Bildung vielfältig gestalten

Das Deutsche Rote Kreuz veröffentlicht eine Expertise zum Thema „Vielfalt in Schule“: Unter der Maßgabe, dass jeder Schüler und jede Schülerin ein Recht darauf hat, als Individuum mit einzigartigen Fähigkeiten und Kompetenzen berücksichtigt zu werden, muss Schule umgestaltet werden, und zwar dahingehend, dass sie den vielfältigen Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen gerecht wird. Der Jugendsozialarbeit – als Kooperationspartner von Schulen – kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Die Expertise „Bildung vielfältig gestalten – Beiträge der Jugendsozialarbeit“ stellt die Handlungsmöglichkeiten der beiden Akteure in den Mittelpunkt. Wie können Jugendsozialarbeit und Schule dazu beitragen, chancengerechte Zugänge zu Gesellschaft und Arbeitswelt zu fördern und Vielfalt als Ressource zu begreifen?

Auszüge aus der Expertise „Bildung vielfältig gestalten – Beiträge der Jugendsozialarbeit“:

„(…) Zusammenfassung der Ergebnisse

Mit der Diskussion der Anerkennung von Pluralität, Heterogenität und Chancengleichheit in Bildung, die u.a. mit der Erklärung der UNESCO in Salamanca 1994 „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ breite internationale Anerkennung fand, ist die Inklusion von Kindern und Jugendlichen, die aufgrund verschiedener Merkmale aus einem gemeinschaftlichen Schulsystem ausgeschlossen werden, schrittweise in den Fokus gerückt.

In diesem Prozess kann es nicht das Ziel sein, dass der Einzelne danach strebt, im Ausbau seiner unterschiedlichen und auch informellen Kompetenzen eine gemeinsame Messlatte zu erreichen. Vielmehr ist es notwendig, dass sich das Individuum im Rahmen seiner Fähigkeiten und Neigungen entwickeln kann.

Ziel des Prozesses ist aber nicht mehr ein Zustand der Anpassung, in der Personen und Gruppen dazu befähigt werden, sich in bestehende Strukturen und Normvorstellungen einzufügen, sondern die soziale Inklusion. Soziale Inklusion bedeutet, dass Strukturen so beschaffen sind, dass Vielfalt als Normalität anerkannt und als Ressource gewürdigt ist, so dass sich jeder innerhalb seiner Ausgangsbedingungen in die Gesellschaft einbringen kann. Die Erweiterung des Bildungsbegriffs mit den Konzepten der außerschulischen non-formalen und der informellen Bildung ist schon seit einiger Zeit Gegenstand der fachlichen und politischen Diskussion (z.B. in der Lifelong-Learning-Debatte). Dieser Bildungsbegriff bezieht die gesamte Persönlichkeitsentwicklung mit ein.

„Bildung“ beinhaltet demzufolge „die Entwicklung und Entfaltung derjenigen Fähigkeiten, die Menschen in die Lage versetzen:

  • zu lernen
  • Leistungspotenziale zu entwickeln
  • zu handeln
  • Probleme zu lösen und
  • Beziehungen zu gestalten (…).

Vor diesem erweiterten Bildungsbegriff ist Lernen nicht mehr Sache des Einzelnen, sondern es besteht die Notwendigkeit umfassender und gegenseitiger Lernprozesse auf allen Ebenen. (…)

Damit einher geht eine grundlegende Restrukturierung eines Leistungsverständnisses, von Schule und Unterricht, Lehrplänen, Lernzielen, Curricula und der Diskussion um „Standards“ in der Bildung. Damit wird eine „Bildung für Vielfalt“ nicht nur zum Lernprozess von Schülerinnen und Schülern, sondern für alle beteiligten Individuen (Lehr-, Fach- und Führungskräfte, Eltern), Gruppen (Klassen, Lehrerschaft etc.), den Bildungsbereich und das gesellschaftliche Gesamtsystem. Auch die Zielvorstellungen eines gelingenden Umgangs mit Vielfalt sind im Wandel begriffen: Während derzeit noch vorrangig schulbegleitende Unterstützungsmaßnahmen zur Förderung meist einzelner Gruppen im Vordergrund stehen, sollten langfristige Überlegungen darauf ausgerichtet sein, die Rahmenbedingungen von Schule so zu gestalten, dass Diversität als Normalzustand begriffen und die Vielfalt als Ressource genutzt wird. Während das traditionelle Verständnis und der Auftrag an Schule als normierende gesellschaftliche Instanz noch strukturell verankert ist, steht das „neue“ Verständnis von Schule als „Bildungspartner“ im gesamtgesellschaftlichen System vor der Frage nach der Gestaltung neuer Rahmen- und Gelingensbedingungen.

Gerade die Jugendsozialarbeit ist ein zentraler Partner in diesem Prozess des Wandels in der Bildungslandschaft: Aus dem grundlegenden Auftrag von sozialer Arbeit, die negativen Auswirkungen von gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen auszugleichen (…), ergibt sich die Möglichkeit, einen inklusiven Umgang mit Vielfalt an Schulen zu verankern.

Allerdings ist dafür auch für die Jugendsozialarbeit ein Umdenken notwendig. (…)

Anregungen für die Jugendsozialarbeit

Damit Jugendsozialarbeit ein Partner in diesem Prozess sein kann, ist auch für viele Verbände und Träger der Jugendhilfe und besonders der Jugendsozialarbeit ein Überdenken der bestehenden Strukturen erforderlich. Dieses kann in mehreren Schritten erfolgen:

  • Insgesamt wird eine Positionsbestimmung innerhalb des eigenen Verbands und der Träger als sinnvoll erachtet. Drei Ebenen sind Bestandteil der Positionsbestimmung:
    – die Formulierung von Begriffen und Prinzipien auf Verbands- und Trägerebene,
    – die Integration in die Leitlinien von Verbänden und Trägern,
    – die Bestandsaufnahme bestehender Normen und Praktiken sowie deren Reflexion.
  • Auf Basis dieser Positionsbestimmung kann eine Entwicklung von inklusiven Strukturen auf Verbands- und Trägerebene erfolgen. Dazu gehört z.B.:
    – die Überprüfung der bestehenden Strukturen, besonders in Hinblick auf die Zielgruppenorientierung,
    – die Bearbeitung der anstehenden Veränderungen in ressort- und fachbereichsübergreifenden Arbeitsgruppen,
    – die Umsetzung von Inklusion als Querschnittsaufgabe und ggfs. die Rejustierung bestehender Strukturen.
  • Vor diesem Hintergrund kann eine Erarbeitung inklusiver Konzepte erfolgen, z.B. durch
    – Etablierung partizipativer Strukturen, innerhalb derer die Konzepte unter Beteiligung aller betroffenen Akteure erarbeitet werden,
    – Schaffen von inklusiven Angebotsstrukturen, die dazu dienen, das Konzept inklusiver Schule in die Praxis umzusetzen,
    – die Anpassung von Unterstützungsstrukturen von Kindern und Jugendlichen an die Erfordernisse der Prinzipien der Inklusion.
  • Um diese Konzepte in die Praxis umzusetzen, ist eine kontinuierliche Unterstützung der Fachkräfte der Jugendsozialarbeit notwendig, z.B. durch
    – kontinuierliche Fort- und Weiterbildungsangebote für Fach- und Führungskräfte,
    – Supervision und Rückhalt bei der Definition neuer Rollen und Arbeitsteilungen (…),
    – das Bereitstellen personeller sowie zeit- und sachlicher Ressourcen,
    – Vernetzung und Kooperation.
  • Ebenso ist es Aufgabe der Sozialen Arbeit, die gesellschaftliche Bewusstseinsbildung voranzutreiben. Dies kann z.B. geschehen durch
    – Vernetzung und Kooperation mit allen Akteuren im Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen,
    – das Erstellen von barrierefreiem Informationsmaterial, auch in den Internetauftritten,
    – die weitere Sensibilisierung von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und weiteren Akteuren für die Erfordernisse inklusiver Schule.

Weiterführende Fragestellungen

Verfolgen Schule und Jugendsozialarbeit die gemeinsame Zielsetzung einer vielfältig gestalteten Bildung und einer inklusiven Schule mit dem Ziel einer Teilhabe für alle, rücken jedoch auch weiterhin verschiedene zentrale Fragen in den Mittelpunkt:

  • Entwicklung der empirischen Grundlagen: Zu den Wirkungsweisen von inklusiven Maßnahmen liegen bisher noch wenige Ergebnisse vor. Eine zentrale Aufgabe stellt sich daher in der Durchführung von Wirkungsanalysen, um zielgerichtete Angebote zu entwickeln.
  • Inhaltliche Fragen zu möglichen „Grenzen der Inklusion“: Wie kann Unterstützung inklusiv gestaltet sein und die Vielfalt des Unterstützungsbedarfs abdecken? Wie kann der oder die Einzelne vor überfordernden Ansprüchen an Flexibilität geschützt werden? (…)
  • Die Bereitstellung von Ressourcen durch die Politik ist unabdingbarer Bestandteil der Umsetzung inklusiver Schule. In Zeiten einer angespannten Finanzsituation stellt sich dennoch die Frage, wie zusätzliche Ressourcen erschlossen
    sowie alternative Förder- und Finanzierungsmodelle umgesetzt werden können.

Den Gestaltungsprozess, der für eine Teilhabe für an den Bildungsprozessen und für ein Erreichen sozialer Inklusion notwendig ist, kann kein System alleine bewältigen. Es ist vielmehr die Aufgabe aller Beteiligten, den Bildungseinrichtungen, der Jugendsozialarbeit, Lehr-, Fach- und Führungskräften, Eltern sowie Schülerinnen und Schülern das Umfeld Schule so zu gestalten, dass soziale Inklusion möglich wird.“

Die Expertise wurde durch das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) e.V. für das Deutsche Rote Kreuz im Rahmen seiner Aufgaben für den Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit erstellt. Das Deutsche Rote Kreuz bearbeitet für den Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit federführend das Themengebiet „Jugendsozialarbeit an Schule“.

Quelle: DRK; Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit

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