(Kinder)Armut ist in Deutschland oft ein Dauerzustand

Auszüge aus der Bertelsmann Studie Armutsmuster in Kindheit und Jugend von Silke Tophoven, Torsten Lietzmann, Sabrina Reiter und Claudia Wenzig:
Die Studie ist ein Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Lebensumstände von Kindern im unteren Einkommensbereich (LeKiE)“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.

„(…) Datengrundlage und Vorgehen der Studie
Die vorliegende Analyse bezieht sich auf Daten der Längsschnittstudie „Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS). In der für Deutschland repräsentativen Studie werden seit 2006 jährlich circa 15.000 Personen ab 15 Jahren in den teilnehmenden Haushalten zu ihrer materiellen und sozialen Lage wie z. B. Einkommen, Transferleistungsbezug, Wohnen, Erwerbstätigkeit, Gesundheit und soziale Teilhabe befragt. Für die dynamische Betrachtung der Armutslagen in der Kindheit wurde die Einkommenslage im Haushalt von insgesamt 3.180 Kindern im Zeitverlauf über jeweils fünf zusammenhängende Befragungszeitpunkte analysiert.

Um das Ausmaß der Kinderarmut zu beschreiben, wurden zwei (…) Konzepte zugrunde gelegt: Zunächst gelten diejenigen Kinder als einkommensarm bzw. einkommensarmutsgefährdet, die in Haushalten mit einem Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle leben. Zudem wird auch der SGB-II-Leistungsbezug als Armutslage berücksichtigt. Während sich die Armutsgefährdungsschwelle am mittleren Einkommen bemisst, orientiert sich die Höhe der SGB-II-Leistungen als Grundsicherung am soziokulturellen Existenzminimum. Aus der Verknüpfung von Einkommen, Einkommensarmutsgefährdung und SGB-II-Leistungsbezug lassen sich fünf differenzierte Einkommenslagen ableiten, die in die Analysen einbezogen werden: ## abgesicherte Lage,
## Zwischenlage,
## Einkommensarmut (ohne SGB-II-Bezug),
## SGB-II-Leistungsbezug (ohne Einkommensarmut) und
## Einkommensarmut und SGB-II-Bezug.
Als gesicherte Einkommenslage werden die ersten beiden Einkommenslagen (…) zusammengefasst, die anderen Einkommenslagen werden als nicht gesicherte Einkommenslagen bezeichnet.

Einkommenslagen von unter 15-Jährigen im Jahr 2015
Die differenzierte Betrachtung von Einkommenslagen von Kindern unter 15 Jahren in Deutschland zeigt für 2015, dass 65,7 Prozent in einer abgesicherten Lage aufwachsen und weitere 11,6 Prozent der Kinder in einer Zwischenlage zu verorten sind. Zusammengenommen leben demnach im Jahr 2015 drei Viertel der Kinder und Jugendlichen (77,3 Prozent) in einer gesicherten Lage, also ohne Einkommensarmutserfahrung oder SGB-II-Bezug. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass rund ein Viertel aller Kinder in einer nicht gesicherten Einkommenssituation aufwächst und somit als arm oder armutsgefährdet gilt. Bei 8 Prozent der Kinder liegt das Haushaltseinkommen unterhalb der 60-Prozent-Armutsgefährdungsschwelle – sie sind also einkommensarm -, beziehen aber keine SGB-II-Leistungen. Weitere 5,3 Prozent der Kinder leben in einem Haushalt mit SGB-II-Bezug, ohne jedoch einkommensarm zu sein. Insgesamt 9,5 Prozent der Kinder beziehen im Haushalt SGB-II-Leistungen und sind gleichzeitig einkommensarm. (…)

Eine differenzierte Betrachtung der fünf Einkommenslagen von einem Befragungszeitpunkt zum nächsten verdeutlicht ein hohes Maß an Konstanz: Die Kinder verweilen also häufig in ihrer anfänglichen Einkommenslage und wechseln selten in andere Einkommenslagen. Besonders stark ausgeprägt ist dies jeweils
für Kinder, die sich in der „abgesicherten Lage“ befinden, wie auch für diejenigen, die sich in der Einkommenslage „Einkommensarmut und SGB-II-Bezug“ befinden. Die meisten der Kinder aus diesen beiden Einkommenslagen behalten ihre Einkommenslage zum jeweils nächsten Zeitpunkt bei, d. h. Abstiege aus einer abgesicherten Einkommenslage und Aufstiege aus der Armutslage „Einkommensarmut und SGB-II-Bezug“ sind am unwahrscheinlichsten. (…)

Typische Einkommensverlaufs- bzw. Armutsmuster (…)
In einem weiteren Analyseschritt wurden aus den individuellen Verläufen der differenzierten Einkommenslagen typische Einkommensverlaufs- bzw. Armutsmuster, sogenannte Cluster, identifiziert: (…) ## Dauerhaft gesichert
## Temporär nicht gesichert
## Prekäre Einkommenslage
## Dauerhafter Leistungsbezug
## Dauerhaft nicht gesichert (…)
Bestimmungsfaktoren der Armutsmuster
(…)Außerdem wurden Zusammenhänge von haushaltstrukturellen und soziodemographischen Merkmalen der Kinder zur Zugehörigkeit zu einem der typischen Muster hergestellt. So können mit Hilfe multinomialer logistischer Regressionen Bestimmungsfaktoren für die fünf Muster identifiziert werden. Die Zugehörigkeit zu den beschriebenen typischen Einkommensverlaufsmustern steht insbesondere in Zusammenhang zum Haushaltstyp, zur Anzahl der im Haushalt lebenden Kinder unter 15 Jahren, einem Migrationshintergrund, der höchsten Qualifikation der Eltern und dem Erwerbsstatus der Mutter. Vor allem für Kinder, die in einem Alleinerziehenden-Haushalt leben, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit dauerhaft in Armut aufzuwachsen (Cluster „Dauerhaft nicht gesichert“ sowie Cluster „Dauerhafter Leistungsbezug“). Gleiches zeigt sich für Haushalte mit drei und mehr Kindern unter 15 Jahren sowie für Kinder, die einen Migrationshintergrund oder gering qualifizierte Eltern haben. Arbeitslosigkeit der Mutter oder ein nur geringer Erwerbstätigkeitsumfang sind ebenfalls eng mit einer dauerhaften Armutslage verknüpft. (…)

Drei der fünf typischen Einkommensverlaufsmuster, zu denen insgesamt mehr als 85 Prozent aller Kinder zugeordnet werden können, sind durch den dauerhaften Verbleib in einer der Einkommenslagen gekennzeichnet („Dauerhaft gesichert“, „Dauerhafter Leistungsbezug“ und „Dauerhaft nicht gesichert“). Somit kann auch gefolgert werden, dass über einen Zeitraum von fünf Jahren Aufwie auch Abstiege weniger häufig zu beobachten sind. Dies spricht dafür, dass es schwierig ist eine nicht gesicherte Einkommenslage bzw. den SGB-II-Leistungsbezug zu überwinden. (…)

Armutsmuster und Grad der materiellen Versorgung
Weiterführend untersucht die Analyse, inwiefern es einen Zusammenhang zwischen den identifizierten typischen Einkommensverlaufsmustern während der Kindheit und der materiellen Versorgung mit bestimmten Gütern und Teilhabeaspekten gibt. Im Rahmen von PASS wird die Unterversorgung, d. h. ein Fehlen von Gütern aus finanziellen Gründen, anhand von 23 Einzelgütern bzw. Aspekten sozialer und kultureller Teilhabe erhoben. Auf dieser Grundlage können Deprivationsindizes zum Grad der Unterversorgung insgesamt, zum Grundbedarf sowie zur sozialen und kulturellen Teilhabe gebildet werden. (…)
Im Cluster „Dauerhaft nicht gesichert“ findet sich das größte Maß an Unterversorgung aus finanziellen Gründen findet. Im Durchschnitt fehlen dieser Gruppe 7,3 von 23 Gütern aus finanziellen Gründen. Auch das Cluster „Dauerhafter Leistungsbezug“ ist gekennzeichnet durch ein relativ hohes Maß an Unterversorgung (es fehlen durchschnittlich 4,9 Güter). Bei den beiden weiteren Armutsmustern fällt die Unterversorgung weniger gravierend, aber dennoch überdurchschnittlich aus:
Kindern des Musters „Prekäre Einkommenslage“ fehlen durchschnittlich 3,8 Güter aus finanziellen Gründen, Kindern des Musters „Temporär nicht gesichert“ 3,4 Güter. (…)

Fazit
Die durchgeführten Analysen und ihre Ergebnisse belegen, dass Längsschnittbetrachtungen notwendig sind, um differenziertere Aussagen zu Armut in Kindheit und Jugend treffen zu können. Betrachtet man die individuellen Einkommensverläufe von Kindern und ihren Haushalten, so leben etwa zwei Drittel (68,9 Prozent)dauerhaft in einer abgesicherten Einkommenslage. 31,1 Prozent der Kinder werden einem der vier identifizierten Armutsmuster zugeordnet. Darunter erleben 21,1 Prozent dauerhafte Armut (…) oder immer wiederkehrende Armut. (…)

Ein (dauerhafter) Übergang aus dem SGB-II-Bezug in eine gesicherte Einkommenslage sind eher selten. Für die Kinder und Jugendlichen, die einem der vier Armutsmuster zuzuordnen sind, bedeutet dies eine schlechtere Ausstattung mit wichtigen Gütern und Aspekten sozialer Teilhabe. Besonders deutlich wird die schlechtere Versorgungslage für Kinder, die dauerhaft in Armut leben.

Weitere Forschung ist dringend notwendig, um mehr über die Zusammenhänge zwischen Veränderungen von Lebensumständen von Kindern und dem Eintritt bzw. dem Verlassen einer Armutslage zu erfahren. Zudem müssen auch die Folgen von Armut für das Aufwachsen und die Chancen von Kindern genauer beleuchtet werden.“

Die Studie in vollem Textumfang lesen Sie über aufgeführtem Link.

Link: www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/armutsmuster-in-kindheit-und-jugend/

Quelle: Bertelsmann Stiftung

Ähnliche Artikel

Ohne sie ist alles nichts

Unter dem Motto „Ohne sie ist alles nichts“ fand der 14. Dialogtag der Katholischen Jugendsozialarbeit (KJS) Bayern Mitte Oktober in Regensburg statt. Im Mittelpunkt der

Skip to content