Caritas kritisiert geringe Chancengerechtigkeit in Deutschland und sieht Nachholbedarf
„Angesichts des Debattenverlaufs zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht im Bundestag fordert Caritas-Präsident Peter Neher den Bericht jetzt endlich im Kabinett zu beschließen. Das dürfe nicht durch weitere Überarbeitungen und Streitigkeiten innerhalb der Bundesregierung verschleppt werden. Die Probleme seien bekannt. Gebraucht würden dringend verstärkte Anstrengungen, um endlich die Vererbung von Armut und mangelnde Bildungs- und Aufstiegschancen in Deutschland abzubauen.
Von Müttern, die keinen Schulabschluss oder einen Hauptschulabschluss haben, schafft es nur jedes zehnte Kind auf das Gymnasium. Jedes dritte Kind eines ungelernten Arbeiters wird ebenfalls ein ungelernter Arbeiter. Beim Thema Chancengleichheit habe Deutschland seit Jahrzehnten enormen Nachholbedarf, stellt Caritas-Präsident Neher fest.
Den Schlüssel zur Verbesserung sieht er in befähigenden Strukturen und solidarischem Handeln in unserer Gesellschaft: Jeder Mensch habe Talente und Fähigkeiten. Es gelte, Kindergärten, Schulen und auch die Sozialsysteme so zu gestalten, dass sie Menschen stärken. Die Gesellschaft müsss früh bei Kindern und Jugendlichen den Grundstein für die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs legen.
Nachhilfe dürfe nicht nur für Kinder aus finanziell gut ausgestatteten Elternhäusern finanzierbar sein, sondern müsse verstärkt auch von Kindern genutzt werden können, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen. Im Rahmen des Bildungs-und Teilhabepaketes sei aber eine Nachhilfeförderung nicht möglich, um eine bessere Schulartempfehlung zu erreichen. Handlungsbedarf besteht auch bei der immer noch zu großen Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss. Hier brauche es ein verstärktes Engagement der Städte, Kreise und Gemeinden.“
Grüne bringen Antrag für eine sozio-kulturelle Existenzsicherung ins Parlament ein
„Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen macht in einem Antrag deutlich, dass allen Menschen gleichermaßen die Möglichkeit eröffnet werden muss, ihren Lebensunterhalt eigenverantwortlich zu erwirtschaften, um nicht auf existenzsichernde Leistungen angewiesen zu sein. Neben einer ausreichenden Zahl von Arbeitsplätzen halten die Grünen Veränderungen der Voraussetzungen für notwendig. So müssten etwas Lohnhöhe, steuerliche und sozialversicherungspflichtige Belastungen von Einkommen, finanzielle Leistungen für Kinder und Familien sowie Wohngeld derart zueinander wirken, dass sich Erwerbsarbeit finanziell lohnt. Die Mindestsicherung in Deutschland weise heute allerdings einige Lücken auf. Die Grünen fordern die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der das menschenwürdige Existenzminimum für jeden in Deutschland lebenden Menschen sicherstellt.
Hierfür gelte es:
## Kinderregelbedarf: a) die Kinderregelbedarfe nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
individuell und bedarfsdeckend zu berechnen sowie b) die einzelnen Leistungen des so genannte Bildungs- und Teilhabepakets realitätsgerecht zu ermitteln und über eine Erhöhung des Regelbedarfs sowie über Investitionen in die Bildungs- und Teilhabeinfrastruktur abzugelten
## Bedarfsgemeinschaften: existenzielle Leistungen zu individualisieren und in Bedarfsgemeinschaften den Hilfebezug stärker vom Partnereinkommen zu entkoppeln; hierfür ist zu prüfen, welche konkreten Schritte auch unter finanziellen Gesichtspunkten eingeleitet werden können; Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft nicht für Pflichtverletzungen anderer Mitglieder in die Verantwortung zu nehmen sowie Unterhaltsansprüche im Sozialrecht analog zum Familienrecht zu gestalten
## Kosten der Unterkunft und Heizung: unangemessene Wohnkosten solange zu übernehmen, bis ein adäquater, alternativer Wohnraum zur Verfügung steht und die Frist von sechs Monaten durch eine flexiblere Lösung zu ersetzen,
## Stromversorgung: ein Mindestmaß an energetischer Versorgung sicherzustellen, Stromsperren gesetzlich einzuschränken, Haushalten beim Einsparen von Strom und Gas zu helfen sowie Stromsparen über die Einführung von Strom- bzw. Energiespartarifen zu belohnen,
## Sanktionen: den Grundbedarf und die Kosten der Unterkunft und Heizung von Sanktionen auszunehmen, bei Kürzungen über 10 Prozent des Regelsatzes antragslos entsprechende Sachleistungen zu erbringen, sowie ein Sanktionsmoratorium zu erlassen, bis die Rechte der Arbeitsuchenden gestärkt wurden,
## … Qualität von Beratung und Bescheiden: … die Qualität von Beratung und Bescheiden als auch die Arbeits- und Personalsituation bei den Grundsicherungsstellen zu verbessern und ergänzend die Möglichkeit zu schaffen, bei allen Trägern des SGB II unabhängige Ombudsstellen einzurichten und zu finanzieren,
## Darlehen: für die Gewährung und Rückzahlung von Darlehen nicht grundsätzlich die Bedarfsgemeinschaft heranzuziehen, sondern die einzelnen Leistungsberechtigten; die Rückzahlungsmodalitäten wieder zu flexibilisieren sowie von einer Rückzahlung des Mietkautionsdarlehens während
des Leistungsbezuges abzusehen,
## Auszubildende und Studierende: die Lücken in der Deckung der Mehrbedarfe von Menschen mit Behinderungen sowie der Unterkunftskosten, die die derzeitigen Regelungen von SGB II und dem Bundesausbildungsfördergesetz (BAföG) bzw. dem SGB III bewirken, zu beseitigen
## Ausländische Staatsangehörige: a) das SGB II und XII europarechtskonform auszugestalten, um allen ernsthaft und nachweislich arbeitsuchenden Unionsbürgerinnen und -bürgern entsprechende Leistungen zu gewähren; den Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen betreffend Leistungen nach dem SGB II zurückzunehmen, b) für Asylsuchende, Geduldete und Bleibeberechtigte SGB II- bzw. SGB XII-Leistungen vorzusehen undhierfür das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen. „
„Es gehe nicht nur um die Armutsberichterstattung. Seit Jahren seien wir in Deutschland auf einem Irrweg, findet der AWO Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler. Seit zwanzig Jahren gehe die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht, der viele Schwächen habe, zeige dennoch klar, dass die untere Hälfte der Haushalte in Deutschland nur über rund ein Prozent des gesamten Nettovermögens verfügen. Die oberen zehn Prozent besitzen dagegen fast 60 Prozent. Dieser Trend setze sich massiv fort.
Die Antwort der Bundesregierung auf diese Missstände ist aus Sicht der AWO fatal. Im vierten Armuts- und Reichtumsbericht würde deutlich, dass die Bundesregierung auf die Verantwortung jedes Einzelnen setzt. Sie blende völlig aus, dass die Gesellschaft viel mehr braucht als Infrastruktur. „Wir müssen Teilhabe für diejenigen sichern, die Unterstützung bei der kontinuierlichen Wahrnehmung von Chancen brauchen“, so Stadler. Das erfordere einen starken Staat, der qualitativ hochwertige Dienstleistungen für Menschen in allen Lebenslagen bereithält und finanziert sowie eine gerechtere Umverteilung über Steuer- und Transfersysteme. Für die AWO ist es höchste Zeit, dass die Bundesregierung konsequent umsteuert.“
www.jugendarmut.info
Quelle: Pressedienst des Deutschen Bundestages; Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die grünen; Deutscher Caritasverband; AWO Bundesverband
Dokumente: Antrag_Gruene_Fuer_eine_sozio_kulturelle_Existenzsicherung_ohne_Luecken_.pdf