Inklusionsbarometer Jugend: schlechtere Teilhabechancen von jungen Menschen mit Beeinträchtigung

Junge Menschen mit Beeinträchtigung haben deutlich schlechtere Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe, sind häufiger Diskriminierungen ausgesetzt und sorgen sich mehr um die Zukunft als Gleichaltrige ohne Beeinträchtigungen. So lautet das Fazit des Inklusionsbarometers Jugend der Aktion Mensch aus dem Jahr 2024. Die Studie vergleicht die Teilhabechancen junger Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen zwischen 14 und 27 Jahren in Deutschland.

Das Ziel des Inklusionsbarometers Jugend ist es, auf die vorhandenen und fehlenden Teilhabemöglichkeiten junger Menschen hinzuweisen, diese ausgehend vom Merkmal der Beeinträchtigung untereinander zu vergleichen und Ungleichheiten zu identifizieren. Auf diese Weise soll für die Lebensrealität junger Menschen sensibilisiert werden. Den Autor*innen der Vergleichsstudie zufolge werden bei den meisten Forschungsprojekten zum Thema Jugend junge Menschen mit Beeinträchtigungen oftmals entweder nur marginalisiert oder ausschließlich betrachtet. Bisherige Forschungserkenntnisse über Lebens- und Alltagswelten junger Menschen in Deutschland sollen daher durch das Inklusionsbarometer Jugend um weitere Vielfaltsperspektiven ergänzt werden, erklären die Herausgeber*innen der Studie.

Ähnliche Interessen bei unterschiedlichen Teilhabechancen

Für die Studie wurden 1.442 junge Menschen im Alter von 14 bis 27 Jahren in persönlichen Interviews befragt. Etwa die Hälfte der Befragten hatte eine Beeinträchtigung. Die Studie wurde an fünf Themenkomplexen der Teilhabe ausgerichtet, die für das Aufwachsen junger Menschen als zentral erachtet werden: soziale Beziehungen, Alltagsleben, Selbstbestimmung, Individuelle Entfaltung und Nichtdiskriminierung.

Folgende Fragestellungen waren für die Ausarbeitung der Studie handlungsleitend:

  • Wie nehmen junge Menschen ihre Teilhabemöglichkeiten in ihren Lebenswelten wahr?
  • Wo entstehen Teilhabeeinschränkungen und was sind mögliche Gründe?
  • Nehmen junge Menschen mit Beeinträchtigung und/oder anderen benachteiligenden Merkmalen ihre Teilhabechancen anders wahr als junge Menschen ohne Beeinträchtigung?
  • An welchen Stellen bewerten sie ihr Eingebundensein in die Gesellschaft unterschiedlich?

Die Auswertung der Antworten der Studienteilnehmer*innen zeigt, dass sich die Bedürfnisse und Herausforderungen von jungen Menschen mit oder ohne Beeinträchtigung ähneln, beispielsweise bei Vorlieben in der Freizeitgestaltung. Doch die Herausforderungen junger Menschen mit Beeinträchtigung sind in allen fünf Teilhabebereichen deutlich größer als jene von Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigungen. Betroffen davon sind auch Schul-, Ausbildungs- und Berufsalltag. Ein Grund dafür ist unter anderem ein spürbarer Mangel an Barrierefreiheit. Zudem bewerteten junge Menschen mit Beeinträchtigung ihre Lebenssituation durchweg deutlich negativer als Gleichaltrige ohne Beeinträchtigung.

Zentrale Ergebnisse – Teilhabeindex

Im Hinblick auf übergeordnete Ergebnisse gab etwa die Hälfte der jungen Menschen mit Beeinträchtigung an, mit ihrem Leben insgesamt zufrieden zu sein. Bei jenen ohne Beeinträchtigung lag dieser Wert bei 78 %. Unter den verschiedenen Beeinträchtigungen sind junge Menschen mit einer psychischen oder Suchterkrankung am stärksten von ungleichen Teilhabechancen betroffen. Beim Punkt Teilhabe durch soziale Beziehungen gaben die Befragten mit Beeinträchtigung doppelt so häufig wie junge Menschen ohne Beeinträchtigung an, sich einsam zu fühlen (26 % zu 13 %).  72 % der jungen Menschen mit Beeinträchtigung nannten ihre Familie als wichtigste Stütze im Hinblick auf soziale Beziehungen. Bei den jungen Menschen ohne Beeinträchtigung wurden Freundschaften mit 86 % der größte Stellenwert beigemessen. Jungen Menschen mit Beeinträchtigung fällt es laut der Studie deutlich schwerer, neue Freundschaften zu schließen als Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigung.

Junge Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gaben bei ihren Antworten an, sich für ähnliche Freizeitaktivitäten zu interessieren. Die Hälfte der jungen Menschen mit Beeinträchtigungen trifft jedoch insbesondere beim Sport und beim Feiern- und Ausgehen auf Barrieren. Die meisten Studienteilnehmer*innen ohne Beeinträchtigungen gaben an, im Alter von 22 bis 27 Jahren größtenteils selbstbestimmt über ihr Leben zu entscheiden. Mit Beeinträchtigung tun dies nur drei Viertel.

Jugendliche mit Beeinträchtigung am häufigsten von Diskriminierung betroffen

Im Themenbereich Teilhabe durch Nichtdiskriminierung lautet das Ergebnis der Befragung, dass mehr als sechs von zehn jungen Menschen bereits Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Der Anteil derjenigen mit Beeinträchtigung lag dabei mit 85 % deutlich höher als der von jungen Menschen ohne Beeinträchtigung (61 %). 35 % der jungen Menschen mit Beeinträchtigung hatten bereits Erfahrung mit Cybermobbing gemacht. Bei jenen ohne Beeinträchtigung lag dieser Wert bei 22 %. Ein Drittel der jungen Menschen mit Beeinträchtigung sorgt sich zudem davor, zukünftig noch stärker diskriminiert oder ausgegrenzt zu werden. Junge Menschen ohne Beeinträchtigung nannten diese Sorge nur halb so oft. Was die Teilhabe im Hinblick auf den Bildungsweg betrifft, fiel die Bewertung der Erfahrungen junger Menschen mit Beeinträchtigung durchweg negativer aus als bei Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigung: Etwa die Hälfte der Befragten mit Beeinträchtigung gab an, während der Schulzeit von Mitschüler*innen und/oder Lehrkräften gemobbt worden zu sein.

Junge Menschen mit Beeinträchtigung gaben zudem an, dass sie sich deutlich mehr Sorgen um ihre Zukunft machen würden (41 % zu 16 %). Ihre größte Sorge gilt dabei der Verschlechterung ihres Gesundheitszustands. Mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer*innen mit Beeinträchtigungen fand, dass ihnen zu wenig zugetraut werde – bei Jugendlichen ohne Beeinträchtigung empfanden dies 29 %. Dies wirke sich wiederum negativ auf das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit der jungen Menschen aus. Die Hälfte der Befragten mit Beeinträchtigung glaubt, dass andere in ihrem Alter viel mehr als sie selbst könnten. Bei den Befragten ohne Beeinträchtigung empfand dies nur etwa ein Fünftel.

Fazit und Schlussfolgerungen

„Nicht alle jungen Menschen haben die gleichen Möglichkeiten, an relevanten Lebensbereichen teilzuhaben oder das Leben nach den eigenen Wünschen zu gestalten. Herausforderungen im Alltag fallen daher unterschiedlich aus und bringen auch unterschiedliche Grade an Teilhabechancen mit sich“, führen die Autor*innen der Studie aus. „Eine weitere Beobachtung, die sich in den Ergebnissen dieser Studie widerspiegelt, ist das Phänomen der Intersektionalität. Intersektionalität beschreibt die Überschneidung und das gleichzeitige Auftreten mehrerer Diskriminierungsmerkmale, wie etwa Beeinträchtigung, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder soziale Herkunft. Wenn junge Menschen von mehreren ausschließenden Merkmalen gleichzeitig betroffen sind, potenzieren sich die negativen Auswirkungen auf ihre Teilhabechancen.“

Im Inklusionsbarometer Jugend wird Teilhabe als Spielraum selbstbestimmter, aktiv gestalteter und ausgeübter Lebensführung verstanden. Teilhabe impliziere dabei Wahlmöglichkeiten unter Einbeziehung verschiedener Ebenen der gesellschaftlichen Lebensbereiche, erläutert die Studie. Inklusion bedeute somit auch, entsprechende Ressourcen und Unterstützung bereitzustellen, die die Teilhabe an allen relevanten Lebensbereichen und gesellschaftlichen Prozessen ermöglichten. Ziel müsse laut den Studienherausgeber*innen somit sein, inklusive Rahmenbedingungen für alle jungen Menschen zu schaffen, um ihnen auf diese Weise ein selbstbestimmtes und erfülltes Heranwachsen zu ermöglichten – unabhängig von Benachteiligung und Ausgrenzung. Es bedürfe einer soliden und sicheren Ausgangsposition, gerechter Startchancen, ausreichend systemische und individuelle Unterstützung sowie Möglichkeiten der selbstbestimmten Entwicklung und Persönlichkeitsentfaltung für alle jungen Menschen. Wichtig sei nicht nur junge Menschen zu stärken, sondern auch ihre Umfelder für eine reflektierte, wertschätzende und inklusive Haltung zu sensibilisieren, lautet die Einschätzung der Autor*innen.

 

Autorin: Mareike Klemz

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