Steht die Gesellschaft mit dem „Herbst der Reformen“ am Kipppunkt?

Mitten in der angespannten Wohnsituation in Deutschland will die Bundesregierung Sozialleistungen in Milliardenhöhe kürzen – allen voran das Bürgergeld. Besonders betroffen sind Menschen, die ohnehin am Rande des Wohnungsmarkts stehen. Sozialverbände und Erwerbslosengruppen warnen vor dramatischen Folgen bis hin zu wachsender Wohnungslosigkeit. Das Bündnis „AufRecht bestehen“ ruft daher zu einer Aktionswoche vom 20. bis 24. Oktober auf, die unter dem Motto „Herbst der Gegenwehr“ steht.

Wohnen wird zum sozialen Risiko

Die Bundesregierung plant Einschnitte beim Bürgergeld in Höhe von fünf Milliarden Euro. Besonders im Fokus stehen dabei auch die Wohnkosten: Bisher gilt für Personen im ersten Jahr des Bürgergeldbezugs, dass ihre Wohnkosten in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Eine Prüfung auf Angemessenheit entfällt in diesem Zeitraum. Diese bisher geltende Karenzzeit soll abgeschafft oder stark eingeschränkt werden. Als Folge müssen Bezieher*innen von Bürgergeld künftig aus dem Regelsatz auch Anteile ihre Miete bestreiten, selbst in Regionen mit hohen Wohnkosten. Alternativ müssten sie aus ihren Wohnungen ausziehen, wenn die Mieten für sie zu hoch werden. Familien mit Kindern oder Alleinerziehende sind nach jetzigen Reformentwürfen auch davon bedroht. Der Sozialverband Deutschland (SoVD) warnt vor dem Wegfall der Karenzregelung. Niemand könne sofort umziehen, weil die Miete nicht vom Amt übernommen wird – gerade auf dem extrem angespannten Wohnungsmarkt in Ballungsgebieten, wo es immer weniger bezahlbaren Wohnraum gebe. Der SoVD befürchtet ernste finanzielle Schwierigkeiten für viele Betroffene. „Den Betroffenen bleibt also keine Alternative als den Regelbedarf für die Miete zu nutzen“, sagte SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier. „Entsprechend leer dürfte der Kühlschrank am Ende des Monats sein.“ Das Risiko von Wohnungsverlust und Obdachlosigkeit steigt damit an.

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisiert die geplanten Leistungskürzungen und zusätzlich angedrohte Sanktionen scharf. DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi spricht von einer „Hetzkampagne gegen Bürgergeldempfänger“, die nicht auf sachlichen Argumenten, sondern auf populistischen Narrativen beruhe. Die geplanten Nullrunden bei den Regelbedarfen würden die reale Kaufkraft der Betroffenen weiter senken und Armut verstärken.

Aufruf zur Aktionswoche: „Solidarität statt Spaltung“

Auch das Bündnis „AufRecht bestehen“, in dem sich Erwerbslosengruppen, Gewerkschaften und Sozialverbände zusammengeschlossen haben, sieht im angekündigten Reformkurs einen „Generalangriff auf den Sozialstaat“. In ihrem Aufruf zur Aktionswoche im Oktober heißt es: „Sozialstaatliche Errungenschaften sollen nicht mehr finanzierbar sein – für Rüstung und Militär sind aber scheinbar endlose Summen vorhanden. Während das Geld für Daseinsvorsorge mal wieder fehlt, droht durch Kürzungen beim Bürgergeld ein weiterer Anstieg von Wohnungsnot und sozialer Ausgrenzung.“ Neben der Streichung der Karenzzeit befürchten die Verbände auch stärkere Sanktionsmechanismen, die für Menschen in prekären Lebensverhältnissen existenzbedrohend sein können. Das Bündnis ruft daher zu mehr Solidarität statt weiterer gesellschaftlicher Spaltung auf.

Von der Wohnungsnot in die Obdachlosigkeit?

Wohnungslosigkeit ist längst kein Randphänomen mehr. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) waren 2024 rund 607.000 Menschen in Deutschland ohne eigene Wohnung – Tendenz steigend. Für viele Sozialverbände ist klar, dass die geplanten Einschnitte im Bürgergeld diese Zahl weiter erhöhen könnten.

Die BAG W spricht in ihrer aktuellen Kampagne von einer „strukturellen Krise“, die „nur politisch lösbar“ sei. Unter dem Motto „Politik in die Pflicht nehmen – Wohnungsnot beenden“ fordert die Organisation entschlossene Maßnahmen und klare gesetzliche Rahmenbedingungen. Die Diakonie Deutschland ergänzt: Eine Nullrunde bei den Regelsätzen sei angesichts der Miet- und Energiepreise völlig realitätsfern. Wohnkosten würden vielerorts zur Hauptursache von Überschuldung und Verdrängung – eine Entwicklung, die sich mit den Reformen dramatisch beschleunigen könnte.

Jugend und Wohnungsmarkt: Risiko Zukunft?

Besonders junge Menschen sind von den Preissteigerungen auf dem Wohnungsmarkt stark betroffen. Laut dem Monitor „Jugendarmut in Deutschland 2024/2025″ der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. sorgt sich mehr als jede*r zweite junge Mensch zwischen 16 und 29 Jahren wegen hoher Wohnkosten. Sieben von zehn geben an, dass es schwer sei, bezahlbaren Wohnraum zu finden.

Gerade in Übergangsphasen – zwischen Schule, Ausbildung, Studium oder dem Einstieg ins Berufsleben – sind junge Menschen auf stabile Wohnverhältnisse angewiesen. Doch genau daran fehlt es immer häufiger. „Wohnen ist ein Grundbedürfnis, aber für viele junge Menschen alles andere als selbstverständlich“, heißt es im Jugendarmutsmonitor. Die geplanten Kürzungen beim Bürgergeld könnten für Kinder und Jugendliche zusätzliche Barrieren aufbauen, wenn ihre Familien davon betroffen sind. Jungen Erwachsenen könnte dadurch der Auszug von Zuhause und Einzug in eine eigene Wohnung erschwert oder berufliche Mobilität verhindert werden.

Aktionswoche will Druck machen

Mit einer dezentralen Aktionswoche vom 20. bis 24. Oktober 2025 will das Bündnis „AufRecht bestehen“ auf die sozialen Folgen der Kürzungspolitik aufmerksam machen. Der Schwerpunkt liegt in diesem Jahr klar auf dem Thema Wohnen. Mit Infoständen vor Jobcentern, Kundgebungen in Fußgängerzonen und Aktionen vor Rathäusern soll die Öffentlichkeit sensibilisiert werden – und die Politik zum Umdenken gebracht werden.

Zu den Forderungen des Bündnisses gehören:

  • Bezahlbarer Wohnraum für alle – als Grundrecht
  • Karenzzeiten mit vollständiger Mietkostenübernahme im Bürgergeld beibehalten
  • Stopp der Kürzungen – stattdessen Investitionen in sozialen Wohnungsbau
  • Keine Sanktionen, die zu Wohnungsverlust führen können

 

Autorin: Silke Starke-Uekermann

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