Auf die Frage eines Journalisten, was Regierungen am Ehesten vom Kurs abbringe, soll der ehemalige britische Premierminister Harold Macmillan einmal gesagt haben: „Events, my dear boy, events.“. Die Corona-Krise ist so ein solches Ereignis, das nicht nur die Politik, sondern auch die Jugendsozialarbeit vom Kurs abgebracht hat. Auch bei vielen Trägern und Einrichtungen der Jugendsozialarbeit stellt sich seit Beginn des Lockdowns die z. T. existentielle Frage, wie es zukünftig weitergeht, wenn die Soforthilfen aufgebraucht sind und das Kurzarbeitergeld ausläuft. Um diese Frage zu beantworten lohnt sich ein Blick zurück. Denn die aktuelle Krise wirft vor allem ein Schlaglicht auf die Versäumnisse im Bereich der Digitalisierung, sowohl der Politik, der Arbeitsverwaltung aber auch der Träger in den vergangenen Jahren. Dr. Michael Herkendell, Referent für Fachliches Controlling und Projektmanagement bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit, analysiert in einem Meinungsbeitrag die Situation und zieht Schlussfolgerungen für die nahe sowie die in Ferne liegende Zukunft.
Unbekanntes Terrain beschritten
Noch vor wenigen Wochen wäre es für die meisten Menschen undenkbar gewesen, erhebliche Einschränkungen der Grundrechte geradezu wohlwollend hinzunehmen. Auch die Aufgabe der „Schwarzen-Null“ war unvorstellbar. Ebenso unvorstellbar, wie die Tatsache, dass Einrichtungen und Fachkräfte der Jugendsozialarbeit ihr einziges Heil bei bis dato weitestgehend unbekannten Videokonferenzanbietern suchen, um zumindest punktuell die Arbeit und den Kontakt mit ihren Jugendlichen und Kollegen*innen aufrecht zu halten.
Während die Weltwirtschaft infolge dieses Events auf eine globale Rezession hinzusteuert und Millionen Menschen in Deutschland und anderen Ländern von Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, Hunger und vermehrter Armut betroffen sind, haben lediglich Amazon und die Zunft der Zukunftsforscher Konjunktur. Zwar ist die Frage, welche Auswirkungen dieses Jahrhundert-Ereignis auf unsere Gesellschaften hat, berechtigt, allerdings sind Prognosen immer schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.
Digitalisierung in der Sozialen Arbeit – Prilblumen auf den Kühlschränken?
Es ist zwar müßig, immer wieder darauf zu verweisen, dass die Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeitswelt kein Phänomen der vergangenen Jahre ist, sondern vielmehr eine evolutionäre Entwicklung darstellt, die seit über vier Jahrzehnten stattfindet. Dennoch müssen sich alle genannten Akteure den Vorwurf gefallen lassen, dass sie diese Entwicklung weitestgehend verschlafen haben. Dass ein Breitbandanschluss auch im Jahre 2020 immer noch einen Standortvorteil darstellen kann und Bürgermeister einer Kommune stolz verkünden, dass nun bald alle Schulen ein freies und stabiles W-LAN haben, ist der sicht- und spürbare Ausdruck technologiepolitischen Versagens. Aber auch die Träger und Einrichtungen der Jugendsozialarbeit erweckten in den vergangenen Jahren nicht den Eindruck, als wären sie die Spitze der digitalen Bewegung. Manche Jugendberufshilfe Einrichtungen atmen immer noch den technischen Charme der 70er und 80er Jahre. Es fehlen lediglich die Prilblumen auf den Kühlschränken.
Die Auswirkungen dieser Vogel-Strauß-Politik sind in der Fläche fehlende didaktische Konzepte und Strategien hinsichtlich innovativer Lernformate wie Blended Learning, e-Learning, Cloud Working o. Ä. Bestehende Unsicherheiten mit Blick auf die Nutzung von Messenger-Diensten oder schlichtweg fehlende bzw. veraltete digitale Infrastruktur tun ihr Übriges.
Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass diese Einrichtungen den Gesetzen des Marktes unterliegen. Die Investitionen müssen sich folglich rentieren. Doch für Investitionen in die digitale Technik ist in der Regel kein Geld da, da diese zwar in Maßnahmen, z. B. der Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen, eingepreist werden können, die Einrichtungen aber bei Ausschreibung keinen Zuschlag bekommen, weil sie zu teuer sind. Von weiteren daraus resultierenden Folgekosten für die Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter*innen oder für die Didaktisierung der Technik ganz zu schweigen. Das Ergebnis ist, dass die Einrichtungen aktuell nicht adäquat auf die Herausforderungen der Krise reagieren können. Langfristig, und das ist systemisch der entscheidende Punkt, besteht die Gefahr einer Zweiklassenausbildung mit der Folge, dass die Jugendlichen bei der Aufrechterhaltung des Status quo in Einrichtungen der Jugendberufshilfe erneut benachteiligt werden.
Politik, Arbeitsverwaltung und Träger müssen aktiv werden
Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, dass Politik und Arbeitsverwaltung, aber auch die Träger handeln. Denn der Corona-bedingte Stillstand der Wirtschaft wird nicht nur zu einer Steigerung der Arbeitslosenzahlen führen, sondern auch viele Ausbildungsbetriebe dazu veranlassen, in diesen unruhigen Zeiten ihre Ausbildungsplätze zu reduzieren. Dies hat auch der DGB erkannt und erklärt, dass „wir im kommenden Jahr neben der betrieblichen Ausbildung verstärkt außerbetriebliche Angebote brauchen“.
Um jedoch eine gute technische und didaktische außerbetriebliche Ausbildung gewährleisten zu können, bedarf es eines „Digitalpakts außerbetriebliche Ausbildung“.
Es ist jedoch zu befürchten, dass weder die Einrichtungen der Jugendberufshilfe noch die Jugendsozialarbeit in Gänze in den kommenden Jahren mit Extramitteln rechnen können. Ein Blick auf den Corona-Schutzschirm macht das deutlich: Insgesamt stellen Bund und Länder 750 Milliarden Euro zur Verfügung, wobei einige Expert*innen bereits davon ausgehen, dass diese Summe, je nach Szenario, nur einen Monat ausreicht. Nicht eingerechnet ist hier das noch ausstehende Konjunkturprogramm.
Die systemstabilisierenden Effekte, die mit dem Rettungsschirm intendiert sind, sind sicherlich berechtigt, allerdings ist abzusehen, dass Bund und Ländern der finanzielle Gestaltungsspielraum in der post-Corona-Zeit fehlen wird. Vor allem Länder und Kommunen werden nach Einsparungen suchen (müssen). Der Einbruch der Gewerbesteuer und der Anstieg der Arbeitslosenzahlen trifft insbesondere die Kommunen und viele Kämmerer werden tief in die Bücher schauen müssen, um einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen zu können. Die Kürzungen werden vermutlich erneut da vollzogen, wo sie in der Vergangenheit auch vollzogen wurden: In der außerschulischen Bildung sowie der Kinder-, Jugend- und Familienarbeit.
Folgen der Corona-Krise für die Jugendsozialarbeit
Die Folgen der Corona-Krise werden nicht zuletzt für die Jugendsozialarbeit sein: Mehr Klienten, weniger Geld.
Die Utopie einiger Zukunftsforscher von einer entschleunigteren, empathischeren und höflicheren Welt, in der Telefon- und Videokonferenzen zu den eingeübten Kulturtechniken gehören, bleibt wohl aus Sicht der Jugendsozialarbeit eine Utopie. Vor dem Hintergrund dieser Bestandsaufnahme sind vielmehr Realismus gefragt und die Fähigkeit, anstehende Herausforderungen frühzeitig zu identifizieren.
Diese Krise wird, so ist zu befürchten, auch innerhalb der Trägerlandschaft zu einer Marktbereinigung führen. Wollen die Träger dieser Entwicklung etwas entgegensetzen, dann müssen sie zukünftig noch enger zusammenarbeiten und ihre technischen und personellen Ressourcen bündeln. Die digitale und analoge Netzwerkarbeit muss intensiviert werden, Kooperationen mit Kammern und Unternehmen müssen ausgebaut werden. Zudem muss die Jugendsozialarbeit ihre Lobbyarbeit in den folgenden Wochen intensivieren und ihren arbeits- und gesellschaftspolitischen Mehrwert auf den unterschiedlichen politischen Ebenen herausstreichen.
Gleichzeitig muss sich die Jugendsozialarbeit die Frage stellen, wie sie mit steigender Jugendarbeitslosigkeit, dem Rückgang von Ausbildungsplätzen, vermehrter Armut, der Kürzung von außerschulischen Bildungsangeboten sowie den Herausforderungen der Digitalisierung umgehen will und wie persistente Arbeit mit jungen Menschen in der Zeit nach der Krise aussehen kann.
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wie es zukünftig weitergeht, lautet daher: Es wird hart. (Und wenn die Prognose nicht stimmt, ist es umso besser.)
Quelle: BAG KJS – Dr. Michael Herkendell