Chancen der KI für die Jugendsozialarbeit diskutieren

Der Wissenschaftler Prof. Dr. Klaus Hurrelmann schätzt, dass etwa 20 Prozent[1] der Kinder und Jugendlichen als Folge der Pandemie unter mehr oder weniger starken psychischen und oder gesundheitlichen Problemen leiden. Das bedeutet in absoluten Zahlen: Von den etwa 9 Millionen Jugendliche zwischen 14 und 24 Jahren, die in Deutschland leben, wären etwa 1,8 Millionen betroffen. Aus der Sicht der Jugendsozialarbeit kommt hinzu, dass Corona zwar eine kollektive Erfahrung war, (junge) Menschen in prekären Lebenssituationen durch die Pandemie aber besonders hart getroffen wurden.[2]

Dieser Befund war für Kolleg*innen auf unserer Fachkonferenz nicht neu. Allerdings schieden sich die Geister darüber, welche Antworten die Jugendsozialarbeit auf diese Herausforderungen geben kann. Denn 1,8 Millionen Jugendliche mit individuellen Problemlagen sind kein triviales Problem. Würde man allen Jugendlichen ein interpersonales Angebot unterbreiten, bräuchte man bei einem Betreuungsschlüssel von 1:100 immerhin 18.000 zusätzliche Sozialarbeiter*innen. Nicht nur mit Blick auf den aktuellen Fachkräftemangel ein utopisches Ziel.

Mit Chatbots digital unterstützen

Daher war mein Vorschlag Chatbots einzusetzen, um Jugendliche digital zu unterstützen, die zum Beispiel Beratungsangebote suchen oder eine Erstberatung benötigen. Nur so hätte man die Chance, so mein Argument, eine so große Anzahl an Jugendlichen zu beraten und ihnen Unterstützungsoptionen aufzuzeigen. Dass ein Chatbot ernsthaft beraten oder Fragen zu Hilfsangeboten von jungen Menschen qualifiziert beantworten kann, wurde von vielen in Frage gestellt. Es bedürfe immer der interpersonalen Begegnung und Interaktion in der Sozialarbeit – von Mensch zu Mensch. Diese Grundhaltung ist nicht falsch, aber mit Blick auf die Maße an Jugendlichen mit Beratungsbedarf keine realistische Option.

ChatGPT läutet Zeitenwende ein

Wenige Wochen und eine digitale Zeitenwende später wurde ChatGPT gelauncht und ging nicht nur auf Twitter et. al. direkt viral. Bereits fünf Tage später hatte die Plattform eine Million registrierte Nutzer. Facebook hatte dafür 10 Monate gebraucht, Instagram immerhin noch 2,5 Monate.

„ChatGPT ist der Prototyp eines hoch entwickelten, dialogorientierten Chatbots mit künstlicher Intelligenz. Er basiert auf einer optimierten Version des Sprachmodells GPT-3 (Generative Pretrained Transformer 3) und wurde vom US-amerikanischen Unternehmen OpenAI entwickelt. Der Chatbot kommuniziert in mehreren Sprachen. Er versteht Eingaben von Menschen und produziert Antworten, die sich kaum von Texten menschlichen Ursprungs unterscheiden lassen.“[3]

Nach aktuellen Schätzungen gab es im Februar 2023 bereits 100 Millionen aktive Nutzer. Aus Sicht von Analysten der Schweizer Großbank UBS gibt es keine Internet-App für Verbrauer*innen in der Geschichte, die einen derart schnelleren Anstieg erlebt hat.[4]

Während technik- und digitalaffine den Bot feiern, gibt es im eher strukturkonservativen Umfeld deutscher Lernanstalten und Alma Mater kritische Stimmen. Sie weisen darauf hin, dass Schüler*innen und Student*innen nun nicht mehr lernen müssen und ihre Referate und Aufsätze von ChatGPT schreiben lassen. Das Humboldtsche Bildungsideal ist (wieder einmal) in Gefahr, es droht an den Felsen der Künstlichen Intelligenz zu zerschellen. Die komplette Verdummung der Jugend ist nur noch einen Algorithmus weit entfernt. Doch Rettung ist in Sicht: Mittlerweile gibt es den OpenAI Classifier, der ChatGPT erzeugte Texte erkennt. Der Classifier wurde übrigens von demselben Unternehmen entwickelt, das auch für ChatGPT verantwortlich ist. Es gibt schlechtere Geschäftsmodelle.

Technische Realitäten im Alltag

Letztendlich erinnert die Diskussion ein wenig an die Taschenrechner-Debatten vor 30 Jahren: Natürlich müsse man das große und das kleine Einmaleins auswendig können, man habe ja nicht immer einen Taschenrechner dabei 😉. Taschenrechner wurden also aus den Klassenzimmern, zumindest in den unteren Klassen, verbannt. Und natürlich gibt es auch jetzt wieder Stimmen, die auf technische Entwicklungen „mit neuen Prüfungsformen reagieren, oder auch die guten alten mündlichen Prüfungen und schriftlichen Prüfungen auf Papier wieder einführen“[5] wollen. Hier gilt jedoch, frei nach Watzlawick, dass die Lösung zum Problem wird. Denn was bringt es, wenn man technische und gesellschaftliche Realitäten aus der Bildung heraushalten will und stattdessen einen künstlichen Raum schafft, der mit der Lebens- und Arbeitsrealität nichts zu tun hat?

Neue Möglichkeiten sinnvoll nutzen

Es sollte vielmehr darüber nachgedacht werden, wie die technischen Möglichkeiten sinnvoll in die Curricula der Schulen und Universitäten eingebaut werden. Und welche Kompetenzen junge Menschen brauchen, um die performanten digitalen Entwicklungen gewinnbringend zu nutzen. Das gilt natürlich ebenso für die Jugendsozialarbeit. Die Jugendsozialarbeit muss innerhalb ihrer Strukturen analysieren, wo der Einsatz von Künstlicher Intelligenz einen wirklichen Mehrwert für die Fachkräfte und die Jugendlichen hat. Die „Digitalisierung“ darf dabei keinesfalls ein Selbstzweck sein. Oder um es mit den Worten des ehemaligen CEO von Telefonica Deutschland Thorsten Dirks zu sagen: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“[6]

Es ist auch nicht das Ziel, durch künstliche Intelligenz Fachkräfte zu subsistieren. Jede*r Sozialarbeiter*in wird aktuell dringend benötigt. Vielmehr geht es darum, dass die Künstliche Intelligenz für die Jugendsozialarbeit Möglichkeiten eröffnet, wie sie ihre Arbeit effektiver und gewinnbringender für die Jugendlichen gestalten kann. Beispielhaft hierfür ist das BAG KJS Projekt „Übergang Schule Beruf digital gestalten“. Gemeinsam mit vier Einrichtungen der Jugendberufshilfe testen wir einen Bewerbungsbot. Zwar handelt es sich hierbei nicht um eine klassische KI, sondern um einen smarten Bewerbungsassistenten, die ersten Rückmeldungen sind jedoch sehr positiv und zeigen auch, welche Potentiale digitale Anwendungen auch für die Jugendsozialarbeit haben. Nachdem die Jugendlichen in das Programm eingeführt wurden, können sie selbstständig und mit der Unterstützung des Bots eigene Bewerbungen erstellen. Gleichzeitig werden die Fachkräfte dahingehend entlastet, dass sie sich mehr Zeit für den einzelnen Jugendlichen nehmen können und nicht ständig mehrere Jugendliche bei formalen Fragen zum Bewerbungsschreiben unterstützen müssen.

Aktiv in die Entwicklung von KI einbringen

Forschungen zur KI gibt es zwar schon seit 70 Jahren, allerdings war der Aufstieg erst durch immer leistungsstärkere Graphikkarten — die übrigens für Videospiele entwickelt wurden — in den letzten Jahren möglich. Das bedeutet: Trotz der beeindruckenden Ergebnisse von ChatGPT stehen wir erst am Anfang dieser und anderer Entwicklung. Wir können davon ausgehen, dass KI unser Leben und unser Arbeiten stärker beeinflussen wird.

Daher sollte die Jugendsozialarbeit KI nicht nur für ihre Zwecke nutzen. Sie sollte sich auch aktiv in die Entwicklung von KI einbringen. Andernfalls werden wir unserer Wächterfunktion und unserem anwaltschaftlichen Handeln für die Jugendlichen nicht gerecht!

Dr. Michael Herkendell ist Referent für Fachliches Controlling und Projektmanagement der BAG KJS

[1] Hu, Krystal: ChatGPT sets record fir fastest-growing user base – analyst note, in:  https://www.reuters.com/technology/chatgpt-sets-record-fastest-growing-user-base-analyst-note-2023-02-01/ (abgerufen am 9. März 2023).

[2] Volk, martin: So verändert ChatGPT die Bildungs- und Berufswelt, in: https://www.netzwoche.ch/news/2023-02-16/so-veraendert-chatgpt-die-bildungs-und-berufswelt (abgerufen am 7. März 2023).

[3] Lexa, Carsten/ Schrader, Julian: So erkennst du „dumme“ Digitalisierung, in: https://www.basicthinking.de/blog/2021/09/16/dumme-digitalisierung-erkennen/ (abgerufen am 8. März 2023).

[4] Teilweise wird sogar von 30 Prozent gesprochen.

[5] Vgl: Andresen, Sabine/Schröer, Wolfgang: Hört hin und handelt!, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Der lange Weg aus der Pandemie, Impulse,2/2022, S. 16.

[6] Definition von https://www.security-insider.de/was-ist-chatgpt-a-4ac8324804f44e2d5f704a0c52e865c0/ (Abgerufen am 7. März 2023).

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