Ein Meinungsbeitrag von Silke Starke-Uekermann, Referentin bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. und Projektleiterin des Monitors „Jugendarmut in Deutschland“, zum Startchancen-Programm.
Es war der 16. November 2018, als der damalige Parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Oliver Wittke, bei der Veröffentlichung des Monitors „Jugendarmut in Deutschland 2018“ verkündete: Bund und Länder werden gemeinsam ein Programm an den Start bringen, über das gezielt junge Menschen, junge arme Menschen, an Schulen in sogenannten sozialen Brennpunkten gefördert würden. Man wolle Armut gezielt bekämpfen; weg vom „Gießkannen-Prinzip“, hin zum „Wasserschlauch-Prinzip“. Man wolle denjenigen Chancen eröffnen, die, wie der Monitor es zutreffend beschreibe, nicht nur von monetärer Armut betroffen seien, sondern auch von Chancenarmut. Knapp 5 Jahre später wird es konkreter mit dem Ermöglichen von Chancen. Die BAG KJS hat bereits in zwei weiteren Monitoren die Lebenslage armer junger Menschen in Deutschland skizziert und die Politik zum Handeln aufgefordert. Nun soll sie ab dem Schuljahr 2024/25 kommen, die Förderung junger Menschen mit dem Wasserschlauch. Bund und Länder haben sich auf die Eckpunkte für die Programmgestaltung geeinigt. Die Einigung auf eine Förderung abseits des Königsteiner Schlüssels, über den sonst üblicherweise Fördergelder an die Bundesländer verteilt werden, wird von der Regierung als Glanzleistung gefeiert.
Was das Startchancen-Programm will
Mit dem Startchancen-Programm wollen Bund und Länder den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft entkoppeln und mehr Chancengerechtigkeit ermöglichen. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Hilfen des Bundes und der Länder, sondern auch um systemische Veränderungen, Veränderungen von Förderlogiken und eine Stärkung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens. Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien und Schulen in sozial schwieriger Lage werden mit dem Startchancen-Programm ab dem nächsten Schuljahr gezielt mit jährlich insgesamt zwei Milliarden Euro gefördert.
Im Monitor „Jugendarmut in Deutschland 2018“ haben wir 3,4 Millionen von Armut betroffene Kinder und Jugendliche dokumentiert und zusätzlich von einer Dunkelziffer von rund einer Million junger Menschen gesprochen. Laut Monitor „Jugendarmut in Deutschland 2022“ weisen sogar die amtlichen Statistiken so viele armutsgefährdete bzw. armutsbetroffene junge Menschen aus, dass wir von 4,18 jungen Menschen unter 25 Jahren sprechen müssen. Armut junger Menschen wird also nicht weniger. Umso wichtiger, dass politische Entscheider*innen diese nun gezielt angehen wollen.
4.000 Brennpunktschulen sollen mit dem Programm über zehn Jahre gefördert werden. Der Bund gibt dafür jährlich eine Milliarde Euro, die Länder ebenfalls. Über die Details hatten sich beide Seiten immer wieder gestritten. Zu Beginn sollen mindestens 1.000 Schulen dabei sein. Bis zum Schuljahr 2026/27 wird sukzessive auf die 4.000 Schulen aufgestockt.
Reichen angesichts der vielen von Armut betroffen jungen Menschen 4.000 Schulen? Ich meine „Nein“! Über das Programm werden rund 10 % der Schüler*innen erreicht werden können. Rund ein Viertel, also 25 %, der jungen Menschen in Deutschland ist arm beziehungsweise armutsgefährdet. Angesichts der unzureichend ausgestatteten Kinderundsicherung und die im Raum stehenden Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe im Bundeshaushalt 2024 halte ich die Absicht des Programms nicht für verkehrt. Aber um die Trendwende in der Potenzialentfaltung der jungen Generation zu schaffen, ist es meines Erachtens nicht mehr als ein Anfang.
Säulen-Aufbau des Programms
Bei aller Kritik: Das Programm bietet mit seiner auf 10 Jahre angelegten Laufzeit und einer teilweisen Mittelvergabe über einen Sozialindex eine Neuerung in der Förderlandschaft. Das ist definitiv zu begrüßen. Das bietet Zeit und Raum, Dinge in Ruhe zu entwickeln und zu erproben. Es bietet eine mittelfristige Planungssicherheit. Mich würde erfreuen, wenn das die neue Messlatte andere künftiger Programmlaufzeiten würde. Ein bisschen viel Konjunktiv? Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Nicht auf einen Erfolg des Programms und nicht auf eine vernünftige Entwicklung von Fördermöglichkeiten zu Gunsten junger Menschen.
Das Programm beinhaltet drei Säulen, in denen Förderung möglich sein soll.
- Säule I: Investitionsprogramm für eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung
- Säule II: Chancenbudgets für bedarfsgerechte Lösungen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung
- Säule III: Personal zur Stärkung multiprofessioneller Teams
Jedoch sollen nur die Mittel der ersten Säule des Programms über einen Sozialindex verteilt werden. In den beiden anderen Säulen werden die Gelder, zumindest nach den jetzigen Plänen, weiter bedarfsunabhängig vergeben. Schade! Der Grundgedanke, der laut Wittke mit dem Programm verbunden war, Ungleiches ungleich zu behandeln, setzt sich nicht in der kompletten Finanzierung durch. Durch eine Vernetzung der schulischen Arbeit mit und in dem jeweiligen Quartier soll Schüler*innen der Startchancen-Schulen verstärkt der Zugang zu Infrastruktur und zielorientierten Angeboten der Kommunen, der Vereine und Initiativen ermöglicht werden.
Respekt Coaches passen nicht in Startchancen-Programm
In einer Sondersitzung des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 8. September 2023 kündigte die Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium, Ekin Deligöz, an, Erkenntnisse des Respekt Coaches Programm würden in das Startchancen-Programm überführt. Es gebe dazu Gespräche mit den Ländern. Die Ausschusssitzung war öffentlich und steht auf der Seite des Bundestages zur Verfügung.
Im Rahmen des RC-Programms arbeiten seit 2018 über 400 Respekt Coaches an 275 Standorten in über 600 Schulen mit dem Ziel, durch passgenaue Gruppenangebote jungen Menschen demokratische Werte in ihrer Lebenswelt zu vermitteln, Menschenfeindlichkeit und Extremismus in allen Formen vorzubeugen und auf diese Weise die Demokratie zu stärken. Zum Jahresende wird das Programm kurzfristig eingestellt – bisher ohne Ergebnissicherung und geregelte Überführung ins Startchancen-Programm.
Abgesehen davon: Das Startchancen-Programm ist eine schulische Fördermaßnahme, die sich auf sozial benachteiligte Kinder konzentriert. Die primärpräventive Arbeit der Respekt Coaches richtet sich an alle jungen Menschen, völlig unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status. Die Arbeit der Respekt Coaches im Startchancen-Programm aufgehen zu lassen, trüge zu einer weiteren Stigmatisierung von Armut betroffener junger Menschen bei. Nach dem Motto: Arme, benachteiligte Schüler*innen an Brennpunkten hätten politisch Bildung und Extremismusprävention besonders nötig.
In den Eckpunkten steht übrigens nichts zu den Respekt Coaches. Da wird lediglich darauf hingewiesen, dass das Startchancen-Programm hinsichtlich seiner Zielsetzung und Zielgruppe teilweise Schnittmengen und Anknüpfungspunkte zu bestehenden Programmen in Bund und Ländern aufweise. Und diese bei der Ausgestaltung zu berücksichtigen seien. Aber da sowohl die Zielgruppe und die Zielsetzung der beiden Programme so grundverschieden sind, kann dieser Absatz in den Eckpunkten wohl kaum auf die Respekt Coaches Bezug nehmen.
Mich interessiert sehr, wie das BMFSFJ/die Parlamentarische Staatssekretärin diesen Wiederspruch auflösen wird.
Quelle: BMBF; Bundesregierung; BAG KJS
Ein Beitrag von Silke Starke-Uekermann, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei der BAG KJS. Ein Kommentar oder Meinungsbeitrag ist eine persönliche Meinungsäußerung und muss nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln.