Potenziale nutzen, Wert vermitteln, Menschenleben retten: Düzen Tekkal im Interview

Düzen Tekkal ist eine jesidisch-deutsche Journalistin, Politologin, Kriegsberichterstattern, Autorin und Publizistin. 2015 hat sie mit HÁWAR.help einen Menschenrechtsverein gegründet, der Entwicklungs- und Bildungsprojekte im Irak und in Deutschland sowie internationale Sensibilisierungs- und Aufklärungsinitiativen durchführt. Sie setzt sich auf unterschiedlichen Ebenen unermüdlich für Menschenrechte ein – momentan und aufgrund der aktuellen dramatischen Lage ganz besonders für Frauen in Afghanistan. Sie berichtet uns im Interview von ihrer Initiative „GermanDream“ und was Menschen mit (und ohne) Zuwanderungsgeschichte brauchen, um sich in Deutschland willkommen zu fühlen.

Mit „GermanDream“ hast du inspirierende Botschafterinnen für Demokratie wie Cem Özdemir oder Sara Nuru in Schulen gebracht, die jungen Menschen von ihrer eigenen Biografie und ihren Herausforderungen als Menschen mit Migrationsgeschichte erzählen. Jetzt wirbt Germa Dream gemeinsam mit Facebook bei Bürger_innen mit Migrationsgeschichte dafür, am 26. September wählen zu gehen, u.a. mit Eko Fresh und Vladimir Burlakov. Was hält diese Zielgruppe denn bisher davon ab, sich an Wahlen zu beteiligen? 

Das sind ganz unterschiedliche Gründe. Vor allem hat es etwas damit zu tun, dass in Deutschland zehntausende Menschen mit Migrationsgeschichte leben, die hier nicht wahlberechtigt sind und dass 60% von den wahlberechtigten Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nicht wählen gehen. Das kann uns nicht zufriedenstellen. Es hat auch etwas damit zu tun, dass die Menschen, die hier zur Welt gekommen sind, nicht automatisch deutsche Staatsbürger geworden sind – ich bin selbst das beste Beispiel dafür. Mein Vater musste hart dafür kämpfen, dass wir als kurdisch-jesidische Familie aus der Türkei die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen. Deswegen war es nie eine Selbstverständlichkeit zu wählen, sondern ein Recht, das wir uns hart erarbeiten mussten. Dazu kommt, dass Menschen teilweise aus Herkunftsländern und Regionen gekommen sind, in denen es keine freien Wahlen gab oder es keine Selbstverständlichkeit war, dass man als mündiger Bürger einen Unterschied machen kann. Es kommen aber auch Sprachbarrieren dazu, zum Beispiel, dass es bis heute keine Regierungskommunikation gibt, die alle Haushalte erreicht und die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte das Gefühl vermittelt, dass sie dazugehören und dass auch ihre Stimmen zählen. Weder finden sie dort Menschen, die so aussehen wie sie, noch fühlen sie sich hinreichend repräsentiert – zum Beispiel auch im Deutschen Bundestag, wo nur etwa 8 % eine Zuwanderungsgeschichte hat. Das ist natürlich viel zu wenig und bildet nicht das Repräsentationsverhältnis ab, das angemessen wäre. Wenn ich an unsere Familie denke, dann nehme ich auch wahr, dass viele Angst haben, etwas falsch zu machen. Das sind meistens Kleinigkeiten wie bürokratische Hürden, aber alles, was sich erstmal fremd anfühlt, das isoliert auch. Es geht aber auch um Frustrationserfahrungen und um ein Staatsverständnis, das vermittelt wurde. Wir betreiben bis heute keine gezielte Einwanderungspolitik oder begreifen uns als Einwanderungsland. Das verändert sich gerade langsam, wird aber immer noch von vielen in Abrede gestellt. Deshalb glaube ich, dass hier ganz wichtige Potenziale verloren gehen, denn jede Nicht-Stimme ist eine Stimme für Parteien wie die AfD oder extreme Parteien allgemein. Aus dieser Gemengelage erklärt sich die geringe Wahlbeteiligung bei Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Aber wir haben es ja auch generell gerade mit Entkopplungsprozessen von Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte zu tun, durch die der Glaube in die Rechtsstaatlichkeit gerade zumindest Risse erfährt. Deshalb haben wir diese Initiative ins Leben gerufen, weil wir das Thema Wahlen und Einwanderung in einem Land der Vielen positiv und nicht defizitär besetzen wollen und tolle Menschen zeigen wollen, die in beiden Welten zuhause sind. Als Wertebotschafter sprechen sie in ihrer Herkunftssprache zu der Wählergruppe und auch in der deutschen Sprache. Wir haben so viele Potenziale liegen lassen, weil wir Deutschland und diese Demokratie nie adäquat genug verkauft haben. Deshalb versteht sich GermanDream als Vermittler vom „Wert der Werte“. 

Die schrecklichen Bilder und Geschichten aus Afghanistan lassen gerade viele Menschen in Deutschland nicht kalt, während schon wieder einige Politiker*innen „Verhältnisse wie in 2015“ heraufbeschwören, als sich viele Geflüchtete aus Syrien auf den Weg nach Europa und nach Deutschland machten. Mit HÁWAR.help seid ihr gerade ganz nah dran an den Schicksalen jener, die gerade in Afghanistan um ihr Leben fürchten oder um das Leben ihrer Angehörigen. Wie nimmst du die Perspektiven Jugendlicher und junger Erwachsener wahr, die vor der Rückkehr der Taliban neue Hoffnung für Afghanistan geschöpft hatten und nun alles verlieren? 

Mit HÀWAR.help sind wir näher dran als mir teilweise lieb ist, weil wir 24/7 an nichts anderes denken können. Es ist wie ein Dejá-Vu und erinnert mich an meinen Menschenrechtsverein, den ich auf der Asche des Völkermordes an den Jesiden gegründet habe. Es sind dieselben schlaflosen Nächte, dieselben Gedanken darüber, wie wir Menschenleben retten können. Die Emails, die Gesichter, die Reisepässe, die Hilferufe, die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit, die auf unseren Schreibtischen landet – wir gehen in einer Tour diese Listen durch und versuchen alles zu tun, was wir tun können und können gar nicht genug helfen, da nach wie vor Menschen in Afghanistan zurückgelassen werden. Die Menschen, die zurückgelassen werden und um ihr Leben fürchten, sind Menschen wie Du und Ich. Dafür müssen wir sensibilisieren! Diese Menschen sind nicht anders, sie sind auch nicht anders sozialisiert. Mir schreibt zum Beispiel ein 20-jähriger Afghane, dass er Angst hat, dass ihm Gliedmaßen entfernt werden, weil er tätowiert ist, weil er den „westlichen Lebensstil“ – was auch immer das sein mag – gelebt hat und weil er für amerikanische, für englische, für deutsche Journalisten gearbeitet hat. Das sind Leute, die sich für unsere Lebensweise entschieden haben und die lassen wir jetzt im Stich. Dieser junge Mann schickt mir Videos auf WhatsApp, in denen er mir zeigt, dass er sich versteckt, während ihn die Taliban suchen. Da kann man nicht einfach weitermachen und zur Tagesordnung übergehen! Ich bin deswegen in dieses Thema Afghanistan so reingegangen, weil ich gespürt habe, worum es gerade geht, denn das ist nichts, was uns unbekannt vorkommt: Wir wissen um die Gräueltaten islamistischer Terrorakte, wir wissen, wozu der IS in der Lage ist und wir wissen auch, dass der IS und die Taliban trotz vieler Unterschiede Glaubensbrüder in der Entrechtung von Frauen sind. Allein die Tatsache, dass es Dekrete gibt, in denen steht, dass Taliban unverheiratete oder alleinerziehende Frauen zwischen 12 und 47 Jahren einfach heiraten dürfen – das zeigt doch, wo wir gelandet sind. Das sind Frauen, die noch nie Hijab getragen haben, die ihrem Beruf nachgegangen sind, sie waren Journalistinnen und Menschen- und Frauenrechtsaktivistinnen und jetzt sind sie in Lebensgefahr. Die Perspektive der Jugendlichen in Afghanistan ist wie ein Gefängnis, als würden sie in er Falle sitzen. Ein anderes kleines Beispiel: Eine TV-Journalistin fuhr ein eigenes Auto. Das war ein Stück Freiheit für sie, nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern ein Lebensraum. Im Auto hat man sich ausgetauscht, Videos gedreht – all das soll jetzt vorbei sein! Die Taliban nehmen den Frauen die Autos weg und alle ihre Hoffnungen werden zunichte gemacht. Wichtig ist, dass wir in Deutschland und Europa erkennen, dass es nicht nur ein Vertrauensbruch jenen Menschen gegenüber ist, die wir im Stich gelassen haben, sondern auch der Politik unserer Wertegemeinschaft gegenüber und wir werden uns noch wundern, wie lange es dauern wird, dieses Vertrauen wieder aufzubauen. Auch das habe ich bei Hawár gelernt: dass wir den Menschen, den Geschichten, ein Gesicht geben müssen neben den News und Zahlen. Und deshalb bin ich besonders stolz, dass wir in unserer Pressekonferenz Zarifa Ghafari, eine geflohene afghanische Bürgermeisterin begrüßen durften, eine Heldin von unschätzbarem Wert, die so viele Familienangehörige, u.a. ihren Vater, an die Taliban verloren hat, die selbst drei Mordversuche überlebt hat. Diese Frauen spielen als Zeitzeuginnen eine unschätzbar große Rolle, denn sie erinnern uns daran, was in Afghanistan passiert und dass wir den Taliban keinen Glauben schenken dürfen. Wir kümmern uns schon lange um Frauen, die von Terrorismus betroffen sind, wir haben multireligiöse Frauenhäuser im Irak, denn unser Ansatz bei HÁWAR.help war schon immer universell, genauso wie der Einsatz für Frauenrechte, egal wo sie herkommen. Deswegen können wir gar nicht anders, als für Afghanistan da zu sein. 

Als BAG KJS sind wir u.a. auch Programmträger der Jugendmigrationsdienste. Rund 130 Jugendmigrationsdienste (JMD) in katholischer Trägerschaft begleiten bundesweit Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationsgeschichte bei ihrem Integrationsprozess in Deutschland, u.a. mittels individueller Angebote und professioneller Beratung, u.a. in Bezug auf Bürokratie und mangelnde Teilhabemöglichkeiten. Mit Blick auf die kommenden Monate und Jahre und die weitere Destabilisierung im Nahen Osten: Was können die Jugendmigrationsdienste tun, was können wir tun, um jungen Menschen aus Afghanistan einen guten Start in Deutschland zu bereiten? 

 Ich glaube, dass es wichtig ist, dass die Jugendmigrationsdienste erkennen, wo diese Menschen eigentlich herkommen, welchen Weg sie hinter sich gebracht haben und dass sie auch psychisch und seelisch dort abgeholt werden müssen. Es braucht ganz konkrete Integrationsmaßnahmen – und das soll nun nicht banal klingen – die sie in die Bürokratie und in die hiesigen Systeme und ihre Möglichkeiten einführen. Ich erlebe immer wieder, wie lichterloh diese Menschen von mehreren Seiten brennen und sie ihre neue und alles andere als selbstverständliche Freiheit sinnstiftend für andere einsetzen möchten, um etwas in ihrem und im Leben anderer zu verändern. Diese Integrationsprozesse müssen gemeinsam im Sinne unserer Gesellschaft erfolgen. Wir hören immer wieder, dass eine positive Geschichte keine erzählenswerte Geschichte sei – das ist auch einer der Hauptgründe, warum ich GermanDream gegründet habe: weil ich als Journalistin beigebracht bekommen habe, dass eine gute Geschichte keine Geschichte ist. Ich finde aber, dass eine gute Geschichte die erzählenswerteste Geschichte überhaupt auf der Welt ist. Lasst uns den Blick mehr auf die Integrationserfolge lenken und den Menschen von Anfang an erklären, wo wir sind und wie es um unsere Werte bestellt ist, wie es um die Gleichberechtigung bestellt ist, dass es auch heiße Themen gibt, die man nicht ausklammern, sondern ansprechen sollte. Und gleichermaßen sollte man erkennen, dass es sich um Menschen handelt, die sehr vulnerabel sind und wir sie in ihren Lebensverhältnissen abholen müssen. Denn man darf nicht vergessen: Viele Menschen sind sehr traumatisiert. Das kommt mir leider häufig viel zu kurz, auch wenn es schon tolle Organisationen gibt, die damit arbeiten. Außerdem müssen wir mit den Menschen arbeiten, die aus diesen Regionen kommen und schon längst hier Mittler sind. Es leben schon über 300.000 Afghanen in Deutschland in der Diaspora, ebenso wie Jesiden und Kurden und Türken – es sind ja schon viele Menschen hier, die eine sehr gute Vermittlungsrolle einnehmen können. 

Liebe Düzen Tekkal, von ganzem Herzen „Danke!“ für das Interview und dein Engagement! Wir bleiben am Thema dran! 

 Quelle: BAG KJS  Bildquelle: Düzen Tekkal – Richard Pflaume

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