Mit voller Wucht gegen zentrale Menschrechte 

Der mutmaßliche Terroranschlag mit einem Küchenmesser beim „Festival der Vielfalt“ in Solingen hinterließ Tote und Verletzte. Er reißt seit August zugleich durch die ausgelöste gesellschaftliche und politische Debatte Wunden in zentrale Grundrechte des Grundgesetzes: die Menschenwürde (Artikel 1), die Freiheit der Person (Artikel 2), die Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 3) oder das Recht auf Asyl (Artikel 16a) – alle werden offen infrage gestellt. Eine Meinung zu den lauten populistischen und leisen sachlichen Tönen in der Debatte um Menschen, die in Deutschland leben oder hier wie anderswo in Europa Zuflucht und ein friedliches und sicheres Leben suchen:

Aufkündigen der Solidarität 

Die Debatte im Bundestag zum sogenannten „Sicherheitspaket“ zeigt, welche Wucht der Terrorakt weiter entfaltet. Abgeordnete argumentieren ohne Zweifel für mehr staatliche Überwachung – biometrische Abgleiche mit öffentlich zugänglichen Daten im Internet inklusive. Sie bieten Argumente für dauerhafte Grenzkontrollen, rigoroses Zurückweisen und Abschieben oder für das Aufkündigen der Solidarität. Das reicht bis zum menschenunwürdigen Entzug lebensnotwendiger Unterstützung für jene, deren Asyl abgelehnt wurde – damit sie freiwillig die Flucht aus Deutschland ergreifen. Manchen geht selbst das beschlossene Abschrecken nicht weit genug. Abgeordnete lehnen die Gesetze nicht ab, weil sie Würde, Freiheit oder Asylrecht zu sehr infrage stellen, sondern zu wenig. Sie fordern mehr Überwachung, mehr Härte und Ausgrenzung gegenüber allen Menschen, die aus ihrer Sicht in Deutschland und Europa unerwünscht sind.

Emotionen verdrängen Vernunft 

Regierungsmitglieder und Abgeordnete simulieren mit populistischem Getöse Handlungsfähigkeit. Sie tun das nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Staaten der Europäischen Union. Emotionen wie Wut, Angst und Hass stehen auf offener Bühne im Scheinwerferlicht. Die Vernunft muss hinter den Kulissen ausharren. Sie muss aber endlich wieder ins Rampenlicht.

Verunsicherung bei jungen Menschen 

Denn aus dem Blick geraten die vielen Redlichen, die nicht zu den wenigen zählen, die mit Absicht Lücken im System ausnutzen und Regeln verletzen. Jugendsozialarbeiter*innen berichten von großer Verunsicherung bei jungen Menschen, die nach Flucht oder Einwanderung um Integration und Teilhabe ringen. Sie berichten von Rassismus, Gewalt und Ausgrenzung gegen jene Jugendlichen, die Nicht-Deutsch gelesen werden; und gegen Fachkräfte, die diese jungen Menschen unterstützen. Aus dem Blick gerät leider eine demokratische Zivilgesellschaft, die den Alarmismus um „Migration und Asyl“ als Ablenkung von anderen zentralen Problemen sieht. Das Bündnis „Zusammen für Demokratie“ (https://zusammen-fuer-demokratie.de) bringt es auf den Punkt: „Statt drängende Zukunftsfragen wie die Bildungskrise, die Wohnungsnot, den Fachkräftemangel und die notwendige Transformation zu einer klimaneutralen, sozialen Wirtschaft endlich nachhaltig zu beantworten, liegt der Fokus vor allem auf dem Thema Asyl“.

Zur Erinnerung: 75 Jahre Grundgesetz 

„Sicherheitspakete“, die keinen Terrorakt verhindern können, oder Debatten, die Menschengruppen diskreditieren und Gesellschaft spalten, sind zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes einer demokratischen Gesellschaft unwürdig. Das Ringen um einen sachlichen Dialog, mit dem drängende Probleme vernünftig gelöst werden, ist zum Erhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der unantastbaren Menschenwürde notwendiger denn je.

Autor: Michael Scholl, Grundlagenreferent der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit

Quellen: Bündnis „Zusammen für Demokratie“, Katholische Nachrichtenagentur, Pro Asyl, Bundestag, Bundesrat 

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