Gegen die Fortsetzung der Spaltung der Gesellschaft

Der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) warnt in seiner „Saarbrücker Erklärung“ angesichts der fortgesetzten Kürzungen bei sozialen Leistungen und Diensten vor einer wachsenden Spaltung der Gesellschaft. Stattdessen fordert der Verband von der Politik ein wirkliches „Armutsbekämpfungskonzept“ und eine solidarische Beteiligung der Bezieher von höheren Einkommen und von Unternehmen an den Sozialkosten. Um dies durchzusetzen, müsse die Soziale Arbeit politischer werden, fordert der 1. Vorsitzende des DBSH, Michael Leinenbach. Der Berufsverband bestärkt in seiner „Saarbrücker Erklärung“ die besondere Verpflichtung der Profession zur Parteinahme für Arme. Der DBSH fordert eine Vielzahl von Maßnahmen zur Förderung und Hilfe für Menschen mit Unterstützungsbedarf, sowie Verbesserungen in den Bereichen Erziehung, Bildung, Pflege und Gesundheit. Für soziale Dienstleistungen muss es darüber hinaus festgesetzte Standards geben, um Quantität und Qualität zu sichern.

Auszüge aus der Erklärung „Gegen die Fortsetzung der Spaltzung der Gesellschaft – Abschied vom Sozialstaat nicht mit dem DBSH“:

Einkommensverteilung in Deutschland wird immer ungerechter

„Wie immer in Wirtschaftskrisen oder bei „klammen“ öffentlichen Kassen werden auch aktuell Menschen diffamiert, die auf Hilfe angewiesen sind. Sofort wird eine Diskussion über deren angeblich mangelnde Motivation zur Arbeit und die zu hohen Sozialleistungen angestoßen, an der sich auch Spitzenpolitiker beteiligen. (…)

Tatsächlich aber sind die Einkommen in Deutschland noch nie so ungerecht verteilt gewesen wie heute: Während Vermögende und Bezieher höherer Einkommen in den letzten 15 Jahren steuerlich entlastet wurden und deren Realeinkommen stiegen, mussten „Normalverdiener“ und insbesondere Menschen, die auf staatliche Transferzahlungen angewiesen sind, immer weitere Einkommenseinbußen hinnehmen. Die Zahl der von Armut betroffenen oder bedrohten Menschen wächst immer weiter.

Die Bundesagentur für Arbeit zählte im Februar 2010 6,2 Mio. Erwerbslose, hinzu kommen 1,6 Mio. Menschen in Beschäftigungsmaßnahmen und solche, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden und trotz Erwerbseinkommen als arm gelten oder die als Ehegatten keine Lohnersatzleistungen bekommen, obwohl sie arbeiten wollen. Denn acht bis neun Mio. Erwerbslosen standen leider nur 480.000 gemeldete offene Stellen gegenüber. Zugleich verfestigt sich die Langzeitarbeitslosigkeit auf hohem Niveau.

Die Reform des Wohlfahrtsstaates und die damit verbundene Umwandlung in den „aktivierenden Sozialstaat“ führten zu einer weiteren Verschärfung der Situation. (…)

Vor einigen Jahren noch galt der demografische Wandel (bei allen damit verbundenen Problemen) als Chance zur Beseitigung der Langzeitarbeitslosigkeit. Nunmehr aber zeigt sich, dass schlechte Bildungssituation und mangelnde Förderung von Jugendlichen trotz zukünftig verbesserter Arbeitskraftnachfrage nicht zu einem Absinken der Erwerbslosigkeit führen wird. Auch hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, über Niedrigstlöhne zusätzliche und „einfache“ Arbeitsplätze zu schaffen. Trotz dieser Situation unterblieben ausreichende Investitionen und notwendige Reformen im Bildungssystem.

Während Leistungen und soziale Dienste zur Förderung von Menschen in Notlagen zunehmend eingeschränkt wurden, erfreuen sich Banken und Kapitalgesellschaften bis heute an Subventionen in Milliardenhöhe und an der Rücknahme von sozialen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft.

Dass in Deutschland auf dem Rücken von Langzeitarbeitslosen, Menschen in prekären Lebensverhältnissen, armen Menschen, Kindern und Jugendlichen zugunsten von Vermögenden und Kapitalbesitzern Politik gemacht wird, hat nicht nur eine finanzielle Dimension. Es wird darüber hinaus ein Klima der Angst vor einem möglichen eigenen sozialen Abstieg erzeugt bzw. verfestigt, das von den eigentlichen Ursachen und Verursachern der ökonomischen Krise ablenkt. (…)

Die Zahl der Sozialleistungsbetrüger ist wesentlich geringer, als die Diskussionsbeiträge aus Politik und Wirtschaft vorgeben. Gegen Sozialleistungsbetrüger muss vorgegangen werden. Die notwendigen gesetzlichen Regelungen sind vorhanden. Von Einzelfällen auf die große Mehrheit der Langzeitarbeitslosen zu schließen und die große Mehrheit von Arbeitslosen unter den Gesamtverdacht des Betrugs zu stellen, ist unseriös und populistisch.

Der Vorwurf, die entsprechenden Institutionen würden nicht hart genug gegen Sozialleistungsbetrüger vorgehen, wird nicht deswegen wahrer, weil er oft genannt wird. Das Gegenteil ist der Fall. Die Jobcenter schaffen zum Teil sehr bewußt „Sanktionsfallen“ – etwa wenn vorgegeben wird, wöchentlich 25 Bewerbungen zu schreiben oder für den immer gleichen Vortrag Anwesenheitspflicht eingeführt wird. In manchen Bezirken wird von den Sozialgerichten die Hälfte aller angefochtenen Sanktionen als rechtswidrig verworfen. Der klassische Leistungsbetrug, also Schwarzarbeit, das Verschweigen anderer Einkünfte oder Arbeitsverweigerung ist eine Ausnahme. Bei Inkrafttreten von Hartz IV ging man noch davon aus, dass 1/3 der Betroffenen aus dem Leistungsbezug bei der Vermittlung eines 1-Euro-Jobs „aussteigen“, weil sie bereits beschäftigt sind oder nicht arbeiten wollen. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall – der 1-Euro-Job entwickelte sich vor allem am Anfang als „Renner“. (…)

Folgen für die Soziale Arbeit

Mit der Ökonomisierung aller Lebensbereiche sollte das neoliberale Menschenbild des Homo oeconomicus zur Grundlage menschlichen Handelns werden. Dieses Menschenbild blieb nicht ohne Wirkung auf die Soziale Arbeit. Orientierte sich zum Beispiel die frühere Sozialhilfe an Teilhabe und Würde des Menschen, geht es nunmehr nur noch um die Zielvorstellung der Erwerbsfähigkeit, während Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenwürde ins Abseits gestellt wurden. Wer nicht arbeitet, wer nicht in diese Philosophie passt, wird sanktioniert, hat kein Recht auf ein Dach über dem Kopf, auf Unterstützung und Hilfe. Wenn etwa im Jahr 2009 ca. 36.000 Jugendliche keinerlei Unterstützung mehr erhielten und ihnen Obdachlosigkeit drohte, sind die Folgen (z.B. Kriminalität) absehbar.

Zunehmend werden soziale Dienstleistungen, die von der öffentlichen Hand finanziert und meist von freien Trägern im Auftrag angeboten werden, „marktwirtschaftlich“ gesteuert. Sie sollen möglichst „billig“ sein. Darunter haben zunächst die Beschäftigten im Bereich der Gesundheitsversorgung, in der Pflege und in der Sozialen Arbeit zu leiden: Arbeitsverdichtung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, mangelnde Möglichkeiten im beruflichen Wirken, eine exorbitante Zunahme psychosozialer Erkrankungen und oft frühzeitiger Berufsausstieg sind häufige Folgen. Immer weniger Menschen sind bereit, in niedrig bezahlten Pflege- und Sozialberufen tätig zu werden. (…)

Soziale Arbeit ist heute zunehmend weit entfernt von der Möglichkeit, nachhaltig zu helfen. Vielfach wird sie nur noch als Feuerwehr tätig. Die Folgen zeigen die vielen Fälle von (…) Jugendlichen, die den Anforderungen von Schule und Beruf nicht mehr gerecht werden können, sowie die in jüngster Zeit wieder zunehmende Wohnungslosigkeit. (…)

Soziale Arbeit hat immer zum Erhalt des sozialen Friedens in unserem Land beigetragen und damit auch einen großen Beitrag zum Aufstieg Deutschlands als Wohlfahrtsstaat zur führenden Wirtschaftsnation geleistet. Nun sehen wir die Gefahr, dass der soziale Frieden gefährdet ist. Der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) kann und will nicht untätig zuschauen, wenn ein Drittel der Gesellschaft ausgegliedert und zunehmend in ihren Möglichkeiten der Teilhabe beschnitten wird. Denn als Profession, die sich gerade im Armutsbereich beruflich engagiert, erleben wir in den vielen sozialen Tätigkeitsfeldern die Probleme und Notlagen sehr deutlich.

Deshalb begrüßen wir die Bestätigung des Prinzips der Menschenwürde als Grundlage für das Handeln des Staates, so wie sie dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu entnehmen ist. Wir hoffen auf eine breite gesellschaftliche Diskussion über Armut, Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit, über Menschenwürde und Teilhabe. (…)

Forderungen für mehr soziale Gerechtigkeit

Vor dem Hintergrund der Expertise unserer Profession fordern wir ein neues integriertes Armutsbekämpfungskonzept, das Fragen der Einkommensverteilung ebenso mit einschließt wie Bildungs-, Sozial- und Wohnungspolitik. Im Einzelnen fordern wir:

  • einen gesellschaftlichen Diskurs unter Beteiligung der Armen in unserem Land über die Fragen von Menschenwürde, Chancen-, Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit. Der DBSH sieht dabei sehr wohl, dass die bisherigen Steuereinkünfte nicht ausreichen, um (soziale) Infrastruktur und ein Leben in Würde für alle Menschen zu bewahren.
  • die Schaffung eines langfristigen Armutsbekämpfungskonzeptes für Deutschland, in dem neben der Sicherung der materiellen Existenz auch verbesserte Bildungschancen, eine gute Gesundheitsversorgung, menschenwürdige Entlohnung von Erwerbsarbeit und politische Teilhabe für die Schwachen im Land ermöglicht werden.
  • eine soziale Politik, die sich frei macht von dem Diktat der Finanz- und Güterwirtschaft, und die den Markt reguliert, wenn Menschen durch Markthandeln benachteiligt, ausgegrenzt und missbraucht werden.
  • bessere Teilhabemöglichkeiten an Bildung für Menschen mit niedrigen und niedrigsten Einkommen. Der Staat muss gerade für die Kinder aus prekären Haushalten (…) mehr zur sozialen und kognitiven Förderung investieren. Dazu sind verbesserte Rahmenbedingungen für die Förderung, Erziehung und Betreuung von Kleinkindern und zusätzliche Förderungsmaßnahmen für Kinder aus benachteiligten Familien notwendig. Dabei darf es nicht (…) zur alleinigen Ausrichtung auf intellektuelle Leistungsfähigkeit von Kindern kommen. Wir benötigen soziale und kreative Menschen, um die Zukunftsprobleme bewältigen zu können. Der DBSH lehnt paternalistische Familienkonzepte ab. Die Lösung liegt nicht in Naturalleistungen für Kinder und nicht allein in Förderkursen, vielmehr muss die Erziehungskompetenz der Eltern – und dies auch materiell – gefördert werden. Wenn in der Sozialen Arbeit von „sanktionierten Kindern“ gesprochen wird, weil die Väter eine Leistungskürzung vom Jobcenter erhalten haben, so ist dies beschämend. (…)
  • mehr Förderung gerade für junge Menschen, die im bisherigen Schulsystem benachteiligt waren. Die verschärften Sanktionsmöglichkeiten für Jugendliche im SGB II – Bezug lehnen wir ab, weil sie zum Leben auf der Straße und zur Kriminalität führen.
  • eine verstärkte Investition der Öffentlichen Hand in Jugendzentren, Jugendbildungsarbeitund Jugendsozialarbeit. Junge Menschen brauchen Entwicklungsräume und professionelle Unterstützung auch abseits der Schule.
  • den Erhalt der guten Standards des SGB VIII. Die Forderungen des Städtetages nach einer Reform des SGB VIII lehnen wir als weitere Einschnitte der Rechte von Kindern und Jugendlichen ab.
  • eine Generalrevision des SGB II. Individuelle Bedarfe und die Form der Förderung sollten sich an der früheren Sozialhilfe orientieren. Die Regelsätze sind zu erhöhen und haben sich an den tatsächlichen Verbrauchswerten zu orientieren. Sie müssen Ausgaben für Bildung und Teilhabe beinhalten. (…)
  • das Instrument der Sanktionen nur noch bei Leistungsbetrug, Arbeitsverweigerung und bei mangelnder Mitwirkungsbereitschaft einzusetzen – wobei eine Mitwirkungsbereitschaft nur für solche Maßnahmen zu fordern ist, die tatsächlich für die Förderung der Erwerbsaufnahme notwendig und sinnvoll sind. (…)
  • transparente Wettbewerbsbedingungen auf dem „sozialen Markt“. Ausschreibungen für soziale Dienstleistungen müssen Vorgaben zur Qualifikation der einzusetzenden Fachkräfte enthalten und den Einsatz von „Subunternehmen“, d.h. prekär beschäftigten sogenannten Honorarkräften ausschließen. Darüber hinaus ist das Vorhandensein einer tarifvertraglichen Regelung zur Grundlage zu machen. Als Orientierungsrahmen sollte der TVöD dienen.
  • die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Die Höhe des Mindestlohns muss ein menschenwürdiges Leben gewährleisten und „armutsfest“ sein. (…)
  • die Einführung einer Vermögenssteuer. Der Sozialstaat kann seinen Aufgaben nur gerecht werden, wenn er seine Einkommensbasis verbessert. Deutschland gilt mittlerweile als Land mit eher niedriger Besteuerung. Besteuert werden sollten Vermögen über einem Wert (bei einer vierköpfigen Familie) von 500.000 Euro des darüber hinaus gehenden Betrages. Darüber hinaus benötigen wir eine Reform der Erbschaftssteuer.
  • den Spitzensatz der Einkommenssteuer wieder auf das Niveau früherer Jahre (47 oder 53 Prozent) anzuheben. (…)
  • die Besteuerung von Spekulationsgewinnen aus Aktiengeschäften und die Besteuerung von Boni bei Inkassogeschäften. (…)“

Quelle: DBSH

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