Belastungen im schulischen Umfeld als Risikofaktor für Schulabsentismus
Das Thema Schulabsentismus erfährt (im deutschsprachigen Raum) seit einigen Jahren zunehmend Aufmerksamkeit – nicht zuletzt aufgrund der Auswirkungen von Schulschließungen im Kontext der Covid-19-Pandemie. Wissenschaft und Praxis beobachten eine signifikante Zunahme dieses Phänomens. Feldhaus et al. (2025) zeigen, dass die Unterrichtsabwesenheit bei 15-Jährigen in den vergangenen zehn Jahren deutlich zugenommen hat. Besonders während der Corona-Pandemie registrierten Lehrkräfte einen starken Anstieg – vor allem an Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Familien (vgl. Deutsche Schulbarometer 2025).
Laut Eckhardt, Ried und Sommer (2023) tritt Schulabsentismus besonders häufig zu Beginn der Schulzeit sowie beim Übergang auf weiterführende Schulen auf, mit einem Höhepunkt in der 8. Klasse. In fast 70 Prozent der Fälle werden familiäre Probleme als (Mit-)Ursache genannt. Eine weitere Studie weist darauf hin, dass etwa ein Prozent der Grundschulkinder ohne krankheitsbedingten Grund dem Unterricht fernbleiben; in der 8. Jahrgangsstufe liegt dieser Anteil bereits bei vier Prozent (vgl. Ricking 2023). Zuverlässige und vergleichbare statistische Daten zum Ausmaß von Schulabsentismus liegen bislang nur in begrenztem Umfang vor. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass sowohl die Bundesländer als auch einzelne Schulen – sofern Schulabwesenheiten überhaupt systematisch dokumentiert werden – unterschiedliche rechtliche Verordnungen haben, verschiedene Definitionen und eigene Erhebungsmethoden verwenden.
Die Fachliteratur liefert diverse Ansätze zur Definition von Schulabsentismus. Grundsätzlich wird Schulabsentismus als „Fehlen im Unterricht in allen Erscheinungsformen“ (Sälzer 2023: 5) beschrieben. Konkret unterscheidet Sälzer (2023) zwischen folgenden Formen: Schulschwänzen, Schulverweigerung und Schuldistanz. Beim Schulschwänzen handelt es sich meistens um Jugendliche, die ohne das Wissen der Erziehungsberechtigten nicht zum Unterricht erscheinen. Stattdessen halten sie sich mit Freund*innen an Orten auf, die für sie im Moment spannender oder angenehmer wirken als die Schule – zum Beispiel in Einkaufszentren oder auf Spielplätzen. Bei der Schulverweigerung wissen die Eltern bzw. Sorgeberechtigten in der Regel Bescheid. Der Hintergrund ist oft, dass die Jugendlichen mit Ängsten zu kämpfen haben – zum Beispiel Prüfungsangst, Angst vor Mobbing oder vor schwierigen sozialen Situationen in der Schule. Diese Ängste wirken so belastend, dass sie den Schulbesuch unmöglich erscheinen lassen. Bei der Schuldistanz handelt es sich um eine besonders extreme Form der Schulverweigerung. Hier ist der Kontakt zur Schule bereits abgebrochen oder steht kurz davor, ganz verloren zu gehen. Die Jugendlichen haben so viel Unterricht verpasst, dass ein Wiedereinstieg schwerfällt. Oft zweifeln sie grundsätzlich an Schule als Institution oder daran, ob sie dort überhaupt einen Platz haben.
Das Phänomen hat multifaktorielle Ursachen und kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Ein mangelndes Wohlbefinden oder belastende Erfahrungen in der Schule können eine Ursache für schulabsentes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen sein, wie wissenschaftliche Untersuchungen immer wieder belegt haben (vgl. u. a. Feldhaus et al. 2025; Ricking 2023). So zeigen die Ergebnisse der jüngsten Ausgabe des „Deutschen Schulbarometers Schüler:innen“ aus dem Jahr 2024, dass das psychische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen weiterhin deutlich unter dem Niveau vor der Corona-Pandemie liegt:
- Ein Viertel der Jugendlichen schätzt die eigene Lebensqualität als niedrig ein.
- Rund ein Fünftel der Befragten fühlt sich psychisch belastet.
- Ebenso viele klagen über ein geringes schulisches Wohlbefinden, bei Kindern aus einkommensschwachen Familien ist fast jedes dritte Kind betroffen.
Zu den Hauptsorgen der Jugendlichen gehören die Kriege in der Welt, der Leistungsdruck in der Schule, die globale Klimakrise und die Ängste vor der eigenen Zukunft. Gleichzeitig zeigen weitere aktuelle Studien, dass die Abgangsquote junger Menschen ohne mindestens einen ersten Schulabschluss konstant hoch bleibt. Laut Bildungsbericht 2024 stieg sie sogar von 5,7% (2013) auf 6,9% (2022) (vgl. Parrisius 2025).
Unabhängig von der individuellen Ausprägung steht jedoch fest, dass schulvermeidendes Verhalten gravierende Folgen für die gesamte Lebensgestaltung junger Menschen haben können. Laut Feldhaus und Rau „korreliert Schulabsentismus mit vorzeitigen Schulabbrüchen, dem Verlassen der Schule ohne Schulabschluss, einem höheren Risiko von Arbeitslosigkeit und prekären Lebenslagen“ (vgl. 2025: 59f). Nachweislich schwächt also schulische Ausgrenzung das gesunde Aufwachsen junger Menschen zu einer selbstbestimmten, zufriedenen Persönlichkeit. Isolation, psychische Belastungen bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen können die Folge sein. Aber auch der berufliche Weg und damit Chancen auf ein auskömmliches Leben der jungen Menschen sind in Gefahr.
Verschiedenste Konzepte und Beispiele zum Umgang mit Schulabsentismus gibt es bereits bundesweit. So zeigen Studien, dass Maßnahmen, die ein einheitliches, kooperatives und transparentes Vorgehen beinhalten, besonders erfolgreich im Vorgehen gegen Schulabsentismus abschneiden (vgl. Sälzer 2023; Sälzer/Lenski 2016). So können Schulen aktiv gegen Absentismus vorgehen, indem sie eine klare Haltung zu diesem Verhalten einnehmen. Gleichzeitig sei es hilfreich, wenn die Schule für Schüler*innen ein Ort ist, an dem sie ein starkes Netzwerk aus Ansprechpersonen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten vorfinden. Der schulbezogenen Jugendsozialarbeit sowie der Schulsozialarbeit (gemäß §§ 13 und 13a SGB VIII) kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Als Teil eines multiprofessionellen Teams sind die Fachkräfte dieser Profession gerade durch ihre Unabhängigkeit und Jugendhilfeorientierung wertvolle Ansprechpersonen für junge Menschen, die sich in herausfordernden Lebenssituationen befinden und Unterstützung suchen. Ihr Engagement beschränkt sich nicht allein auf intervenierende Maßnahmen, wenn sich junge Menschen bereits vom Schulsystem abgewandt haben – vielmehr leisten sie auch wichtige präventive Arbeit, indem sie gezielt die Ursachen schulvermeidenden Verhaltens angehen. Dabei zeigt sich in der Praxis, dass sich der Umgang mit Schulabsentismus schwierig gestaltet, da er stark vom jeweiligen Kontext abhängt und daher keine einheitliche Vorgehensweise möglich ist.
Bundesweites Projekt trägt Praxiserfahrungen zusammen und identifiziert Gelingensbedingungen
Das Projekt „Schule – ohne mich?! Neue Entwicklungen und Handlungsanforderungen bei Schulabsentismus“, wird von IN VIA Deutschland im Netzwerk der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) durchgeführt. Es zielt darauf ab, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Umgang mit Schulabsentismus zu bündeln und auf Grundlage von Recherchen, Abfragen und Workshops einen Leitfaden als Arbeitshilfe für die Praxis der Jugendsozialarbeit zu erstellen. In einem von mehreren Praxis-Workshops im Projekt stand das Thema „Beziehungsgestaltung“ im Mittelpunkt. Ansätze und Erfolgsfaktoren verschiedener Initiativen, Projekte und Maßnahmen der Jugendhilfe – insbesondere der Jugendsozialarbeit wurden vorgestellt. Neben drei Impulsen aus der Praxis (Projekt Oktopus, Caritas Ludwigsburg-Waiblingen-Enz; Schulverein Wirbelwind e.V., Rostock; TRIAS „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ – Waldhaus gGmbH) setzten sich die Teilnehmenden mit der Frage auseinander, welche Haltung, Kompetenzen und Rahmenbedingungen Fachkräfte brauchen, um junge Menschen wirksam zu erreichen, langfristig begleiten zu können und Vertrauen aufzubauen.
Empathie, Geduld und Authentizität: wichtige Haltungen in der sozialpädagogischen Arbeit zum Umgang mit Schulabsentismus
Der Aufbau tragfähiger Beziehungen ist in der Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen aus verschiedenen Gründen entscheidend. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass schulabsente junge Menschen neben negativen Schulerfahrungen oft Brüche im Vertrauen zu anderen Menschen erlebt haben. Sozialpädagogische Fachkräfte in schulbezogenen Angeboten der Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit eröffnen die Chance, als verbindendes Element zu fungieren – hin zu unterstützenden (Bildungs-)Systemen und tragfähigen Strukturen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Gestaltung stabiler und verlässlicher Beziehungen zu den betroffenen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Dies gelingt vor allem durch den gezielten Vertrauensaufbau sowie durch das konsequente Einhalten von Absprachen, das Verlässlichkeit und Sicherheit vermittelt.
Hierbei bedingen bestimmte Haltungen eine gelingende Beziehungsarbeit. In der Arbeit mit jungen Menschen, die sich zunehmend von der Schule distanzieren oder bereits den Anschluss verloren haben, ist es zentral, Empathie, Geduld und Authentizität zu zeigen. Es geht darum, den Kindern, Jugendlichen und ihren Angehörigen zu vermitteln: Ihr werdet ernst genommen. Erst wenn dieses Gefühl entsteht, öffnen sie sich – so berichten es Fachkräfte aus der Praxis. Eine einfühlsame, respektvolle Gesprächsführung auf Augenhöhe ist dabei eine wesentliche Voraussetzung. Grundsätzlich sollten den individuellen Lebensgeschichten, Erfahrungen und Lebenswelten der jungen Menschen mit Wertschätzung und Respekt begegnet werden. Der Aufbau einer tragfähigen Beziehung braucht Zeit – schnelle Lösungen sind in der Regel weder möglich noch hilfreich.
Eine ressourcen- und lösungsorientierte Haltung ist dabei handlungsleitend: Der Blick richtet sich gezielt auf die Stärken, Ausnahmen im Problemverhalten und auf Lebensbereiche, in denen sich die Kinder und Jugendlichen als selbstwirksam erleben. Ziel ist es, insbesondere im außerschulischen Bereich solche Selbstwirksamkeitserfahrungen zu fördern.
Kreative und partizipatorische Ansätze: methodischer Zugang in der Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen
Die sozialpädagogische Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen erfordert ein breites Spektrum an methodischen Zugängen sowie spezifische fachliche und persönliche Kompetenzen. Während des Workshops wurde hervorgehoben, wie eng diese Aspekte mit den zuvor beschriebenen Haltungen in der sozialpädagogischen Arbeit im Kontext von Schulabsentismus verknüpft sind.
Die Methodenvielfalt spielt eine zentrale Rolle in der Beziehungsarbeit – sei es durch kreative Angebote, Spaziergänge, Hausbesuche oder Arbeit im Freien. Niedrigschwellige und aufsuchende Kontaktaufnahmen ermöglichen einen behutsamen Zugang zu den jungen Menschen und ihren Familien. Dabei ist es wichtig, interkulturelle und medienpädagogische Kompetenzen einzubringen, um sensibel auf kulturelle Unterschiede zu reagieren. Inklusives Handeln zeigt sich etwa in der Verwendung einfacher Sprache. Um stabile und verlässliche Beziehungen aufzubauen ist zudem die Fähigkeit, Nähe zuzulassen und gleichzeitig professionelle Distanz zu wahren, von zentraler Bedeutung. Für eine wertschätzende Kommunikation sind insbesondere aktives Zuhören, eine klare und verständliche Sprache sowie die Fähigkeit zur Reflexion unerlässlich.
In der Praxis zeigt sich, dass schulabsente Kinder und Jugendliche teils Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle und Bedürfnisse verbal auszudrücken. Emotionale Belastungen können sich dabei in Form von psychosomatischen Beschwerden zeigen. Methoden der Visualisierung und Verbalisierung werden in diesem Zusammenhang von der Praxis als sehr wirksam beschrieben. So können sozialpädagogische Fachkräfte hier unterstützend eingreifen, indem sie Gefühle und systemische Zusammenhänge für Kinder, Jugendliche und Eltern bzw. Sorgeberechtigten verbalisieren und visualisieren. Methodisch kommen u. a. Gefühlskarten, Schaubilder, Metaphern oder systemische Aufstellungen zum Einsatz. Diese Form der Externalisierung erleichtert es den Beteiligten, über belastende Themen zu sprechen und neue Perspektiven zu entwickeln. Zudem zeigt die Praxis, dass Humor und Sarkasmus in manchen Fällen hilfreiche Zugänge zu Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sein können. Das Zurückgreifen darauf könne eine gute Art sein, Hypothesen, die die sozialpädagogischen Fachkräfte bilden, in Gesprächen beiläufig einfließen zu lassen. Manche Themen können so besser von den Klient*innen aufgenommen werden, wenn sie mit einer Prise Humor oder Sarkasmus gefüttert werden. Ein traumapädagogischer Ansatz habe sich in der Praxis besonders bewährt, um auf tieferliegende Belastungen adäquat reagieren zu können und bei Bedarf die jungen Menschen an die Fachstellen weiterleiten zu können. Daneben erfordere die Arbeit diagnostisches Wissen und systemisches Denken, um individuelle Problemlagen zu erkennen, und passgenaue Fördermöglichkeiten einzuleiten. Auch zeigt sich in der Praxis, dass Fachkräfte Deeskalationskompetenzen benötigen, um in konflikthaften Situationen professionell und deeskalierend handeln zu können.
Vor diesem Hintergrund ist auch die partizipative Gestaltung der Angebote, bei der junge Menschen strukturell mit einbezogen werden, von großer Bedeutung. Konkret bedeutet das, gemeinsam mit ihnen ihre Stärken zu entdecken und sie aktiv in den Prozess einzubinden. Besonders hilfreich erweist sich in der Praxis die gemeinsame Vereinbarung von kleinschrittigen, realistischen Zielen, um Misserfolge und Rückschritte möglichst zu vermeiden. Dabei ist es entscheidend, auch kleine Erfolge bewusst zu feiern. So zeigt beispielsweise ein*e Jugendliche*r, der bzw. die sich traut, verspätet am Unterricht teilzunehmen, großen Mut – eine Leistung, die deutlich mehr Anerkennung verdient, als wenn er bzw. sie einfach zu Hause geblieben wäre. Besonders wichtig ist es in diesem Zusammenhang, regelmäßig Feedback einzuholen auch durch Lehrkräfte – etwa mittels Fragen wie: Was hilft dir? Was brauchst du? Dieses aktive Nachfragen erweist sich häufig als entscheidender Schlüssel zum Erfolg, insbesondere dann, wenn die Fachkraft spürt, dass sie in bestimmten Situationen nicht weiterkommt. Grundsätzlich ist der regelmäßige persönliche Kontakt mit den jungen Menschen und ihren Familien wichtig – auch dann, wenn es auf den ersten Blick keine neuen Entwicklungen gibt. Durch diese Kontinuität wird Vertrauen aufgebaut und gehalten, was gerade in instabilen Lebenssituationen von großer Bedeutung ist.
Nicht zuletzt ist ein weiterer wesentlicher Aspekt die Auftragsklärung: junge Menschen und ihre Familien und ggfs. auch Lehrkräfte sollten aktiv in die Beratungsprozesse einbezogen werden. Es gilt, Raum für ihre Bedürfnisse und Anliegen zu schaffen, Sorgen ernst zu nehmen und gemeinsam nach passenden Lösungen zu suchen – ohne dabei die eigene Fachmeinung aufzudrängen. Die Herausforderung bestehe darin, eine Balance zu finden zwischen der professionellen Beratung der Eltern bzw. Sorgeberechtigten und der gleichzeitigen Anerkennung und Wertschätzung ihrer eigenen Erfahrungen und Ideen. Die Stärkung der Familien wirke sich schließlich auch positiv auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aus.
Insgesamt zeigt sich: Die erfolgreiche Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen erfordert ein hohes Maß an fachlicher Kompetenz und methodischer Flexibilität, die verknüpft sind mit empathischem Einfühlungsvermögen und einer klaren, wertschätzenden Haltung.
Notwendige Rahmenbedingungen für eine gelingende Beziehungsgestaltung
Im Bereich der Sozialen Arbeit, vor allem in der schulbezogenen Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit, gibt es bundesweit Angebote zum Umgang mit schulabsenten jungen Menschen, die unterschiedliche Fördermodalitäten und rechtliche Verankerungen haben (kommunale Projekte, Landesprogramme zur Schulsozialarbeit, Bundesgesetzgebung §13, §13a SBG VIII, ESF-Förderungen). Für eine wirksame und nachhaltige Arbeit mit schulabsenten jungen Menschen sind bestimmte grundsätzliche strukturelle Rahmenbedingungen unerlässlich – so die Erkenntnisse aus dem fachlichen Austausch im Rahmen des Workshops.
Beziehungsqualität durch Fallzahlbegrenzung sichern
In der Praxis zeigt sich aktuell ein deutlich höherer Bedarf, als personell geleistet werden kann – die Fallzahlen übersteigen die Kapazitäten, wodurch Wartelisten entstehen. Als eine zentrale Voraussetzung für eine wirksame und nachhaltige Beziehungsarbeit mit schulabsenten jungen Menschen ist eine bewusst begrenzte Fallzahl – sei es in der Arbeit als Casemanager*innen oder in der Schulsozialarbeit. Nur wenn Fachkräfte ausreichend Zeit haben, können tragfähige Beziehungen zu den betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien aufgebaut werden. Gleichzeitig schafft dies Raum für intensive Netzwerkarbeit, die in Form von Helferkonferenzen oder regelmäßigen Abstimmungen mit dem Hilfesystem einen wichtigen Teil der Unterstützung darstellt. Dies gilt sowohl für Angebote, die im schulischen als auch im außerschulischen Feld verortet sind.
Ausreichende Gestaltungsspielräume sicherstellen
Ebenso wichtig sind ausreichende Gestaltungsspielräume für Fachkräfte, um flexibel und passgenau auf die Bedürfnisse der jungen Menschen eingehen zu können. Besonders eine räumliche und zeitliche Flexibilität sowie „Ergebnisoffenheit“ ermöglicht es den Fachkräften, aufsuchend tätig zu sein und individuelle Begleitung zu leisten. So kann überhaupt erst die Grundlage für eine tragfähige Beziehungsarbeit geschaffen werden – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen, etwa im Autismus-Spektrum, die ihr gewohntes Umfeld nur ungern verlassen. Termine können flexibel gestaltet und an den Lebensrhythmus der jungen Menschen angepasst werden, etwa an ihre Hobbys oder bevorzugten Aufenthaltsorte. Diese Flexibilität setzt zudem eine Leitung voraus, die nicht nur strukturelle Rahmenbedingungen schafft, sondern auch Innovationsbereitschaft zeigt – ebenso wie das Fachpersonal selbst. Offenheit für neue Ideen und Methoden ist eine wichtige Grundlage, um auf komplexe Problemlagen individuell reagieren zu können.
Einführung eines digitalen Klassenbuchs
Ein Beispiel für eine solche innovative Maßnahme ist die Einführung eines digitalen Klassenbuchs. Es ermöglicht eine bessere Übersicht über An- und Abwesenheiten und fördert gleichzeitig die Zusammenarbeit verschiedener Professionen am Lern- und Lebensort Schule – etwa von Lehrkräften, Schulsozialarbeit und weiteren pädagogischen Fachkräften. Durch den gemeinsamen Zugriff kann das schulische System schneller und gezielter auf auffällige Entwicklungen reagieren, was insbesondere im Kontext von Schulabsentismus einen großen Mehrwert darstellt.
Tandemarbeit für die Begleitung schulabsenter junger Menschen und ihrer Angehöriger
Diese Flexibilität eröffnet die Chance, den jungen Menschen und ihren Familien über längere Zeit hinweg als verlässliche Begleitung zur Seite zu stehen – gewissermaßen als „roter Faden“, der sie an verschiedenen Stationen ihres Lebens unterstützt. Besonders die Zusammenarbeit mit den Eltern bzw. der Familien spielt dabei eine zentrale Rolle: Sie ermöglicht es, den Blick auf das gesamte Familiensystem zu richten und tragfähige, nachhaltige Lösungen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang wurde das Modell der Tandemarbeit in der Arbeit mit schulabwesenden jungen Menschen als besonders unterstützend herausgestellt – insbesondere im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen den jungen Menschen und ihren Eltern bzw. Sorgeberechtigten. Durch dieses Vorgehen entsteht die Möglichkeit, sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Sorgeberechtigten individuell zu begleiten und in ihren jeweiligen Bedürfnissen ernst zu nehmen. Dabei wird nicht nur eine verlässliche Bezugsperson aufgebaut, sondern auch eine klare Rollenverteilung etabliert.
Förderung multiprofessioneller Zusammenarbeit
Nach Einschätzung der Praxis liegt ein zentraler struktureller Hebel zur Förderung multiprofessioneller Zusammenarbeit in einer gezielten Vernetzung – etwa mit dem staatlichen Schulamt, dem Jugendamt, der Schulsozialarbeit sowie stadtteilbezogenen Begegnungszentren. Dies betrifft eine enge Verzahnung über unterschiedliche Ebenen hinweg. Solche Kooperationen ermöglichen nicht nur eine ganzheitliche Sicht auf die Lebenslage der betroffenen jungen Menschen, sondern schaffen auch konkrete Anknüpfungspunkte für unterstützende Angebote im Alltag. Insbesondere der Zugang zu niedrigschwelligen Freizeit- und Bildungsangeboten am Nachmittag bietet den Jugendlichen zusätzliche Stabilität und eröffnet neue soziale Erfahrungsräume.
Langfristige Maßnahmen als Grundlage für tragfähige Beziehungen
Um tragfähige Beziehungen zwischen Fachkräften und schulabsenten jungen Menschen sowie ihren Familien aufzubauen, braucht es zudem langfristig finanzierte Projekte und Maßnahmen. Es entsteht ein Raum, in dem Entwicklung in individuellem Tempo stattfinden darf und dadurch eine flexible Termin- und Kontaktgestaltung ermöglicht wird, die sich am tatsächlichen Bedarf der Familien orientiert. Dadurch können Angebote für die Beziehungsgestaltung passgenau und nachhaltig gestaltet werden. Rückschritte oder Verzögerungen können als Teil des Prozesses verstanden und gemeinsam reflektiert werden.
Supervision und Fallbesprechungen strukturell verankern
Wichtige strukturelle Elemente zur Qualitätssicherung sind darüber hinaus Supervision und regelmäßige Fallbesprechungen. Werden diese fest im Teamalltag verankert, können sie einen geschützten Raum zur Reflexion, kollegialen Beratung und Bearbeitung belastender Situationen dienen. Der Bedarf kann flexibel angemeldet werden, sodass je nach Situation intern im Team oder mit externer Unterstützung gearbeitet wird.
Insgesamt zeigt sich: Nur unter geeigneten strukturellen Bedingungen kann die komplexe Arbeit mit schulvermeidenden jungen Menschen wirksam gestaltet werden – mit Zeit, Flexibilität, vernetztem Arbeiten und der Offenheit, neue Wege zu gehen.
Schulabsentismus erfordert bildungspolitische Maßnahmen
Der fachliche Austausch über die Gestaltung tragfähiger Beziehungen zu schulabsenten jungen Menschen und ihren Eltern bzw. Sorgeberechtigten macht deutlich, wie vielschichtig dieses Handlungsfeld ist. Besonders zeigt sich, wie eng die Haltung und die fachlichen Kompetenzen sozialpädagogischer Fachkräfte, methodische Ansätze und strukturelle Rahmenbedingungen im Kontext von Schulabsentismus miteinander verknüpft sind.
Schließlich hat der Workshop aufgezeigt, wie viel Erfahrung und gute Ansätze es bereits gibt, um diesem Phänomen sozialpädagogisch zu begegnen. Ein zentrales Problem besteht jedoch darin, dass entsprechende Angebote weder flächendeckend noch nachhaltig verankert oder allgemein bekannt sind – zudem sind die Rollen und Zuständigkeiten von Jugendsozial- und Schulsozialarbeit bislang nicht ausreichend geklärt oder verbindlich geregelt. Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen der Vernetzung von Akteur*innen aus Projekten und Maßnahmen der Bedarf nach bundesweiten Arbeitsgruppen formuliert. Ziel müsste es sein, den länderübergreifenden fachlichen Austausch zu fördern, Best-Practice-Ansätze systematisch zugänglich zu machen und Strukturen für nachhaltige Kooperation und gegenseitige Unterstützung zu etablieren. Hier sind politische Impulse gefragt, um solche Netzwerke gezielt zu initiieren und dauerhaft zu fördern.
Beziehungsarbeit auf Augenhöhe, die die individuellen Bedürfnisse der Schüler*innen in den Mittelpunkt stellt, muss schließlich als zentrales Element präventiver Strategien dauerhaft in der Schulkultur verankert werden. Stimmen aus der Praxis machen deutlich: „Wenn Beziehungsarbeit in der Schule gelingt, wird Schulabsentismus seltener zum Problem.“ Daraus ergibt sich ein klarer Handlungsauftrag an Bildungspolitik und Schulträger, strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine solche Beziehungsgestaltung ermöglichen – insbesondere durch ausreichende personelle Ressourcen, Qualifizierung und die Förderung multiprofessioneller Zusammenarbeit.
Literaturverzeichnis:
Das Deutsche Schulbarometer: https://deutsches-schulportal.de/unterricht/lehrer-umfrage-deutsches-schulbarometer-spezial-corona-krise-september-2021, letzter Zugriff 19.5.2025.
Eckhardt, R.; Ried, R.; Sommer, M.: Jugendhilfe und Schule. Distanz verringern. In: dreizehn (30) 2023, S. 37–42.
Feldhaus, M.; Rau, M.; Ricking, H.; Sälzer, C.: Schulabsentismus aus einer humanökologischen Perspektive – aktuelle Analysen mit PISA 2022. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 2025.
Feldhaus, M; Rau, M. (2025): Schulabsentismus aus einer familiensoziologischen Perspektive: Ein Überblick über empirische Befunde, theoretische Zugänge und offene Fragen. In: Speck, K.; Ricking, H.: Interdisziplinäre Kooperation und Schulabsentismus. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. S. 59-79.
Parrisius, A. (2025): Quote der Schulabgänger ohne Abschluss ist bundesweit gestiegen. In: Table Briefings (Hrsg.): Online verfügbar unter https://table.media/bildung/ news/quote-der-schulabgaenger-ohne-abschluss-ist-bundesweit-gestiegen.
Ricking, H.: Schulabsentismus pädagogisch verstehen. Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH, 2023.
Sälzer, Christine: Multiprofessionelle Teams im Umgang mit Schulabsentismus. Der Mehrwert unterschiedlicher Perspektiven und Anknüpfungspunkte. In: dreizehn (30) 2023, S. 4–7.
Autorin: Stephanie Warkentin, Referentin und Projektleitung von „Schule – ohne mich!?“ bei IN VIA Deutschland
Dieser Fachartikel ist eine Zweitveröffentlichung des Beitrags „Neue Wege für schulmüde Jugendliche“, erstmals erschienen am 12. November 2025 auf dem Portal der BIBB-Fachstelle für Übergänge in Ausbildung und Beruf – überaus. Die Fachstelle überaus arbeitet zu den Themen der Integration in Ausbildung und Beruf. Sie richtet ihr Angebot an Fach- und Führungskräfte aus Praxis, Verwaltung, Politik und Wissenschaft: www.ueberaus.de.



