Das europäische Parlament hat zuletzt seinen Beitrag geleistet, die Außengrenzen der Europäischen Union noch stärker als bisher abzuriegeln. In allen europäischen Nationalstaaten sind Geflüchtete nicht willkommen. Deutschland wird mit der Bezahlkarte neue Schikanen für Geflüchtete einführen. Bundesregierung, Parlament und Parteien signalisieren mit Entscheidungen wie verschärften Grenzkontrollen, dem Abschiebegesetz, den Einsparungen bei Integrationsangeboten sowie mit schrillen Debatten über Migration außerdem: Bleibt weg! Solidarisches Handeln in einer Welt voller Krisen, das Wahren der Menschenwürde und die Übernahme von globaler Verantwortung sieht anders aus. Ein kommentierender Sachstand von Michael Scholl, Grundlagenreferent der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Sozialarbeit (BAG KKS) e. V.
EU verschärft die Regeln drastisch
Nachdem das Europäische Parlament die Vorschläge der Kommission und des Europäischen Rates zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) zugestimmt hat, werden die Außengrenzen dichter. Zudem steigen die Hürden an den europäischen Binnengrenzen. Geflüchtete können spätestens ab Mai 2026 mehrere Monate ohne rechtliche Handhabe in einer Art Haft isoliert und dann trotzdem abgeschoben werden. Grundlage ist ein neues Screening-Verfahren: Wer sich darin befindet, gilt als „nicht eingereist” und bleibt mindestens sieben Tage in einem Screening-Zentrum isoliert. Geprüft wird in den Zentren, ob Anspruch auf Asyl besteht. Wer keinen Anspruch hat, wird abgeschoben. Startet im Anschluss das Verfahren nach der Asylverfahrensverordnung, dann bedeutet das: Asylsuchende können bis zu 3 Monate an der Grenze festgesetzt werden – auch Kinder. Geflüchtete Kinder erhalten lediglich eine „Priorisierung” in der Prüfung. Wird der Antrag abgelehnt, sind weitere 3 Monate unter haftähnlichen Bedingungen zu erwarten, die Menschen gelten weiter als „nicht eingereist”.
Weniger Anspruch an „sichere” Drittstaaten
Parallel zu diesem restriktiven Verfahren werden die Anforderungen an die Sicherheit in Drittstaat deutlich gesenkt. Künftig muss nicht mehr das ganze Drittland als sicher gelten, sichere Teilgebiete reichen aus. Zudem wechselt die Beweislast, ob Gefahr für Leib und Leben nach der Abschiebung droht, zu den Geflüchteten. Die Regelungen für die Außengrenzen der EU gelten ebenfalls für Länder ohne Außengrenzen, Deutschland zu Beispiel. Hier sind Flughäfen in der Regel die Einreisepunkte, an den Geflüchtete im Transitbereich über Monate hängen bleiben.
„Migrationsdruck” als nationale Reißleine
Zusätzlich hält das GEAS eine weitere Eskalationsstufe mit einer „Krisenverordnung” bereit. Wird in einem Mitgliedstaat auf Antrag ein sogenannter „Migrationsdruck“ durch EU-Kommission festgestellt (beispielsweise zu viele Geflüchtete in kurzer Zeit), greifen Solidaritätsmaßnahmen von anderen Mitgliedstaaten. Nicht erst hier wird der humanitäre Gedanke und das Einzelschicksal durch Statistik und Berechnung abgelöst und in neuen Verfahren der unsichere und eingeschränkte Status Geflüchteter verlängert. Jede Regierung kann am Ende die nationale Reißleine ziehen und sich aus dem „Gemeinsam” im GEAS ausklinken.
Dublin wird abgelöst, bleibt aber unter neuem Namen bestehen
Mit der neuen Regelung im GEAS wird es keine Dublin-III-Verordnung mehr geben. Die „Verordnung über das Asyl- und Migrationsmanagement” bleibt in seinen Grundprinzipien aber das Dublin-System: Der Mitgliedstaat, in dem die asylsuchende Person als erstes eingereist ist, wird in den meisten Fällen für den Asylantrag zuständig sein – mit beschleunigten Verfahren, kurzen Fristen zwischen den staatlichen Stellen zum Nachteil der Geflüchteten und deutlich weniger Rechtsschutz.
Deutschland schleift die Selbstbestimmung
Mit den europäischen Regelungen werden in Deutschland Gesetze angepasst werden müssen. Es entstehen damit Möglichkeiten, die Verschärfung zu verschärfen. Gerade erst hat die AfD ihre Idee von einer Bezahlkarte für Geflüchtete von den demokratischen Parteien im Konsens gesetzlich regeln lassen. Und das über ein Gesetz, das mit „Datenübermittlungsvorschriften-Anpassungsgesetz” harmlos klingt und zugleich deutlich im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) krasse Änderungen schafft. Der Bund schafft einen bundesweiten Rahmen, in dem die Länder tun können, was sie wollen: Verhindern, dass Geflüchtete in ihrem Bundesland bleiben wollen und selbst bestimmen können.
Möglichst viele Funktions-Einschränkungen
14 von 16 Ländern haben sich längst vor Wochen auf Vorgaben geeinigt, was die Bezahlkarte leisten soll. Zum Beispiel: Kein Einsatz im Ausland, keine Karte-zu-Karte-Überweisung, keine Überweisung ins In- und Ausland, Bargeldabhebung nur im Inland über einen vorher staatlich definierten Betrag, die Möglichkeit bundesweiter oder bei Bedarf regionaler Nutzung durch Einschränkung der Postleitzahlen sowie die Möglichkeit des Ausschlusses bestimmter Händlergruppen und Branchen. Und trotz weitgehend gleicher Vorgaben kündigte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bereits an: „Unsere Bezahlkarte kommt schneller und ist härter“.
Barrieren für eine gleichberechtigte Teilhabe
Für die Menschen mit Bezahlkarten bedeuten die Vorgaben zum Beispiel: Sie können kein Deutschlandticket erwerben, keine Mietüberweisungen tätigen, keine Handyverträge abschließen, keine Raten an Rechtsbeistände zahlen, nicht auf dem Flohmarkt oder im Internet einkaufen, keine Haftpflichtversicherung bekommen und vieles mehr. Außerdem wird nicht in allen Geschäften mit Karte gezahlt werden können: Es fehlt an Technik am Verkaufstresen – vor allem in kleinen Geschäften und ländlichen Räumen – wo meist die Unterkünfte liegen. Buchungen mit der Bezahlkarte könnten wegen der höheren Anforderungen zudem höhere Gebühren bedeuten im Vergleich zur Girokarte – und damit eine kalte Kürzung der verfügbaren Summe.
Das irreführende Narrativ vom Bürokratie-Abbau
Für politische Entscheidungsträger*innen mit schlechtem Gewissen ob der Gängelung von geflüchteten Menschen, zählte das Narrativ des Bürokratie-Abbaus. Mit Blick auf unzählige offene Fragen, notwendige Regelungen für Behörden und Wirtschaft sowie Dienstleister, mit Aufwand bei der Einführung und der Überwachung des Systems zweifeln Expert*innen aus unterschiedlichen Bereichen an dieser Erzählung. Die Sozialbehörden etwa müssen zusätzliche Geldleistungen auszahlen, wenn nicht alle Bedarfe mit der Bezahlkarte gedeckt werden können. Das klingt nach Verwaltungsaufwand. Das Institut für Finanzdienstleistungen e.V. bezeichnet die Bezahlkarte als „ein Lehrstück, wie man finanzielle Inklusion verhindert und rechtspopulistische Narrative bedient“.
Testlauf für weiteren Sozialabbau
Während Organisationen, die anwaltschaftlich für die Interessen von Geflüchteten eintreten, die neuen Regeln der EU und die Abwehr-Gesetze von Bund und Ländern zurecht kritisieren, geraten weitere Organisationen im sozialpolitischen Feld in Alarmstimmung. Denn die Bezahlkarte für Geflüchtete kann ein Testlauf für eine Ausdehnung auf sämtliche Beziehenden staatlicher Sozialleistungen werden. Das Streichen des Sachleistungsprinzips vor rund zehn Jahren war eine wichtige sozialpolitische Errungenschaft, sie wird zunächst im AsylbLG rückgängig gemacht. Ein wesentliches Argument von der Abkehr der Geldleistung ist der Kampf gegen den „Pull-Faktor Sozialstaat”. Abgesehen von der monokausalen Sichtweise, was Fluchtgründe sind: In der sozialpolitischen Debatte kursiert das Stichwort „Pull-Faktor Sozialleistung”. Ausgeführt werden diese Ideen in einem Gutachten von Daniel Thym, Rechtswissenschaftler an der Universität Konstanz. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beruft sich in ihren Anträgen und Äußerungen darauf.
Gute Nacht, Christliches Abendland.
Claudius Voigt von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender (GGUA) schreibt auf der Seite des Tacheles e.V.: „Das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes soll geschleift, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimums entlang rassistischer und klassistischer Trennlinien relativiert, die soziale Exklusion für bestimmte Bevölkerungsgruppen zur Normalität werden“. In vielen Ländern voller dringend benötigter Fachkräfte für die deutsche und europäische Wirtschaft sowie das Dienstleistungsgewerbe, wird aufmerksam wahrgenommen, was in Deutschland und Europa passiert. In einer OECD-Studie berichten mehr als die Hälfte der befragten Fachkräfte, die nach Deutschland eingereist sind, von Diskriminierungserfahrungen und einer fehlenden Willkommenskultur. Das alles passiert in einer Gesellschaft, in einem Staat und einer Staatengemeinschaft, die sich im „Christlichen Abendland” verortet und in ihren Chartas und Grundgesetzen die Menschenwürde an erste Stelle stellt.
Quellen: Bayerischer Rundfunk, Deutscher Bundestag, Europäisches Parlament, OECD, Tacheles e.V.