Berufsorientierung nicht ohne sozialpädagogische Begleitung

Die im Koalitionsvertrag angekündigte Ausbildungsgarantie für alle jungen Menschen soll im Rahmen eines Weiterbildungsgesetzes konkretisiert werden. Das Projekt „Ausbildung garantiert!?“ begleitet die Entwicklungen kritisch und bringt die Perspektive der Jugendlichen in die politische Diskussion ein. IN VIA Deutschland setzt „Ausbildung garantiert!?“ im Netzwerk der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. um. Im Projekt wurden inklusiv ausgerichtete, erprobte Praxisansätze aus der Jugendberufshilfe auf ihre Gelingensbedingungen hin analysiert. Drei Faktoren erwiesen sich als besonders wichtig für den Erfolg der Angebote am Übergang Schule – Beruf:  

  1. Die Zugänge für junge Menschen sind niedrigschwellig. 
  2. Die Jugendlichen erfahren Unterstützung entsprechend ihrem individuellen Bedarf. 
  3. Die Jugendlichen erleben eine vertrauensvolle und beständige Beziehung im Rahmen der sozialpädagogischen Begleitung, wodurch die Resilienz und das Selbstvertrauen der jungen Menschen gestärkt wird. 

Der im Dezember vorgelegte Gesetzentwurf sieht als neue Fördermöglichkeit ein- bis sechswöchige nachschulische Berufsorientierungspraktika vor. Berufsberater*innen der Arbeitsagenturen sollen Jugendliche dazu motivieren und sie dabei begleiten. Mareike Krebs und Susanne Nowak, beide Projektreferentinnen von „Ausbildung garantiert!?“, sehen das sehr kritisch. „Aufgrund ihrer bereits jetzt schon hohen Arbeitsdichte besteht die Gefahr, dass sie die Begleitung gar nicht bewerkstelligen können“, so Mareike Krebs. Außerdem sei hier sozialpädagogische Expertise erforderlich, um benachteiligte Jugendliche ganzheitlich zu begleiten. „Erfolgreiche Berufsorientierung funktioniert einfach nicht für alle jungen Menschen ohne sozialpädagogische Unterstützung“, ergänzt Susanne Nowak. 

Warum Jugendliche mit ungünstigen Ausgangsbedingungen eine sozialpädagogisch begleitete Berufsorientierung brauchen, zeigt der Fall von Hülya.

Hülya auf dem Weg in ihre Ausbildung

Hülya ist 14 und geht in die achte Klasse einer Realschule. Ihr Notendurchschnitt sieht nicht gut aus. Deshalb wechselt sie in einen Schulzweig, der sie auf den Hauptschulabschluss vorbereitet. Eigentlich wollte sie eine Ausbildung im Bereich Büromanagement machen. Doch bei einem Termin mit der Berufsberaterin der Arbeitsagentur erfährt sie, dass dieser Berufswunsch mit einem Hauptschulabschluss nicht realisierbar ist. Hülya ist frustriert und fühlt sich überfordert. Sie weiß nicht, wie es nach der Schule für sie weitergehen könnte. Deshalb ist sie froh, dass sie mit Marleen Baier sprechen kann, die jede Woche an die Schule kommt. Sie arbeitet in einem Projekt zur Vermeidung von Schulabstinenz und Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit, das aus EU-Mitteln gefördert wird. Hülya darf während des Unterrichts am Projekt teilnehmen. Im Rahmen der sozialpädagogischen Beratung nimmt sich Marleen Baier Zeit für Hülyas Anliegen und bezieht ihre gesamte Lebenssituation mit ein. Es stellt sich heraus, dass Hülya bisher noch nie ein Praktikum gemacht hat: An der Praktikumswoche hat sie aus gesundheitlichen Gründen nicht teilgenommen. Sie hat Knieprobleme und ist unsicher, welche Berufe überhaupt für sie in Frage kommen. Ihre Eltern können ihr nicht wirklich weiterhelfen – sie sind aus der Türkei nach Deutschland eingewandert und kennen sich mit dem Ausbildungssystem hier nicht aus. Außerdem haben ihre Eltern viele eigene Probleme. 

Durch die regelmäßigen Treffen fasst Hülya Vertrauen und kann mit Marleen Baiers Unterstützung ihre Ängste und Fragen benennen. In mehreren Gesprächen überlegen sie gemeinsam: An welchen Orten hält sich Hülya gerne auf? In welchen Betrieben könnte sie sich ein Praktikum vorstellen? Sie sammeln Ideen und Hülya findet heraus, welche Berufe am besten zu ihren Interessen und Stärken passen. Mit der kontinuierlichen Unterstützung von Marleen Baier erstellt Hülya aussagekräftige Bewerbungsunterlagen und nimmt Kontakt zu Betrieben auf. Nach einem halben Jahr hat sie erfolgreich zwei Praktika absolviert. Bei einem der Betriebe möchte sie nun ihre Ausbildung als Augenoptikerin machen. Gerne hätte Marleen Baier sie bei Bedarf weiter begleitet. Doch ihr Projekt war befristet und ist mittlerweile beendet.  

Forderungen an die Politik

Eine vertiefte Berufsorientierung ist ein grundlegender Baustein einer Ausbildungsgarantie. Damit diese gelingt, fordern Mareike Krebs und Susanne Nowak: 

  • eine wirksame und flächendeckende Berufsorientierung, die spätestens in der achten Klasse beginnt und kontinuierlich bis zum Ausbildungsbeginn als Prozess gestaltet wird, 
  • sozialpädagogische Angebote im Berufsfindungsprozess mit begleiteten Praktika als Ergänzung zur Berufsberatung der Arbeitsagenturen, 
  • eine langfristig abgesicherte Finanzierung dieser Angebote und 
  • eine nachhaltige Vernetzung der Akteur*innen und multiprofessionelle Zusammenarbeit am Übergang Schule – Beruf.

Alle Namen wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert. 

Quelle: Mareike Krebs und Susanne Nowak, Projekt „Ausbildung garantiert!?“ bei IN VIA Deutschland im Netzwerk der BAG KJS. Meinungsäußerungen oder Bewertungen der Autorinnen müssen nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln. 

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