Bessere Bildung 2035: Großer Wurf oder verpasste Chance?

Drei Kultusministerinnen haben im Januar ihre Vorschläge für eine bessere Bildung bis 2035 vorgestellt. Die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD), Katrin Prien (CDU) aus Schleswig-Holstein und Theresa Schopper, baden-württembergische Kultusministerin (Grüne), haben eine parteiübergreifende Position zur Debatte über Qualitätsentwicklung in der Bildung verfasst. Ihr Beitrag ist im Rahmen eines von der Wübben Stiftung Bildung moderierten Prozesses erarbeitet und in der Publikation „Bessere Bildung 2035“ veröffentlicht worden.

Julia Schad-Heim, Referentin für Bildung und Jugendsozialarbeit bei IN VIA Deutschland im Netzwerk der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e.V., kommentiert diesen Vorstoß. Nach Benennung zentraler Bildungsherausforderungen in Deutschland ordnet sie die Initiative der Ministerinnen aus Perspektive der katholischen Jugendsozialarbeit ein und bewertet abschließend die Positionierung: Großer Wurf oder verpasste Chance für bessere Bildung?

Bildungschancen verbessern – Politisches Handeln ist überfällig

Zum wiederholten Mal hat der Nationale Bildungsbericht im Jahr 2024 die enge Kopplung von Bildungschancen und sozio-ökonomischen Hintergrund junger Menschen nachgewiesen. Mehr als jedes fünfte Kind ist von einer finanziellen Risikolage betroffen. Jede*r vierte Jugendliche ist armutsgefährdet. Zudem belegt der Nationale Bildungsbericht, dass die Abgangsquote junger Menschen ohne mindestens einen ersten Schulabschluss zuletzt von 5,7 Prozent (2013) auf 6,9 Prozent (2022) gestiegen ist. Hiermit gehört Deutschland nicht nur zum Mittelfeld, sondern zu den Schlusslichtern der OECD-Mitgliedsländern. Betrachtet man zudem noch die Verpflichtung aus der UN-Behindertenrechtskonvention, bundesweit ein inklusives Bildungssystem zu realisieren, sind in vielen Bundesländern sogar eher Rück- statt Fortschritte zu verzeichnen.

Fragt man junge Menschen selbst, äußern sie vermehrt psychische Schwierigkeiten, Belastungen und ein geringes schulisches Wohlbefinden. Eine zunehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen fühlt sich unter (Leistungs-) Druck oder abgehängt. Aus der Praxis der Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit ist bekannt, dass sie zum Teil mit Schulabsentismus reagieren. Dieser kann multifaktorielle Ursachen und unterschiedliche Ausprägungen haben. Belastbare statistische Daten zum Schulabsentismus fehlen allerdings. Jedes Bundesland und teils auch die einzelnen Schulen verfolgen individuelle Wege der Dokumentation oder Datenerhebung zu Schulversäumnissen jedoch häufig nicht systematisch.

Fest steht: Bildung muss besser und gerechter werden. Denn verwehrte Chancen, Schulabsentismus und Schulabbrüche können zu massiven Einschränkungen der beruflichen Perspektiven und der gesamten Biografie junger Menschen führen.

Bildungsministerinnen legen ambitionierte Ziele vor – aus Sicht der katholischen Jugendsozialarbeit bemerkenswert

Haben die Bildungsministerinnen mit ihren Vorschlägen für eine bessere Bildung bis 2035 nun die entscheidenden Weichen gestellt? In ihrem Konzept benennen sie vier allgemeine Ziele, auf die die Bildungspolitik sich einigen sollte. Zu zwei Zielen benennen sie auch bereits konkrete, messbare Erfolgsindikatoren. Neu ist, dass hiermit auch Fortschritte im Bildungswesen je Bundesland gemessen werden können, statt ausschließlich z. B. lediglich Aussagen zum Leistungsstand zu einem bestimmten Zeitpunkt treffen zu können.

Neben Verbesserungen in der Frühen Bildung sowie dem (nicht neuen) Ziel der notwendigen Fortschritte in der Kompetenz- und Leistungsentwicklung junger Menschen, sollen zwei weitere Ziele handlungsleitend sein: Bildungschancen verbessern und Förderung der Persönlichkeitsentwicklung am Lern- und Lebensort Schule.

Diese beiden Ziele sind bemerkenswert und stoßen in der Sozialen Arbeit, v. a. der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Jugendsozialarbeit, auf Zustimmung. Mit besseren Bildungschancen meinen die Ministerinnen Kompetenzen, die für ein selbstbestimmtes Leben nach Schulende und für die Teilhabe in einer demokratischen Gesellschaft essenziell für alle jungen Menschen sind. Gemessen werden soll dies u. a. an einem Rückgang der Schulabgänge ohne ersten Schulabschluss um 50 Prozent. Das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung durch bessere Bildung impliziert, dass junge Menschen am Lern- und Lebensort Schule Selbstreflexion und Selbstbewusstsein entwickeln können sowie ein gesundes Aufwachsen für sie hier möglich ist. Hierfür sollen jedoch zuerst noch messbare Indikatoren und Erhebungsstrategien entwickelt werden.

Gemeinsame Stoßrichtung von Schul- und Jugendhilfesystem?

Alle Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, und somit auch die schulbezogene Jugendsozialarbeit (§13 SGB VIII) sowie die Schulsozialarbeit (§13a SGB VIII), orientieren sich mit ihrem Wirken am Recht junger Menschen auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§1 SGB VIII). Zudem existieren an ausgewählten Schulen derzeit bundesweite Programme der Jugendsozialarbeit für mentale Gesundheit (Mental Health Coaches) sowie für Demokratiebildung (Respekt Coaches).

Hier zeigen sich deutliche Überschneidungen des Auftrags der Jugendhilfe und der Zielbeschreibungen der Bildungsministerinnen. Dies bietet zwar eine Basis für Verständigung und systematische Zusammenarbeit, diese wird bisher jedoch konzeptionell und auf den verschiedenen Ebenen leider noch viel zu wenig umgesetzt. In einem Einzelbeitrag im Rahmen der Gesamtpublikation der Wübben Stiftung spricht Stefanie Hubig sich erfreulicherweise auch gegen Versäulung der verschiedenen Hilfesysteme aus und plädiert dafür, Synergien, u. a. mit der Jugendhilfe, zu nutzen.

Verwunderlich ist allerdings, dass in den Vorschlägen der Bildungsministerinnen und damit dem Part, der nun die Arbeitsgrundlage bildet mit keinem Wort die Jugendhilfe, geschweige denn die Jugendsozialarbeit oder Schulsozialarbeit erwähnt wird. Immerhin ist von „rechtskreisübergreifendem Zusammenwirken“ auf kommunaler Ebene und „kooperativer Schulkultur“ die Rede. Was das genau heißt, bleibt nun konkret zu konzeptionieren.

Es könnte hierfür zudem auch lohnenswert sein mit Wirkungsforscher*innen aus dem Jugendhilfe- und Schulsozialarbeitskontext zusammen zu arbeiten. Diese könnten bei der Entwicklung von messbaren Indikatoren für das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung helfen, die in den Vorschlägen der Bildungsministerinnen noch fehlen.

Was muss passieren? Jugend- und Schulsozialarbeit als Partner*innen einbeziehen

Aus Sicht der katholischen Jugendsozialarbeit sollten alle jungen Menschen, ihre Eltern/Erziehungsberechtigten und Lehrkräfte von Angeboten und Programmen der Jugendsozialarbeit sowie der Schulsozialarbeit profitieren können. Auch für ihre persönlichen Anliegen sind unabhängige Vertrauenspersonen am Lern- und Lebensort Schule essenziell. Diese sind in multiprofessionelle Zusammenarbeit in den Schulen konstruktiv einzubinden.

An dieser Stelle ist auch der Bezug zur neuen Bund-Länder-Initiative „Startchancen-Programm“ herzustellen. Die „Förderung von Multiprofessionalität und Schulsozialarbeit“ bildet eine der drei Programmsäulen. Zudem überschneiden sich auch hier die Ziele des Programms mit dem Vorschlag der drei Bildungsministerinnen: Entkopplung von Bildungschancen und sozialer Herkunft sowie Persönlichkeitsentwicklung.

Fazit

Das Konzept mag zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht der große Wurf sein, aber ein wichtiger und ernstzunehmender Schritt in die richtige Richtung. Spannend ist nun die Frage, ob die Initiative der Bildungsministerinnen von den übrigen 13 Kultusministerien aufgegriffen und mit den Umsetzungsprozessen zum Startchancen-Programm harmonisiert wird. So könnte ein ernsthafter Prozess für bessere und gerechte Bildung bis 2035 entstehen. Ohne die Expertise und Erfahrungen aus der Jugend- und Schulsozialarbeit ist dies allerdings nicht denkbar. Es gilt daher Synergien zu schaffen und diese zielgerecht zu nutzen, denn alle Akteur*innen vereint ein gemeinsames Anliegen: junge Menschen so bei ihrem Aufwachsen zu begleiten und zu unterstützen, dass ihnen eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe und ein gutes, selbstbestimmtes Leben möglich ist.

 

Autorin: Julia Schad-Heim

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