Menschen mit Einwanderungsgeschichte: Unsicherheit wirkt auf alltägliche Mobilität

Forscherinnen am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) haben nach Ursachen für längere Mobilitätszeiten von Menschen mit Einwanderungsbezug gesucht. Eine zentrale Erkenntnis: Vor allem Sicherheitsbedenken und politische Ausgrenzung sorgen für längere Wege in der alltäglichen Mobilität. Betroffen sind meist junge Menschen.

Sarah George, Katja Salomo und Theresa Pfaff haben als Autorinnen der Studie die Erhebung „Mobilität in Deutschland” (MiD) ausgewertet, die vom Sozialforschungsinstitut infas im Jahr 2017 im Auftrag des damaligen Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur erstellt wurde. Mit mehr als 50.000 Befragten ist sie zudem repräsentativ für alle Altersgruppen. Die These der Wissenschaftlerinnen: Das Leben in benachteiligten Vierteln, die einen mangelnden Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln und lokalen Dienstleistungen bieten, trägt zu höheren Wegzeiten von Zuwanderer*innen in deutschen Städten bei. Tatsächlich spielen der Wohnort und die Anbindung an öffentliche Infrastruktur eine Rolle – jedoch deutlich weniger als angenommen. Bus und Bahn fahren laut Netzplänen in Stadtteile, in denen ein hoher Anteil an Menschen mit Einwanderungsbezug geballt lebt. Allerdings ist der Takt häufig unzuverlässig, vor allem in verkehrsdichten Zeiten. Im Früh- und Feierabendverkehr verlängern sich Fahrtzeiten teilweise erheblich.

Unbehagen und Verletzlichkeit

Viele Studien, die sich mit Aufwand und Ausgaben für Wegzeiten befassen, konzentrieren sich auf das berufliche Pendeln. Das sei zwar ein wichtiger Aspekt der täglichen Mobilität, konstatieren die Autorinnen der Studie. Andere Aktivitäten tragen ebenso stark zur gesamten Mobilität bei. Dazu gehören zum Beispiel das Erledigen von Besorgungen wie Lebensmitteleinkäufe oder das Wahrnehmen von Arztterminen, oder die tägliche Mobilität im Zusammenhang mit Betreuungsaufgaben, wie das Bringen der Kinder zur Schule und zu Freizeitaktivitäten. Menschen mit Einwanderungsbezug benötigen rund 10 Prozent mehr Zeit dafür als der Durchschnitt. Vor allem für weibliche Personen mit Einwanderungsgeschichte kommen Faktoren hinzu, die Mobilitätszeiten deutlich verlängern. In qualitativen Interviews haben die Forscherinnen herausgefunden, dass die Mehrheit der Befragten ein Gefühl des Unbehagens und der Verletzlichkeit im öffentlichen Raum nannten – insbesondere nachts. Bestimmte Orte und Wege werden aufgrund von Sicherheitsbedenken gemieden, was zusätzlich zu längeren Fahrzeiten beitrug.

Fehlender Einfluss auf Verkehrspolitik und Stadtplanung

In den Interviews tauchte ein weiterer Aspekt auf: das Gefühl, politisch ausgegrenzt zu sein. Konkret besteht ein allgegenwärtiges Gefühl der Entfremdung von politischen Entscheidungsprozessen, die über Verkehrspolitik und Stadtteilplanung bestimmen. Wenn also die Erhebungen und Beobachtungsdaten der Forscherinnen als Grundlage für Verkehrspolitik und Stadtplanung dienen, werden die täglichen Mobilitätsbedürfnisse bestimmter Gruppen systematisch missverstanden oder ignoriert: Sicherheitsbedenken oder sexuelle, rassistische und andere Formen der Belästigung sind in der Planung nicht berücksichtigt.

Wirkung auf Wohlbefinden und Engagement

In der Bilanz stellen die Autorinnen der Studie ebenfalls fest, dass ein hoher Zeitaufwand für Mobilität unter anderem negativ auf Gesundheit und Wohlbefinden, Beschäftigung und bürgerschaftliches Engagement wirkt. Wer im öffentlichen Nahverkehr, zu Fuß oder mit dem Rad Zeit verliert, gerät schnell unter Stress oder kann Termine nicht einhalten. Weil Zeit eine wertvolle Ressource ist, kann der Mangel an Zeit – ausgelöst durch Mobilität – tiefgreifende negative Folgen für das geistige, körperliche und wirtschaftliche Wohlbefinden haben.

Text: Michael Scholl

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