Die Wiederentdeckung der Schule durch die Erziehungshilfe

Die Promotion von Thomas Heckner untersucht das Phänomen der Schulverweigerung als individuelles entwicklungsbezogenes Bewältigungshandeln, das sich zwischen Risikoverhalten und Resilienzbildung bewegt. Die Arbeit knüpft an den aktuellen Stand der Forschung zu Schulverweigerung an und beschreibt vier zentrale Ressourcenbereiche für die Arbeit mit schulverweigernden Jugendlichen: Teilhabebestreben, Motivation, Selbstwirksamkeit und soziale Unterstützung. Darauf ist die qualitative sowie quantitative Forschung der Arbeit ausgerichtet. Die Ergebnisse stellen eine Bestätigung der neueren Forschung dar und schreiben diese unter dem Aspekt der Ressourcenorientierung und der Resilienzbildung fort.

Mit der Arbeit wird erstmals ein Beitrag zum Fachdiskurs aus der Perspektive der Erziehungshilfe geleistet. Die vom Autor zur Verfügung gestellte Kurzfassung zur Dissertation „Schulverweigerung als individuelle Bewältigungsstrategie zwischen Risikoverhalten und Resilienzbildung“ arbeitet die Kernaussagen wie folgt heraus:

Interventionsmöglichkeiten auch außerhalb der Schule finden

„Der Abschluss der Schule stellt in allen zivilisierten Nationen für die jungen Menschen zwischen dem 14. und 19. Lebensjahr eine gesellschaftlich vorgegebene Entwicklungsaufgabe dar. Das Verfehlen dieses Entwicklungsziels geht mit starken Einbußen im Selbstwertgefühl einher, während die positive Annäherung daran eine Zunahme der Zufriedenheit mit sich selbst nach sich zieht. Vor diesem Hintergrund sind Schulverweigerer in ihrer seelischen Entwicklung und hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Teilhabechancen stark gefährdet.

Als Thema der Erziehungshilfe trat die Schulverweigerung bislang kaum in Erscheinung. Sie gilt – trotz aller für die jungen Menschen damit verbundenen Entwicklungsrisiken – vornehmlich als ein Problem der Schule. Die Suche nach Interventionsmöglichkeiten, die einen vollständigen Ausstieg der Betroffenen aus der Schule verhindern, konzentriert sich demgemäß auf das System Schule und die dafür zuständige Schul- bzw. Jugendsozialarbeit. Darüber hinaus gilt die Schulverweigerung als Herausforderung für die Sonderpädagogik oder wird in der Zuständigkeit der Jugendpsychiatrie gesehen (Schulphobie).

Zusammenführung von schulischer und sozialpädagogischer Förderung bietet pädagogisch-therapeutisches Potenzial

Die Erziehungshilfe ist in ihrem Bemühen um den Abbau von Benachteiligungen subsidiär und nachrangig gegenüber den Elternhäusern und der Schule ausgerichtet. Schulverweigerung erscheint nicht als Gegenstand des eigenen Auftrags, sondern als Symptom für eine ursächliche Benachteiligung. Auch wenn eine teilstationäre oder stationäre Erziehungshilfe eng mit einer sonderpädagogischen schulischen Förderung verbunden ist, bleiben Heim und Schule organisatorisch und hinsichtlich ihres Auftrags getrennt.

Neuere Konzeptionen im Rahmen der Erziehungshilfe überwinden diese Trennung und führen Betreuung, Erziehung und (schulische) Bildung zusammen. Auf diese Weise sollen Handlungsspielräume erweitert werden, um den Abbruch von Maßnahmen zu vermeiden oder um junge Menschen zu fördern, die auch im sonderpädagogischen Kontext als „nicht beschulbar“ gelten. Die Integration einer schulischen Förderung in eine stationäre Erziehungshilfe hat sich im Rahmen individualpädagogischer Maßnahmen im In- und Ausland etabliert. Waren hierfür zunächst organisatorische Gründe maßgeblich, erkennt man heute zunehmend das pädagogisch-therapeutische Potenzial der engen Verbindung von schulischer und sozialpädagogischer Förderung und nutzt es auch im Rahmen regulärer Angebote der Erziehungshilfe.

Dominanz der systemischen Perspektive in der Forschung

In der Schulabsentismusforschung dominierte in den letzten beiden Jahrzehnten die systemische Perspektive. Anstelle individualpsychologischer defektologischer Interpretationen analysierte man die Wechselwirkungen innerhalb komplexer intra- und interindividueller Zusammenhänge. Rekonstruktionen der Binnenperspektive der betroffenen jungen Menschen mithilfe qualitativer Forschungsverfahren führten zu einer weiteren Präzisierung. Sie akzentuieren die Schulverweigerung als subjektiv sinnhaftes Handeln im Streben nach Bewältigung vorhandener Problemstellungen und beurteilen dieses Handeln mit Verweis auf die entwicklungspsychologische Forschung als entwicklungsphasentypisches Bewältigungshandeln. An diese Entwicklungslinie der Forschung schließt die Arbeit Heckners an. Im Mittelpunkt steht dabei nicht mehr die Interpretation des Phänomens Schulverweigerung, sondern die Analyse der Voraussetzungen, die zur Überwindung des Vermeidungshandelns und damit zur Wiedererlangung von Teilhabechancen beitragen.

Schulverweigerung als individuelle Bewältigungsstrategie

Die Studie interpretiert und begründet die Schulverweigerung als individuelle Bewältigungsstrategie. Ist der Fokus auf die im Jugendalter typischen Probleme gerichtet, stellt sich das Bewältigungshandeln als problemlösendes Entwicklungshandeln (Coping) dar, wie es für die Bearbeitung von entwicklungsphasentypischen Lebensaufgaben beschrieben ist. Es verliert damit die klinische Konnotation, die Bewältigungshandeln eher als eine nur für eine Subgruppe typische Reaktion auf traumatische Ereignisse versteht.

Gleichwohl sind maladaptive Bewältigungsstrategien mit Entwicklungsrisiken und mit einer Gefährdung der Gesundheit verbunden. Vor diesem Hintergrund begründet Heckner inhaltlich und rechtlich die in der Praxis vielfach bestrittene Zuständigkeit der Erziehungshilfe.

Aus der Perspektive der Resilienzforschung sieht er die Entwicklung der betroffenen jungen Menschen in einer veränderlichen Balance zwischen Risikoverhalten und inneren wie äußeren Schutzfaktoren, die zur Resilienzbildung beitragen. Indem er den Aufbau von Resilienz als Ziel der Erziehungshilfe definiert, fokussiert der Autor die Stärken und Widerstandskräfte der jungen Menschen und ihrer sozialen Umgebung. Hierbei bezieht er sich auf einen erweiterten Ressourcenbegriff, der vorhandene oder zugeschriebene Potentiale einbezieht. Teilhabestreben, Motivation, Selbstwirksamkeit und soziale Unterstützung werden als Ressourcenbereiche eingeführt und begründet. Dabei zeigt sich, dass eine an den Stärken orientierte Pädagogik die Bedeutung von Unterstützungssystemen betont und nicht deren Abbau impliziert.

Enge Beziehungen zu Menschen, die Sicherheit geben und bei der Lösung von Problemen behilflich sind, beschreibt Heckner als vornehmliche Stütze bei der Bewältigung von Problemen. Dieses Konzept wendet er auf den Abschluss der Schule als Entwicklungsaufgabe an. Er beschreibt Strategien sozialer Unterstützung, die geeignet sind, fehlangepasste Bewältigungsstrategien zu überwinden, indem sie jungen Menschen helfen, sich mit den eigenen Fähigkeiten und mit den Menschen ihrer Umgebung neu zu verbinden und neue, erfolgreichere Muster der Bewältigung zu erlernen. Das Beispiel der Flex-Fernschule verdeutlicht die konstitutionellen und konzeptionellen Voraussetzungen und die methodisch inhaltlichen Aspekte derartiger Strategien.

Grundlagen einer erfolgreichen Förderung – empirische Erkenntnisse

Der empirische Teil der Dissertation fragt im Anschluss an die theoretischen Darlegungen nach den Grundlagen einer erfolgreichen Förderung von Schulverweigerern. Er fokussiert dabei die Situation von Absolventen, Ehemaligen und Lernenden der Flex-Fernschule. Das Streben nach gesellschaftlicher Teilhabe, die Motivation zum Lernen und der tägliche Anreiz beim Lernen, die Überzeugung von der eigenen Selbstwirksamkeit und die individuelle Unterstützung durch soziale Netzwerke werden hinsichtlich ihrer Relevanz und ihrer Wirkung als Ressourcenbereiche untersucht.

Der erste empirische Teil fragt nach den Sichtweisen der Betroffenen. Daher kommen qualitative Verfahren zur Anwendung, die Erhebungsmethode ist das problemzentrierte Interview nach Witzel. Der Interviewleitfaden ist so angelegt, dass der narrative Charakter der Untersuchungsmethode im Vordergrund steht. In der offenen Gesprächssituation explorieren die Interviewten subjektive Bedeutungsstrukturen, die im Interviewleitfaden nicht vorgesehen waren.

Die Auswertung der vollständig verschriftlichten Interviews erfolgt durch qualitative Inhaltsanalyse. Hierbei wird das Material zusammengefasst und strukturiert. Durch Reduktion werden die wesentlichen Inhalte herausgearbeitet. Die subjektiven Einschätzungen der Interviewten werden im Ergebnis herausgefiltert und fallübergreifend gebündelt, um einen für den angestrebten Theorieabgleich brauchbaren Datenbestand zu erhalten.

Der zweite empirische Teil stellt die Perspektive des Autors in den Vordergrund. Diese schließt an den im Theorieteil dargestellten aktuellen Forschungsstand an. Dort wurden vier Ressourcenbereiche als theoretische Konstrukte begründet und als Grundlage der Förderung von Schulverweigerern identifiziert. Das Risiko-Resilienz-Konzept wird auf das „Modell eines Kontinuums von Schulbiographien zwischen Scheitern und Gelingen“ angewandt.

Durch die Verbindung der vier ausgewählten ressourcenbezogenen Konstrukte mit diesem Modell wird eine eigenständige Theoriebildung realisiert. Das darin zum Ausdruck gebrachte Vorverständnis des Autors wird in Hypothesen präzisiert, deren Überprüfung der zweite Forschungsteil dient. Es kommen teilstandardisierte Fragebögen als quantitative Methode der Datenerhebung zur Anwendung. Die Auswertung erfolgt deskriptiv und analytisch-inferenzstatistisch.

Zum Abschluss des empirischen Forschungsteils werden im Rahmen einer Methoden- und Theorie-Triangulation die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung mit denen des quantitativen Teils in Bezug gesetzt und miteinander verglichen. Während der qualitative Forschungsanteil die Sicht der befragten jungen Menschen in den Vordergrund stellt, ist der quantitative Zugang stärker durch die Perspektive des Autors bestimmt. Der qualitative Zugang hebt stärker auf Prozessaspekte ab, während die quantitativen Messinstrumente die strukturellen Aspekte betonen. Der Abgleich der Daten trägt zur Validität und zur Reliabilität der Ergebnisse bei. Ergänzt durch die quantitativ gemessenen Ergebnisse wird die Allgemeingültigkeit der aus den Interviews abgeleiteten Aussagen erhöht. Umgekehrt werden die quantitativen Daten durch qualitative Erkenntnisse einer besseren Interpretation zugänglich gemacht.“

Quelle: flexfernschule Thomas Heckner

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