin: Silke Starke-Uekermann

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