Hartz IV: Neues Etikett oder Radikalreform?

Im Wahlkampf hatten Bündnis 90/Die Grünen und auch die SPD ambitionierte Pläne für eine Hartz IV-Reform plakatiert. Sozialverbände und Arbeitsloseninitiativen verfolgen daher gespannt, was sich hinter den Kulissen der Koalitionsverhandlungen tut. Denn was im Sondierungspapier zum Thema “Bürgergeld” zu lesen ist, trägt deutlich die Handschrift eines Kompromisses und geht hinter die Wahlkampf-Vorhaben zurück.

Arbeitsmarktforscher sieht keine überzeugende Alternative zu Hartz IV

Der Vizedirektor des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Ulrich Walwei, sieht im angekündigten Bürgergeld „keine wirklich überzeugende Alternative zu Hartz IV, die grundlegend anders wäre als das bestehende System“. Dennoch sollte die Grundsicherung neu justiert werden, sagte der Arbeitsmarktforscher dem Evangelischen Pressedienst (epd). Man könne mit Bedacht an verschiedenen Stellschrauben drehen, beispielsweise an den Hinzuverdienstregelungen oder dem Schonvermögen. 

Holger Schäfer, Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beim Institut der Deutschen Wirtschaft schätzt das geplante Bürgergeld ähnlich ein. Das bestehende System erfülle in vielen Bereichen seinen Zweck, bestätigte er dem epd. Nach Schäfers Auffassung werden sich das alte Hartz IV und das neue Bürgergeld nicht wesentlich unterscheiden. Auch Schäfer plädiert dafür, das Schonvermögen und die Zuverdienstmöglichkeiten zu überprüfen sowie die Angemessenheit der Wohnung. 

Sozialverbände: Keinen Etikettenschwindel mit dem Bürgergeld betreiben

Sozialverbände und Arbeitsloseninitiativen dagegen hoffen auf eine umfangreiche Reform und damit einen echten Neustart bei der Existenzsicherung. Der Evangelische Verband Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt appelliert an die neue Bundesregierung das Vertrauen der Bürger*innen in die Existenzsicherung wieder herzustellen. Für den Mitbegründer des Sozialhilfevereins Tacheles, Harald Thomé, würde mit dem Bürgergeld Hartz IV nur überwunden, wenn die Sanktionen abgeschafft und eine Mindestsicherung von 600,- Euro eingeführt werden würde. Für die Caritas, die BAG KJS und den Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit sind Reformen bei den Sanktionen ein entscheidender Punkt. Jeder Vierte bei den 18- bis 25-Jährigen ist armutsgefährdet und von besonders scharfen Sanktionsregeln bedroht. Anders als bei Erwachsenen können die Jobcenter den jungen Menschen den kompletten Regelsatz streichen und zusätzlich noch die Kosten für Unterkunft und Heizung. Daran, dass junge Menschen in die Wohnungslosigkeit getrieben werden, muss die nächste Bundesregierung etwas ändern. Bereits im Monitor „Jugendarmut in Deutschland 2018“ verdeutlichte die BAG KJS, dass die Anwendung dieser verschärften Sanktionsregeln im SGB II dazu führen würde, dass junge Menschen deutlich unter dem Existenzminimum leben. 

Quelle: epd; Tacheles; Diakonie Deutschland; Evangelischer Verband Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt; BAG KJS; Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit; domradio.de 

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