Aufwachsen in Armutslagen

In Deutschland sind nicht alle von Armut betroffenen Menschen obdachlos oder müssen dauerhaft hungern. Aber Betroffene müssen auf viele materielle Dinge verzichten und haben geringere Chancen, am sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen. Besonders trifft das Kinder und Jugendliche. Laut einer neuen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung sind 75 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die dauerhaft finanziell gesichert aufwachsen, in Vereinen aktiv – bei denjenigen in dauerhaften Armutslagen hingegen weniger als 40 Prozent. Diese Jugendlichen geben doppelt so häufig wie abgesicherte Jugendliche an, in ihrer Freizeit nicht an ihrer Wunschaktivität teilnehmen zu können. Sie fühlen sich zudem weniger zugehörig zur Gesellschaft und schätzen ihre eigene gesellschaftliche Position schlechter ein als Gleichaltrige. Die Bertelsmann Stiftung schlägt deshalb vor, ein Teilhabegeld für Kinder und Jugendliche einzuführen. Dieses Teilhabegeld soll das Kindergeld, den Kinderzuschlag, den SGB-II Regelsatz für Kinder und einige Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets bündeln und ersetzen. Es soll abhängig vom Einkommen der Eltern abgeschmolzen werden, um gezielt Armut zu vermeiden.

Hintergrund zur Studie „Aufwachsen in Armutslagen“

Die Studie ist Teil des Projektes „Lebensumstände von Kindern im unteren Einkommensbereich“ des IAB im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Silke Tophoven, Torsten Lietzmann, Sabrina Reiter und Claudia Wenzig haben die Forschungen durchgeführt. Datengrundlage war die repräsentative Längsschnittstudie „Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung“ (PASS), in dem seit 2006 jährlich rund 15.000 Personen ab 15 Jahren befragt wurden.

Für die Studie konnten die IAB-Forscher/-innen Informationen für 3.180 Kinder über einen Zeitraum von fünf Jahren auswerten. Zu jedem der fünf Beobachtungszeitpunkte haben sie die Einkommenssituation für den Haushalt des jeweiligen Kindes betrachtet, so dass sie während des Zeitraums Wechsel in und aus Armut sowie die Dauer von Armutsepisoden beobachten konnten.

Kinder leben in einer „Armutslage“, wenn mindestens eine der beiden gängigen Armutsdefinitionen zutrifft: Sie leben in einem Haushalt mit SGB-II-Leistungsbezug und/oder in Familien mit einem Haushaltsnettoeinkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle, also weniger als 60 Prozent des äquivalenzgewichteten Medianeinkommens. Etwa zwei Drittel (68,9 %) aller Kinder leben dauerhaft in einer abgesicherten Einkommenslage. Insgesamt 31,1 Prozent der Kinder lassen sich einem von vier Armutsmustern zuordnen. 21,1 Prozent machen dauerhafte oder immer wiederkehrende Armutserfharungen. 9,9 Prozent der Kinder sind temporär nicht gesichert und erleben Armutsphasen lediglich kurzzeitig.

Erwerbsbeteiligung von Müttern

Kinderarmut ist immer mit der finanziellen Lage des Haushalts insgesamt verknüpft, in dem Kinder aufwachsen. Veränderungen in der Situation des Haushalts sind mit möglichen Veränderungen des Haushaltseinkommens verbunden und damit mit möglichen Ein- und Austritten in oder aus Armut. Die Erwerbsbeteiligung von Müttern wirkt sich besonders aus. Die Forscher/-innen stellen fest, dass Kinderarmut maßgeblich mit der Erwerbstätigkeit der Müttern zusammen hängt. Und das gilt nicht nur für Kindern von Alleinerziehenden. Kinder in Paarfamilien, deren Mütter dauerhaft in Vollzeit (mehr als 30 Wochenstunden), Teilzeit oder Minijobs arbeiten, gelten als finanziell abgesichert. Das Bild ändert sich aber deutlich, wenn die Mütter in Paarfamilien über einen längeren Zeitraum nicht erwerbstätig sind: 38 Prozent der Kinder gelten dann als finanziell abgesichert, 32 Prozent erleben dauerhaft oder wiederkehrend Armutslagen, 30 Prozent kurzzeitig.

Wenig Geld = geringes Zugehörigkeitsgefühl

Armutserfahrungen in der Kindheit führen auch dazu, dass sich die Betroffenen weniger zugehörig zur Gesellschaft fühlen: Je schlechter die Einkommenslage des Haushalts, desto geringer ist das Zugehörigkeitsgefühl und die selbst eingeschätzte gesellschaftliche Positionierung der Jugendlichen. Die Einkommenslage selbst hat dabei einen Einfluss auf die eigene Positionierung in der Gesellschaft. Hier lässt sich für Jugendliche, die dauerhaft SGB-II-Leistungen beziehen, ein negativer Zusammenhang mit der Einstufung ihrer gesellschaftlichen Position feststellen.

Freizeitaktivitäten sind eingeschränkt

Die Studie berichtet von Interviews mit Jugendlichen ab ab 15 Jahren, die in ihrer Kindheit Armutslagen erlebt haben. Sie geben an, seltener als andere, in ihrer Freizeit in organisierten Gruppen aktiv zu sein. Der Anteil nicht aktiver Jugendlicher ist dabei unter denjenigen, die dauerhaft SGB-II-Leistungen beziehen, besonders hoch. Junge Menschen im Cluster „Dauerhafter Leistungsbezug sind lediglich zu 28 Prozent, im Cluster „Dauerhaft nicht gesichert“ zu 47 Prozent aktiv im Vergleich zu 74 Prozent im Cluster „Dauerhaft gesichert“.

Nach ihren Lieblings- und Wunschfreizeitaktivitäten gefragt, geben rund 40 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, eine Wunschfreizeitbeschäftigung aus unterschiedlichen Gründen nicht ausüben zu können. Dabei variiert der Anteil deutlich nach Einkommenslage. Jeweils 68 Prozent der jungen Menschen, die dauerhafte Armutserfahrungen machen, geben an, dass die Angebote zu teuer sind.  Knapp die Hälfte (48 %) der jungen Menschen im Cluster „Dauerhafter Leistungsbezug“ und rund ein Viertel (27 %) derjenigen, die dauerhaft nicht gesichert aufwachsen, geben zudem an, dass es niemanden gibt, der mit ihnen gemeinsam ihre Wunschaktivität ausübt.

Armut = weniger Zufriedenheit

Abschließend beleuchtet die Studie die Folgen von Armutserfahrungen auf das Wohlbefinden junger Menschen. Jugendliche und junge Erwachsene mit dauerhaften Armutserfahrungen geben im Mittel an, weniger zufrieden mit ihrem Leben und ihrem Lebensstandard zu sein als Personen, die dauerhaft in einer gesicherten Einkommenslage aufwachsen. Ist ein Jugendlicher grundsätzlich aktiv in einer organisierten Gruppe oder verfügt über einen größeren Freundeskreis, erhöht dies das subjektiv eingeschätzte Wohlbefinden junger Menschen. Dies unterstreicht noch einmal die Bedeutung von Freizeitaktivitäten, sozialen Gruppen und Freunden für das Leben und das Wohlbefinden junger Menschen. Gerade Jugendliche in dauerhaften Armutslagen sind hier benachteiligt. Sie nehmen seltener an organisierten Freizeitaktivitäten teil und haben auch selten zehn oder mehr Freunde.

Die Studie „Aufwachsen in Armutslagen“ in vollem Textumfang lesen auf der Seite der Bertelsmann Stiftung https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Aufwachsen_in_Armutslagen_2018.pdf.

Quelle: Bertelsmann Stiftung

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