Auf dem 102. Katholikentag in Stuttgart machte die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. unmissverständlich deutlich: Junge Menschen haben ein Recht auf ein gutes und gesundes Aufwachsen. Doch bereits vor dem Ausbruch der Coronapandemie waren rund 3,2 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland armutsgefährdet. Die meisten von ihnen leben in Haushalten, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Jugendarmut beschneidet die Entwicklungs- und Teilhabechancen junger Menschen erheblich und oft dauerhaft, stellten die beiden Bundesarbeitsgemeinschaften Katholische Jugendsozialarbeit und Evangelische Jugendsozialarbeit im Rahmen einer ökumenischen Veranstaltung klar.
Für die katholischen Einrichtungen der Jugendsozialarbeit heißt Leben teilen auch Bildung teilen. Doch zu viele junge Menschen erfahren keine (Aus)Bildungsteilhabe. Wieso haben 2,3 Millionen junge Erwachsene keine abgeschlossene Ausbildung? Was muss sich konkret ändern, damit Bildungsgerechtigkeit für Alle Realität werden kann? Evelina Danyte, Auszubildende; Christian Füller, Journalist und Autor; Anna Grebe, Beraterin für Jugendpolitik und Andrea Nahles, künftige Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit diskutierten bei dem Großen Podium von IN VIA Deutschland und der BAG KJS „Zukunft für alle machen“ mit etwa 200 Gästen Hintergründe und Lösungen.
Jugendliche in Armut
Armut war bisher schon eine stete Begleiterin im Leben vieler junger Menschen. Rund ein Viertel der jungen Generation in Deutschland war bisher betroffen. Arme junge Menschen starten unter deutlich schlechteren Bedingungen in ihre Selbständigkeit als finanziell besser abgesicherte Gleichaltrige. Corona verschärfte diese Ungleichheit: Mangelnde digitale Teilhabe hängt arme Jugendliche in der schulischen Bildung noch weiter ab. Eine gute Berufsausbildung rückte so noch weiter in Ferne. Die Armutsschere ist auch bei Jugendlichen weiter auseinander gegangen.
Die im Koalitionsvertrag angekündigte Kinder- und Jugendgrundsicherung müsse schnellstmöglich kommen und nicht erst zum Ende der Legislaturperiode, waren sich die Vortragenden und das Auditorium einig. Dabei müsse sie mehr sein als ein Grundeinkommen, dass die nackte Existenz absichert, betonte Silke Starke-Uekermann von der BAG KJS auf der Veranstaltung zu Jugendarmut. Dr. Irina Volf vom Institut für Sozialpädagogik und Sozialarbeit verwies darauf, dass zu einem jugendgerechten Aufwachsen auch die Gestaltung von Freizeit und eine umfassende Teilhabe an Bildung, auch außerhalb der Schule, gehöre. Armut ist mehr als eine materielle Unterversorgung. Nachdem Philipp Löffler (Vorsitzender der LAG Jugendsozialarbeit Baden-Württemberg) berichtet hat, wie schwer es sei, marginalisierte Jugendliche zu erreichen und ihnen Hilfsangebote zugänglich zu machen, konnte Dr. Volf mit Langzeitstudien einen hoffnungsvollen Ausblick geben. Laut ihren Untersuchungen gelingt es zwei Dritteln armer Kinder die Armutsspirale bis zum jungen Erwachsenenalter zu durchbrechen.
Wie Bildungsgerechtigkeit gelingen kann
Christian Füller benannte Kritikpunkte zum schulischen Bildungssystem, die seit 20 Jahren bekannt seien: frühe Segregation, überkommene Lernmethoden und Kumulation von chancenarmen Schüler*innen in Schulen, etwa in Stadtteilen mit hoher Armutsbetroffenheit. Chancengleichheit kann nach seiner Auffassung zudem nur dann gelingen, wenn auf jeder Schule gemeinsames Lernen und ein Abschluss bis zum Abitur möglich sind.
Anna Grebe hob die zentralen Entwicklungsaufgaben in der Lebensphase Jugend hervor, die neben der Qualifizierung auch Verselbständigung und Selbstpositionierung umfasse. In diesem Sinne müssen Jugendliche konsequent gestärkt, gehört und in alle sie betreffenden Entscheidungen einbezogen werden. Dies sei in der Pandemie komplett ins Hintertreffen geraten.
Die Situation am Ausbildungsmarkt bleibt herausfordernd: Im Vergleich zum Vor-Corona-Niveau ist sowohl die Zahl der Ausbildungsbewerber*innen (-15,3%, -78.256) als auch die Zahl der Ausbildungsstellen weiter rückläufig (-10,6 %, -60.700).
Auch Evelina Danyte hatte es nicht leicht, ihr Ziel einer Ausbildung zur Altenpflegerin zu erreichen. Ihre größte Hürde ist und war des Erlenen der deutschen Sprache. IN VIA hat ihr nicht nur im Rahmen des Sprachkurses geholfen, sondern auch mit Beratung und Unterstützung ermutigt, nicht aufzugeben. Sie wünscht sich, dass die Ausbildung mehr Praxisanteile und weniger komplexer theoretischer Unterricht enthalten möge.
Andrea Nahles sieht neben der demografischen Entwicklung den Bewerber*innenrückgang darin begründet, dass unser aller Statusdenken z.B. handwerkliche Berufe nicht wertschätze. Hier sei jede*r Einzelne gefordert, die eigene Haltung zu überdenken. Um mehr Chancen auch für Hauptschüler*innen zu erreichen, muss ihrer Meinung nach die berufliche Bildung in Richtung modularer Teilqualifikationen weiterentwickelt werden.
Ein wichtiges Unterstützungsinstrument für Schüler*innen mit schlechten Startchancen ist die Berufseinstiegsbegleitung an Schulen, finanziert durch die Bundesagentur für Arbeit und die Länder. Seitdem sich die Länder mit einer 50%igen Kofinanzierung beteiligen müssen, haben viele Bundesländer das Instrument aufgegeben. Nahles versprach, sich für die flächendeckende Wiederaufnahme einzusetzen.
Quelle: BAG KJS; IN VIA Deutschland