Auszüge aus der Positionierung Verankerung des Kindeswohlvorrangs im
Grundgesetz“ des DCV:
“ Der in den letzten Jahrzehnten vollzogene Paradigmenwechsel vom Kind als Objekt der Fürsorge zum Kind als eigenständigem Rechtssubjekt wurde insbesondere durch das 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Übereinkommen über die Rechte des Kindes verdeutlicht.
Auch im deutschen Rechtssystem wurden in den letzten Jahren die Rechte der Kinder gestärkt. Meist stand dabei der Schutz von Minderjährigen vor Gewalt und Vernachlässigung im Vordergrund. Zu nennen sind etwa die Einführung des Rechts des Kindes auf gewaltfreie Erziehung (2000) und zuletzt das Kinderschutzgesetz, das ab dem 01.01.2012 in Kraft trat.
Bisher ist es allerdings nicht gelungen, das in der Konvention zugesicherte Primat des Kindeswohls (Artikel 3) in der deutschen Gesetzgebung und Rechtspraxis adäquat zu verankern. Minderjährige stehen unter dem Schutz des Grundgesetzes. Allerdings werden Kinder bisher nur im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Eltern explizit genannt. So war es wiederholt Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, hervorzuheben, dass Kinder Rechtssubjekte sind und Träger eigener Rechte. Noch 2008 musste das Bundesverfassungsgericht betonen, dass das Elternrecht in Artikel 6 GG kein „Recht am Kind“ ist (Urteil vom 1. April 2008 – 1 BvR 1620/04).
Um die Subjektstellung des Kindes zu verdeutlichen und die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention zu befördern, ist nach Auffassung des Deutschen Caritasverbandes die Verankerung des Kindeswohlvorrangs im Grundgesetz ein geeigneter Schritt. …
Eine Verankerung des Kindeswohls im Grundgesetz entspräche einerseits der Tradition, das Grundgesetz veränderten gesellschaftlichen Lebenswirklichkeiten anzupassen – hier der geänderten Haltung zu kinderspezifischen Rechten. Es würde aber auch eine Neuerung darstellen, die über die bisherigen Ergänzungen wie z. B. die Benennung von Diskriminierungsmerkmalen in Art. 3 GG hinausgeht. Kinder werden damit als besonders verletzliche Personen unter eine ausdrückliche Schutz-, Fürsorge- und Förderpflicht des Staates gestellt. …
Der Deutsche Caritasverband schlägt daher vor, zur Verankerung des Kindeswohls im Grundgesetz einen neuen Absatz 3 in Artikel 2 GG aufzunehmen: „Jedes Kind hat Anspruch auf Schutz, Fürsorge und Förderung. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“ „
Auszüge aus der Begründung:
“ …. Kindeswohl und Kinderrechte im deutschen Rechtssystem
Das Kindeswohl ist ein unbestimmter Begriff und wurde im Laufe der Zeit immer wieder neu ausgelegt. Eine bindende Definition gibt es nicht, gleichwohl ist das Kindeswohl kein beliebiger Rechtsbegriff. Umfasst sind insbesondere der Schutz vor Gewalt, der Anspruch auf Fürsorge und Förderung sowie der Anspruch auf Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit.
Im Deutschland der letzten Jahrzehnte ist das Kindeswohl in Folge sich wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse und Wertvorstellungen und unter Berücksichtigung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zunehmend in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt. Dies hat auch zu einigen Rechtsänderungen geführt. … Auch die Rechtsauslegung des Kindeswohlbegriffs hat sich in den letzten Jahrzehnten entsprechend der aufgezeigten Entwicklungen verändert und betont stärker die individuellen Interessen und Teilhaberechte des Kindes.
In der Kinderrechtskonvention selbst ist keine spezifische Definition des Kindeswohlbegriffs enthalten. Vielmehr ist der Kindeswohlvorrang als Leitprinzip des Abkommens zu verstehen. Das Kindeswohl ist im Sinne aller dargelegten Artikel zu begreifen und so auszulegen, dass ihre Realisierung gefördert wird. Es muss demnach im konkreten Einzelfall und im Kontext der individuellen Situation erwogen werden. Die Persönlichkeit des Kindes, seine Lebensumstände und Bedürfnisse sind in die Entscheidung miteinzubeziehen. Dabei müssen die Partizipationsrechte des Kindes berücksichtigt werden und das Kind entsprechend seinem Alter und seiner Reife an allen es berührenden Angelegenheiten beteiligt werden. …
Kindeswohlvorrang im Grundgesetz
Eine Aufnahme des Kindeswohlvorrangs im Grundgesetz würde klarstellen, dass bei der Anwendung einfachen Rechts das Kindeswohl immer als vorrangiges Kriterium in den Abwägungsprozess einzubeziehen ist. Das bedeutet nicht, dass die Interessen von Kindern immer Vorrang vor den Interessen anderer haben. Sofern es sich um widerstreitende Interessen von vergleichbarem Rang handelt, muss entsprechend abgewogen werden und kann das Kindeswohl durchaus auch zurückstehen. Es müsste aber bei jeder gesetzgeberischen Entscheidung und bei jedem Verwaltungshandeln, welche ein Kind betrifft, die herausragende Bedeutung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Eingriffe in das Kindeswohl müssen gut begründet und verhältnismäßig sein. Der bloße Verweis, dass das Ausländerrecht der Sicherheit und Ordnung dient, würde beispielsweise nicht genügen. Eine konkrete Abwägung zwischen Kindeswohl und Sicherheitsinteressen bleibt aber nötig und möglich.
Für einige der in der UN-Konvention spezifizierten Kinderrechte lassen sich derzeit ohne weiteres Entsprechungen im Grundgesetz finden, aber nicht für alle. Letzteres gilt etwa für das Diskriminierungsverbot oder das Recht mit der Familie zusammenzuleben. Beide Rechte sind in der Kinderrechtskonvention umfassender formuliert als im Grundgesetz. Das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit und Zugang zu allen Gesundheitsdiensten korrespondiert mit Art. 2 Abs. 3 GG. Allerdings darf in dieses Grundrecht auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden – was derzeit durch die Regelungen des AufenthG und des AsylbLG auch geschieht. Um das Recht künftig unabhängig vom ausländerrechtlichen Status zu gewährleisten, bedarf es also noch weiterer Umsetzungsschritte. … Ein Grundrecht auf Bildung ist im Grundgesetz nicht explizit verankert, das Recht den Ausbildungsplatz frei zu wählen steht nach Art. 12 GG nur Deutschen zu. Als Anknüpfungspunkt für diese Rechte könnten möglicherweise Art. 1 und Art. 2 dienen. Auch wenn teilweise ein Klageweg über bestehende Regelungen in der Verfassung möglich ist, würde eine Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz den Rechtsweg für alle Kinder verkürzen.
Eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz würde mithin nicht dazu führen, dass gleichrangige Rechte und begründete Interessen gänzlich hinter dem Kindeswohl zurücktreten müssten. …
Auswirkungen auf die Gesetzgebung
Durch die Aufnahme des Kindeswohlvorrangs ins Grundgesetz wird dem Gesetzgeber eine klare Grundnorm vorgegeben, an die er sich bei der Ausarbeitung aller Gesetze und Maßgaben halten muss. …
Der grundgesetzlich geschützte Vorrang des Kindeswohls könnte auch als Anknüpfungspunkt für die Forderung dienen, die Kinderrechte im Einzelnen umzusetzen, die nicht – wie etwa das Recht auf Meinungsfreiheit oder die Rechte und Pflichten der Eltern – unmittelbar mit einem Grundrecht korrespondieren. Es würde vermieden, die Frage nach jeweils bestehenden verfassungs-rechtlichen Anknüpfungspunkten in langwierigen Verfahren vor das Bundesverfassungsgericht bringen zu müssen … .
Durch eine Änderung im Grundgesetz würde der deutschen Rechtsystematik genüge getan, generell abstraktes Recht zu setzen und die Rechtssetzung nicht den Gerichten zu überlassen. Letztlich würde zur Rechtssicherheit und Rechtsklarheit beigetragen. … “
Quelle: Deutscher Caritasverband
Dokumente: Begruendung_der_Positionierung.pdf