Auf dem 14. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag in Stuttgart stellte die AWO Erkenntnisse der AWO-ISS-Studie zur Kinder- und Jugendarmut vor. Der Vortrag der Studienleiterin Gerda Holz „Ansätze kommunaler Armutsprävention“ liegt nun in überarbeiteter Fassung vor. Der Beitrag analysiert, definiert und belegt empirisch anschaulich das Phänomen „Kinderarmut“. In seinem zweiten und dritten Teil werden das Konzept der kindbezogenen Armutsprävention als theoretischer und praktischer Handlungsansatz vorgestellt und durch aktuelle Beispiele aus der konkreten Präventionsarbeit der Kommunen Monheim, Nürnberg und Wiesbaden anschaulich vergegenwärtigt. Abschließemd wird ein beispielhaftes interkommunales Netzwerk zur Entwicklung und Realisierung kommunaler Strategien zur Bekämpfung von Kinderarmut vorgestellt, das vom Landschaftsverband Rheinland – Landesjugendamt – koordiniert und begleitet wird.
Hinweise aus der Praxis führten zu einem Prozess der Sensibilisierung
Auszüge aus dem Beitrag von Gerda Holz:
„Seit gut 15 Jahren lässt sich ein Prozess der Sensibilisierung und Problematisierung des Themas „Armut bei Kindern“ nachverfolgen. Es ist langsam aber stetig in die Öffentlichkeit gelangt und wurde so auch Gegenstand politischer Diskussionen. Ausgangspunkte waren primär Problemanzeigen aus der Praxis Sozialer Arbeit vor Ort, Berichte von Kommunen und Studien der Wohlfahrtsverbände. (…)
Mit der andauernden fachöffentlichen Diskussion über Problemlösungen wurde deutlich, es war nicht nur ein bis dato wenig wahrgenommenes gesellschaftliches Phänomen, sondern es fehlt genauso an theoretischem Wissen und praktischen Erfahrungen über mögliche Gegenstrategien – also Ansätze zur Armutsprävention, die gezielt auf junge Menschen ausgerichtet sind. Schon der Begriff „Armutsprävention“ brauchte längere Zeit, um sich überhaupt in der fachlichen und politischen Diskussion zu etablieren.
Wieder zeigte die Praxis den Weg. Neben den Bemühungen von sozialen Einrichtungen, Initiativen und Verbänden (…) um Einzellösungen in ihren Handlungsbereichen zeichnete sich die Entwicklung kommunalen Engagements zur Armutsprävention ab. (…) Ausgehend von den Modellarbeiten zur Entwicklung kommunaler Strategien wurden (…) Philosophie, Leitziele, Anforderungen, Handlungsebenen und Strukturelemente einer kindbezogener Armutsprävention abgeleitet und erarbeitet. (…)
(Kinder)Armut – Was heißt das?
Armut ist ein mehrdimensionales gesellschaftliches Phänomen. Die Begriffsbestimmung und die Messung sind nicht zuletzt wegen normativen Setzungen schwer fassbar. „Armut hängt von den sozialen und politischen Rahmendaten ab, die gesellschaftlich und politisch
gestaltet werden“. Selbst wenn keine einheitliche Definition vorliegt, kann mittlerweile doch hierzulande und in der EU von einem allgemeinen Verständnis ausgegangen werden. Armut stellt eine individuelle Lebenslage dar, die sich vor allem durch folgende Merkmale auszeichnet:
Armut heißt zunächst Einkommensarmut oder anders formuliert, der Betroffene/die Familie hat zu wenig Geld, um angemessen am allgemeinen Lebensstandard in Deutschland teilhaben zu können. Messgröße ist die aktuelle EU-Armutsdefinition, d.h., wer weniger als 60 % des gewichteten Medianeinkommens zu Verfügung hat. In Deutschland kann daneben der Anspruch auf Sozialgeld/Sozialhilfe (Hartz IV) als weitere Messgröße genutzt werden.
Armut ist eine defizitäre Lebenslage, die 24 Stunden am Tag wirkt und damit die gesamte Lebenssituation des Betroffenen prägt. Sie beschränkt die Handlungs- sowie die Entscheidungsspielräume der Familie und die Bedingungen des Aufwachsens des jungen Menschen.
Armut bestimmt den sozialen Status und den Habitus der Familie, somit auch des Kindes. Armut prägt Handlungs- und Bewältigungsstrategien. Armut impliziert immer eine Unterversorgung des Betroffenen mit materiellen wie immateriellen Gütern in den vier zentralen Dimensionen (Grundversorgung, Gesundheit, Bildung, Soziales). Der gegenwärtige Mangel führt wiederum zu verengten Zukunftschancen. (…)
Armut führt zu sozialer Ausgrenzung. Die für das soziale Wesen „Mensch“ existenziell notwendige Teilnahme am sozialen Austausch wird eingeschränkt und die Partizipation – aktive Beteiligung und Mitgestaltung – an gesellschaftlichen Prozessen wird begrenzt. Soziale Ausgrenzung kann einerseits selbst vollzogen werden, z. B. aus Scham. Andererseits werden die Betroffenen ausgegrenzt, z. B. in dem sie gemieden oder missachtet werden. (…)
Zentrale Ursachen und Risiken für Armut
Die Ursachen lassen sich in zwei große Problemlagen einteilen, zum einen „Erwerbsprobleme“ zum anderen „soziale Probleme“. Im Bereich der Erwerbsprobleme stellen (a) Langzeitarbeitslosigkeit sowie seit rund zehn Jahren vermehrt (b) Erwerbsarbeit mit Niedrigeinkommen (Teilzeittätigkeit und „Working poor“) die wichtigsten Ursachengruppen dar. „Arbeitende Arme“ und „arbeitslose Arme“ bilden zahlenmäßig heute fast gleichgroße Gruppen.
Der Hauptpräventionsansatz der Vergangenheit, Integration von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt, mag für die Gruppe „arbeitslose Arme“ zielführend sein, doch was ist mit der Gruppe „arbeitende Arme“? Hier lauten die Präventionsansätze unter anderem armutsfeste Einkommen, Mindestlohn, Grundsicherung o.ä.m.. Aber was ist auf diesem Gebiet – vor allem über Bundesentscheidungen – verwirklicht?
Zu den Ursachen von Armut zählen weiterhin soziale Probleme, wie Überschuldung, Trennung/Scheidung, Behinderung/Krankheit oder Multiproblemlagen. Familien in Multiproblemlagen stellen die bevölkerungs- und anteilsmäßig kleinste Gruppe der Armutsbetroffenen. Sie aber wird in der öffentlichen und politischen Diskussion sehr gerne als Prototyp von Armut vorgestellt, um aufzuzeigen, was doch alles an sozialen Hilfen und finanziellen Leistungen im Sinne einer Armutsbekämpfung aufgebracht wird. Diese Gruppe wird im gleichen Atemzug benutzt, um vermutetes individuelles Fehlverhalten – fehlendes Eigenengagement, unverständliches Bewältigungshandeln oder sozial unerwünschte Verhaltensweisen – zu belegen und anzuprangern. Aus der Lebenslage wird so individuelles selbstverschuldetes Verhalten, eine ideale Grundlage für Vorurteile und damit für Prozesse der Verfestigung sozialer Ausgrenzung.
Gleichzeitig besteht dann die Gefahr, dass derart geprägte soziale Vorurteile auf andere Betroffenengruppe übertragen werden. So wird auf einmal jede langzeiterwerbslose oder „Working poor“-Familie zu einer Multiproblemfamilie und kann doch faktisch weit davon entfernt sein. So laufen aber Präventionsmaßnahmen auch rasch ins Leere: So braucht eine erwerbstätige „Working poor“-Familie vielleicht eher ein einkommensfestes Einkommen sowie einen familienfreundlichen Arbeitsplatz, eine in den Öffnungszeiten flexible KiTa oder eine Ganztagsschule für ihre Kinder, aber keine erzieherische Einzelfallhilfe oder ein – immer beliebter werdendes – Elternkompetenztraining, um die Eltern-Kind-Beziehung und das Erziehungsverhalten „richtig“ zu erlernen. Es ist wichtig, genau darauf zu achten, wann und welche unserer sozialen Bilder und Vorstellungen transportiert werden, die mitentscheiden, was wir persönlich, aber auch fachlich als gut oder als schlecht einordnen. Hinsichtlich des Bemühens um Armutsprävention muss deshalb sehr genau geschaut werden, welche Ansätze (Maßnahmen) wirklich passen und wo Möglichkeiten und Grenzen bestehen.
Dem Armutsrisiko unterliegen die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich. Einige Beispiele: Der Altersgruppenvergleich zeigt für Kinder und Jugendliche die höchsten Risikoquoten an. Der Gendervergleich belegt, dass Frauen spätestens ab dem jungen Erwachsenenalter und danach kontinuierlich bis ins hohe Alter stärker armutsbetroffen sind. Bei Differenzierung nach Erwerbsgruppen sind vor allem (Langzeit-)Erwerbslose und Erwerbstätige im Niedriglohnbereich, bei einer Differenzierung nach Bildungshintergrund sind besonders die niedrig Qualifizierten armutsgefährdet.
Kinder sind vor allem dann risikogefährdet, wenn sie in einer Familie mit einem oder mehreren der folgenden fünf sozialen Merkmale aufwachsen: alleinerziehend, bildungsfern, Migrationshintergrund, mehr als zwei Geschwister, Lebensort ist ein sozial belastetes Quartier. Besteht eine Merkmalskombination potenziert sich die Gefährdung um ein Vielfaches. (…)
Kindbezogene Armutsprävention in Kommunen –
Wo und wie gelingt das?
Zunehmend befassen sich Städte und Gemeinden mit dem Problem „Kinderarmut“ sowohl aufgrund steigenden Problem- und Handlungsdrucks als auch aufgrund zunehmenden Bewusstseins für eine „öffentliche Verantwortung“ in Ergänzung der „privaten Verantwortung“ für arme Kinder. Dazu hat nicht nur der 12. Kinder- und Jugendbericht beigetragen, sondern beispielsweise auch die Diskussion um ein kindergerechtes Deutschland oder universale Kinderrechte. Im Wesentlichen sind derzeit bundesweit zwei Ansätze in Kommunen zu erkennen:
- Integrierter Gesamtansatz: Dieser zeichnet sich durch ein umfassendes Verständnis von Armutsprävention aus und ist integrativer Teil von Stadtentwicklung. Er greift die komplexe Problematik mit einem komplexen Handlungsansatz kindbezogener Prävention auf und stellt direkte Bezüge zu allen kommunalen Handlungsfeldern – von der
Kinder-/Jugend-/Familienhilfe über die Bildungs- und Stadtplanung bis hin zur Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsförderung – her. Er beinhaltet das Arbeiten anhand von Zielen, formuliert Strategien und Maßnahmen, setzt auf Vernetzung aller relevanten Akteure vor Ort und schaut auf Effekte. (…) - Komplexer Teilansatz: Charakteristisch ist, dass er sich dem komplexen Problem ebenfalls mit einem entsprechend umfassenden Verständnis nähert, aber einen Bereich herausgreift und damit ein Handlungsfeld kommunaler Verantwortung in den Fokus stellt. Dies kann der Bildungsbereich (…), die Frühe Förderung (…) oder auch der Aufbau eines Sozialmonitoring (…) sein.
Die Schaffung und Gestaltung eines interkommunalen Netzwerkes ist ein nächster Schritt in der aus der Praxis hervorgehenden Umsetzung einer kindbezogenen Armutsprävention. Hier ist das Landesjugendamt des Landschaftverbandes Rheinland (LVR) führend. Der LVR will in den nächsten Jahren modellhaft bis zu 50 rheinische Kommunen in ihrem Bemühen der Entwicklung und Realisierung kommunaler Strategien zur Bekämpfung von Kinderarmut beraten und begleiten. Sie werden in ein interkommunales Netzwerk des gegenseitigen Lernens eingebunden. (…)
Die Aufforderung zur Neuausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe
Angesichts der skizzierten Herausforderungen, aber auch der Handlungsmöglichkeiten werden die Anforderungen und damit die Antworten der Kinder- und Jugendhilfe auf Armutsfolgen bei Kindern sehr deutlich. Gebündelt sind das:
- Entwicklung und Umsetzung eines kommunalen Handlungsansatzes nach dem Leitmotto „Prävention als Aktion statt Reaktion auf Defizite“.
- Lieferung fundierter empirischer Daten durch die Jugendhilfeplanung und Gewährleistung eines wirkungsorientierten Monitorings.
- Weiterentwicklung der Infrastruktur für Kinder und Jugendliche im Sinne der (Armuts-)Präventionskette, (…)
- Aufbau und Umsetzung von (Armuts-)Präventionsnetzwerken, in denen alle relevanten Akteure vor Ort kooperieren und gemeinsam die Infrastruktur für junge Menschen (weiter-)entwickeln. (…)
- Resilienzförderung als pädagogisches Grundprinzip in allen Angeboten für junge Menschen in der Kommune.
- Systematische Gestaltung von Übergängen sowohl im Bildungssystem (…) als auch zwischen den Handlungsfeldern (…) im Einzelfall und auf der Systemebene sowie mit Fokus auf arme Kinder.
- Stärkere Wahrnehmung der Verantwortung für die Gestaltung positiver kindlicher Entwicklungs-/Lebensbedingungen im Elternhaus, d.h. quantitative und qualitative Weiterentwicklung des Bereiches „Arbeit mit (armen) Eltern. (…)“
Quelle: AWO Bundesverband