Frauen in der Migration Referat zu ihrer Untersuchung von Prof. Ursula Boos-Nünning “ Arbeitskräftewanderung wird als Wanderung von Männern verstanden. Das mag damit zusammenhängen, dass das Bild vom „ausländischen Arbeitnehmer“ von der Tätigkeit im produzierenden Gewerbe bestimmt wurde und dieser Bereich als männlich galt. Arbeitsmigration nach Deutschland war aber von Beginn an zu einem beträchtlichen Teil auch weiblich: … Die frühen wanderungssoziologischen Untersuchungen wurden überwiegend bei männlichen Migranten durchgeführt und waren an deren Erfahrungen und Zielvorstellungen orientiert. Parallel entwickelte sich eine umfangreiche Literatur zur Lebenssituation von ausländischen Frauen und Mädchen in Deutschland. Diese richtete sich aber nicht auf die Arbeitssituation, sondern auf die nicht außerhäuslich erwerbstätigen Frauen mit dem Schwerpunkt auf Lebenssituation, Isolation, Identität und psychische Krisen. Erst in neuerer Zeit werden die Leistungen der damals migrierten Frauen als Arbeitnehmerinnen gewürdigt, ihre Leiden und ihre Ressourcen bilanziert. Bei den Flüchtlingen wird immer dann, wenn frauenspezifische Gründe für die Asylberechtigung diskutiert werden, auf die spezielle Lage der Frauen und Migrationshintergrund Mädchen verwiesen. Wenige Studien widmen sich der Lebenssituation und den Lebensentwürfen von Frauen zu einzelnen Flüchtlingsgruppen. Dank einiger fundierter Untersuchungen sind die Lebenslagen und die Einstellungen von Frauen mit Aussiedlerhintergrund relativ gut erforscht und beschrieben, teilweise auch im Vergleich mit Frauen anderer Zuwanderergruppen oder mit deutschen Frauen. “ „…. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich in neuester Zeit auf Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund. … …Die Studien fokussieren die Probleme und Konflikte, die sich für Mädchen ausländischer Herkunft stellen, oder gehen von Störungen oder Identitätsproblemen aus. Nur selten haben sich die Arbeiten an den Ressourcen der Mädchen und jungen Frauen orientiert, die sich aus dem Aufwachsen mit unterschiedlichen kulturellen Einflüssen und den familiären Erfahrungen mit Migration ergeben (können). Erst in neuerer Zeit nimmt sowohl die Kritik am defizitorientierten Vorgehen als auch die Berücksichtigung der Ressourcen in den Untersuchungen zu. Ein zweiter Mangel liegt in einer für die Beschreibung der Situation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund völlig unzureichenden empirischen Basis. …Daneben gibt es Untersuchungen, die ohne nach Herkunftsgruppen zu differenzieren Ergebnisse zur Forschung über „Migrantinnen“ präsentieren. Ein Beispiel hierfür ist die quantitative Untersuchung zur Nutzung von Hilfen zur Erziehung durch junge Migrantinnen von Finkel (1998). Die empirische Basis ist insbesondere wegen der weitgehenden Ausklammerung der Mädchen mit Migrationshintergrund aus der allgemeinen Jugendforschung aber auch aus der Mädchenforschung schmal.16 2 Zur Zielgruppe: Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund Hinter dem Begriff „Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund“ verbirgt sich nach dem Vorhergesagten eine große Pluralität persönlicher oder familiärer Wanderungsgeschichten. … Familien und damit auch Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund machen mittlerweile einen erheblichen Teil der deutschen Wohnbevölkerung aus. Spätestens seit dem 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 1998, S.11), der erstmalig eine breitere Öffentlichkeit darauf hinwies, dass „bei mehr als einem Viertel der Kinder entweder Vater oder Mutter oder beide Eltern in anderen kulturellen Zusammenhängen aufgewachsen sind als in traditionell deutschen“, ist deutlich geworden, dass der Anteil der Gruppe Jugendlicher aus Zuwanderungsfamilien weitaus höher ist als ihn die Zahlen der amtlichen Statistiken zu `ausländischen Kindern´ ausweisen. Neuere Untersuchungen, die das Kriterium der Zuwanderung mindestens eines Elternteils zugrunde legen, bestätigen empirisch noch höhere Anteile als diese frühen Schätzungen. Sie kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund ein Drittel der jugendlichen Population Deutschlands insgesamt ausmachen. …. Die Zugewanderten stellen allerdings keine homogene Gruppe dar, sie und ihre Kinder und Kindeskinder unterscheiden sich nach unterschiedlichen Merkmalen: nach der Staatsangehörigkeit oder nach der ethnischen Zugehörigkeit, nach dem Einreisegrund (Aussiedlung, Flucht, Arbeitsmigration oder Nachzug zu der Familie), nach dem Rechtsstatus in Deutschland (deutsche Staatsangehörigkeit oder unterschiedlicher Aufenthaltsstatus), nach dem Bildungsniveau, nach der sozialen Lage der Familien im Herkunftsland und anderem mehr. …Dieses soll am Beispiel der psychischen Gesundheit für Mädchen und junge Frauen dargestellt werden. 3 Ein Thema frauen- und mädchenspezifisch betrachtet … Psychische Krisen in der Migration wurden und werden eher als weiblich beschrieben, obwohl bis ca. 1980 auch die psychischen Probleme oder Störungen bei Migrantinnen kaum thematisiert wurden. Die ersten Studien, die eine Tendenz aufzeigten, auf Mehrfachbelastungen mit psychosomatischen Krankheiten zu reagieren (Ley 1979), wurden in der Schweiz durchgeführt. Seit den achtziger Jahren änderte sich das Bild. Frauen werden im Zusammenhang mit Ehe- und Familienkonflikten gesehen, sie werden stärker mit psychischen Belastungen und psychosomatischen Krankheiten in Verbindung gebracht. Erfahrungen aus der Praxis und empirische Untersuchungen scheinen in die gleiche Richtung zu deuten: Frauen berichten von ständigen Beschwerden und Krankheiten, von Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Nervosität, Depressionen und Angsterfahrungen. Es lässt sich eine beliebige (meist hohe) Zahl von Frauen mit psychosomatischen Krankheiten ausmachen. So sollen nach einer Untersuchung in Westberlin 1976 86,8 % der türkischen Frauen darunter leiden bei 78,7 % traten die Beschwerden erst in Deutschland auf (Häfner u.a. 1977). Untersuchungen zu Krankheitsempfinden20 ermitteln, dass sich nur wenige – und dann ausschließlich jüngere Frauen – als völlig gesund und beschwerdefrei bezeichnen. Es wird der Eindruck erweckt, als ob die überwiegende Mehrheit der ausländischen Frauen unter Migrationsbedingungen, so wie sie in der Bundesrepublik anzutreffen sind, mit psychosomatischen Störungen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen, d. h. mit nichtpsychotischen psychischen Erkrankungen reagiert. Da die Störungen nicht sichtbar werden, wird auf die Dunkelziffer verwiesen (so Land u.a.1982, S.57). Als noch belasteter werden die Mädchen mit ausländischem Hintergrund und hier insbesondere die türkisch-muslimischen Mädchen beschrieben. Schon in frühen Veröffentlichungen zur Situation von Mädchen türkischer Herkunft wurde die These von den hohen psychischen Belastungen dieser Gruppe vertreten. Es wurde die besondere Problematik benannt, die aus den widersprüchlichen Einflüssen und Anforderungen von der Familie auf der einen und der deutschen Gesellschaft auf der anderen Seite zu Identitätskrisen und zu psychosomatischen und psychiatrischen Auffälligkeiten führe. … Mädchen in Deutschland möchten selbständig über ihr Leben entscheiden und kommen deshalb in große Konflikte mit den Eltern, die nach alter Tradition den Ehepartner für sie bestimmen wollen. Die Folge dieses Dilemmas sind nach diesen Darstellungen in vielen Fällen psychische Erkrankungen, die ihre Ursache in Spannungen zwischen den Erziehungsvorstellungen der Eltern und den Normen der deutschen Gesellschaft haben. „In einer Phase relativer Freiheit, zwischen Kindheit und Erwachsensein, und der Möglichkeit des Ausprobierens verschiedener Lebensformen sind türkische Mädchen im höchsten Maße unfrei. Häufig müssen sie frühzeitig die Schule abbrechen, sie arbeiten in der Fabrik oder üben andere ungelernte Tätigkeiten aus. Hinzu kommt die Hausarbeit, die Mitbetreuung der Geschwister und die Vorbereitung auf die Ehe, die Anfertigung der Aussteuer und das Erlernen der verschiedenen Hausarbeiten. Auf Grund dieser physischen und psychischen Überbelastung der Mädchen kann es schon relativ früh zu einer Anhäufung von körperlichen Symptomen kommen, die durch seelische Konflikte bedingt entstehen“ (König 1989, S.377). Diese durch Massenmedien gestützten Deutungen wurden und werden in das Selbstverständnis der Beratungseinrichtungen der Instanzen übernommen nahezu alle Berichte aus Beratungsstellen folgen der Vorstellung von dem hohen Krankheitsrisiko und den interkulturellen Konflikten der Mädchen. Die Erziehungsberatungsstelle für türkische Mädchen in Köln schätzte schon 1982, dass die Zahl der verhaltensgestörten türkischen Kinder bei etwa 70 % liege (nach Zimmermann 1984, S.73). Besonders türkische Mädchen sind diesen Angaben zufolge hochgradig psychisch und psychosomatisch gefährdet. 3.2 Die Auseinandersetzung mit der These von der besonderen psychischen Belastung migrierter Frauen am Beispiel von Mädchen türkischer Herkunft Die These von den psychischen und psychiatrischen Störungen von Mädchen türkischer Herkunft wird durch empirische Untersuchungen scheinbar gestützt. … Die vielfältigen Belastungsfaktoren, die aus dem Migrationsprozeß und aus der Lebenssituation ausländischer Kinder resultieren, werden verantwortlich gemacht: das Aufwachsen in zwei Kulturen (oder zwischen zwei Kulturen) daraus entstehende Kulturkonflikte und Entwurzelungserscheinungen wie auch insbesondere Streßfaktoren, die durch den Zwang zur Teilnahme an den beiden unterschiedlichen Kulturen aufkommen oder Identitätsdiffusion aufgrund der Anforderungen aus unterschiedlichen Erziehungssystemen: dem traditionellen und autoritären der Eltern auf der einen und dem liberalen der deutschen Schulen auf der anderen Seite. Diese Identitätskonflikte manifestierten sich in der innerfamilialen Rollenverunsicherung, in einem zunehmenden Schulversagen, einer mangelnden Berufsausbildung und den daraus resultierenden geringen Zukunftschanchen der Kinder ausländischer Herkunft und kumulierten in immer schwereren psychischen Krisen und manifesten Störungen. Demnach folgen aus einem Identitätskonflikt mangelnde soziale Chancen und aus mangelnden sozialen Chancen schwere psychische Störungen. Die Widersprüchlichkeit weiblicher Lebenslagen, der die Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund in besonderer Weise ausgesetzt seien, beschreibt z.B. Jesse (2002, S.304f.) wie folgt: „Die mit der Pubertät einsetzende Sensibilisierung für den eigenen Körper führt bei Mädchen häufig zu Lebensunsicherheit und unklaren Perspektiven: Auf der einen Seite fühlen sie sich im Unterschied zu ihren männlichen Geschlechtsgenossen der traditionellen Frauenrolle verpflichtet, die überwiegend durch Hausarbeit und Kindererziehung definiert ist, auf der anderen Seite möchten aber auch sie Perspektiven für Ausbildung, Beruf und sozialen Aufstieg entwickeln. Aus dieser Spannung zwischen der traditionellen Frauenrolle und den beruflichen Orientierungen ergeben sich Rollenkonflikte, die ein enormes Ausmaß an Bewältigungsflexibilität erfordern. Viele junge Frauen fühlen sich durch diese Anforderungen überfordert und reagieren mit Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühlen, möglicherweise ein Grund, weshalb gerade in dieser Phase relativ häufig psychosomatische Beschwerden auftreten“. Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund wären demnach einem doppelten Risiko ausgesetzt, psychisch belastet zu sein – als Jugendliche mit Migrationshintergrund und als Frauen. So meint auch Schmidt-Koddenberg (1999, S.84): „Im Hinblick auf psychosomatische Reaktionen bei Migrantinnen lassen sich vor allem zwei gesellschaftliche Bündel an Stressoren anführen: zum einen die besondere Belastung der Migrationssituation 27 vgl. auch Siefen/Brähler 1996 und zu griechischen und Aussiedlerjugendlichen siehe Siefen/Peponis/Loof 1998, S.69 12 für die Frau und zum anderen die Erwartungen an die weibliche Geschlechtsrolle“. Beide Thesen müssen kritisch hinterfragt werden. Unsere Untersuchung „Viele Welten leben? ermittelt in der Bestätigung der Untersuchungen, die von einer grundsätzlich vorhandenen psychischen Stabilität von jungen Frauen mit Migrationshintergrund ausgehen, dass diese überwiegend mit ihrer Lebenslag zufrieden sind. Tendenziell unzufriedener sind die Mädchen und jungen Frauen aus Aussiedlerfamilien, tendenziell zufriedener die mit griechischem Hintergrund etwa ein Viertel über Konzentrations- und Schlafstörungen klagt, Mädchen mit türkischem Hintergrund (mit 32 %) etwas häufiger als die übrigen diese überwiegend ein positives Selbstbild aufweisen und sich damit als fröhlich und glücklich und nicht als einsam und traurig einordnen sie im Hinblick auf die Kontrollüberzeugungen mehrheitlich den internalen Aspekt von Kontrolle (Eigenverantwortung und eigene Leistung statt Schicksal) in den Mittelpunkt stellen. Resümierend kann für den Bereich der psychischen Stabilität festgehalten werden, dass die Vorstellung der psychisch belasteten und hilflosen Mädchen mit Migrationshintergrund, die „wenig Zukunftsperspektiven und kaum Möglichkeiten zur aktiven Lebensgestaltung“ haben und „vielfach ihrer Situation hilflos ausgeliefert“ seien (Dittmann/Krönig-Hammer 1986 König 1989) durch die Daten unserer Studie zum wiederholten Male widerlegt ist. Mädchen mit Migrationshintergrund werden in ihren Gestaltungsmöglichkeiten der – objektiv von ungünstigen Faktoren beeinflussten – Lebenswelt oft unterschätzt. 4 Konsequenzen für Wissenschaft und therapeutische Praxis 4.1 Die Bedeutung und die Wirkung der vermittelten Bilder Auch die Ergebnisse unserer Untersuchung werden – so ist zu befürchten – nicht dazu beitragen, das Bild von den zwischen den Kulturen zerrissenen Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund zu korrigieren. Die Öffentlichkeit und die Medien, aber auch beachtliche Teile der politischen Meinungsbildner und -bildnerinnen sind wenig bereit, ihr Bild von dieser Gruppe infrage stellen zu lassen. Sie wollen dabei bleiben, dass Zweisprachigkeit ein Risiko für den Sprachlernprozess, kulturelle Sozialisation schädlich für die Identitätsbildung, das Leben in den ethnischen Communities hinderlich für die Integration in die deutsche Gesellschaft ist. “ …. “ 4.2 Überlegungen zu einer Neuorientierung der (Zusammen)Arbeit mit Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund Es ist nicht einfach, aus einer globalen Kritik an vorhandenen Deutungen und Einordnung die pädagogischen Konzepte anzusprechen. Dennoch soll auf notwendige Veränderungen in dieser Handlungsebene hingewiesen und einige Grundsätze benannt werden. Interkulturalität ernst nehmen Wird die Literatur der letzten Jahre verfolgt, so scheint Interkulturalität (oftmals in Form interkultureller Kommunikation oder interkultureller Erziehung) zum positiven Markenzeichen für Projekte und Aktivitäten geworden zu sein. Gefordert werden die interkulturelle Öffnung sozialer Dienste (s. Barwig/Hinz-Rommel 1995), das Einbringen interkultureller Ansätze in die Sozial- oder Jugendarbeit (s. Gloël 1992) oder in die Arbeit mit Frauen. Ein solcher Umgang mit dem Begriff interkulturell ist nicht unproblematisch. Der Begriff interkulturell wird inflationär benutzt wird. Von der interkulturellen Woche, wie jetzt die Woche des ausländischen Mitbürgers heißt, bis hin zu einem Stadtteilfest mit Deutschen und Migranten, eine Fortbildung, an denen Deutsche und Migranten teilnehmen nahezu allen Aktivitäten, an denen Deutsche und Zugewanderte oder sogar nur letztere beteiligt sind, wird dieses Etikett verliehen. Die Öffnung einer kommunalen Einrichtung für Frauen und Männer mit Migrationshintergrund ist jedoch nicht per se eine interkulturelle Öffnung. Erst eine inhaltliche Klärung dessen, was die nunmehr interkulturell geöffneten Beratungsdienste erreichen wollen (Zieldiskussion) und eine Neuorientierung ihres methodischen Arsenals schafft Ansatzpunkte für das, was als „interkulturelle Öffnung” verstanden werden kann. Konzepte oder Programme verdienen die Bezeichnung „interkulturell“, wenn sie sich an die Einheimischen wie die Zugewanderten in gleicher Weise richten (also keine Problemgruppenprogramme), wenn sie die Ressourcen der Zugewanderten, nicht deren Defizite in den Mittelpunkt stellen und wenn sie nicht Anpassung der Zugewanderten an das Wert- und Normsystem der Aufnahmegesellschaft verlangen, sondern ein Aushandeln zulassen. Interkulturelle Öffnung fordert, gemeinsame Projekte von Zugewanderten und Deutschen und multikulturelle Einrichtungen zu unterstützen. Multikulturelle Einrichtungen beziehen die Lebenswirklichkeit der deutschen und der zugewanderten Kinder und Familien gleichgewichtig ein, nehmen aus kulturellen oder sozialen Herkünften resultierende Orientierungen ernst, stellen einen Raum zur Verfügung und schaffen ein Klima, in dem Aushandlungsprozesse möglich sind. Interkulturelle Öffnung fordert eine Veränderung im Personal. Angehörige von Minderheiten sind kaum an der Gestaltung der Angebote beteiligt, selten im Personal der Einrichtungen vertreten und selbst als Honorarkräfte oder Ehrenamtliche unterrepräsentiert. Es besteht die Notwendigkeit, die Zahl der Professionellen mit Migrationshintergrund in den Regeleinrichtungen deutlich zu erhöhen und in etwa dem Anteil der Migrationsbevölkerung in Stadt oder Kreis anzugleichen. Eine interkulturelle Öffnung würde mehr Familien, Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund einbinden. Mädchen- und Frauenspezifisches anbieten Koedukation ist heute in Deutschland in nahezu allen Lebensbereichen selbstverständlich. Männer und Frauen arbeiten und verbringen ihre Freizeit überwiegend zusammen. Sie treiben zusammen Sport, diskutieren gemeinsam in politischen Gruppen u.a.m. Fragen der Teilnahme und Teilhabe von Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund verweist auf eine alte Auseinandersetzung, in der sich Befürwortende und Gegner bzw. Gegnerinnen koedukativer Ansätze stritten. Die Befürworter und Befürworterinnen stehen für die Auffassung, dass frauenspezifische Projekte sich der realen Wirklichkeit verschließen. Solche Projekte fänden in einem abgeschlossenen Raum statt, wodurch eine Auseinandersetzung mit der Realität eher behindert als gefördert werde. Außerdem seien solche Projekte im Zeitalter der Emanzipation und Gleichberechtigung von Frauen keine Notwendigkeit mehr und würden deshalb ihre Berechtigung verlieren. Die andere Position hält dem entgegen, dass insbesondere frauenspezifische Projekte eine Förderung der Frauen dahingehend bewirken können, dass Frauen ihre Stärken wieder entdecken lernen und selbstbewusster auftreten, dass Lernprozesse sich in einem solchen Rahmen an weiblichen Mustern orientieren können. Darüber hinaus wird es als Vorteil bewertet, dass Frauen im Rahmen frauenspezifischer Projekte unbefangener auftreten können und dass sie nicht fürchten müssen, ihre Reaktionen würden pauschalisierend und abwertend behandelt. Für Projekte für Migranten und Migrantinnen und deren Töchter treten andere Argumente hinzu. Zum einen wird angeführt, dass diese Art von Modellen in einem frauengeschützten Raum, die einzige Möglichkeit für Frauen biete, an Maßnahmen teilzunehmen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass Frauen mit Migrationshintergrund nur dann Freiräume erhalten, wenn die Trennung von den Männern gesichert ist. An koedukativen Angebote dürfen einige aufgrund traditioneller Vorstellungen der Eltern nicht teilnehmen. Als weiteres ebenso wichtiges Argument wird der Versuch genannt, mit der Einrichtung von Frauengruppen an tradierte Gewohnheiten anzuknüpfen. Dann wird die besondere Bedeutung von Frauengruppen im Herkunftsland thematisiert, die der einzelnen Frau Solidarität und Rückhalt bietet. Aber auch diese Grundhaltung wird kritisiert. Hebenstreit (1986, S.256f.) führt dazu aus: „Waren die Frauengruppen im Herkunftsland eingebettet in ein soziales System, müssen sie in der Bundesrepublik erst wieder neu gegründet werden und erhalten damit zugleich auch neue Funktionen für die Einzelnen und für die Gruppe. Dabei sind es in der sozialpädagogischen 16 Arbeit vor allem deutsche (und ausländische) ‘Expertinnen’, die Frauengruppen einrichten und die in erster Linie über ihre Ziele und Aufgaben bestimmen können. Die Möglichkeiten für die Betroffenen, eigene Erwartungen in die Interaktionssituation einzubringen, sind so von vornherein begrenzt. Sie werden dabei vor das Problem gestellt, ihre Identität im Kontext von Frauengruppen darzustellen, die nicht mehr gewachsen, sondern dabei unter sozialpädagogischen Vorzeichen konstruiert sind, wobei die Ziele und Erwartungen, die hier an sie herangetragen werden, den ursprünglichen Funktionen der Frauengruppen tendenziell zuwider laufen, indem sie nicht aus der Gruppe selbst erwachsen, sondern von ‘Expertinnen’ formuliert werden. Die ausländischen Frauen können neue Erwartungen und vorangegangene Erfahrungen in ihre Identität jedoch nur dann integrieren, wenn sie selbst ihre Erwartungen und Bedürfnisse formulieren können und die Mitarbeiterinnen ebenfalls ihre Erwartungen offen legen. Offenheit der Situation und Herrschaftsfreiheit sind damit zwei zentrale Bedingungen, an denen sich eine soziale Arbeit messen lassen muss, die die Bildung von Identität fördern und unterstützen will. Dabei kommt es darauf an, Möglichkeiten zu geben, gemeinsame und unterschiedliche Erwartungen in die Interaktion einzubringen. Diese Akzeptanz allein genügt jedoch noch nicht angesichts eines faktisch ungleichen Machtverhältnisses von Klientinnen und Sozialarbeiterinnen/-pädagoginnen.” Bieten auf der einen Seite Frauengruppen, selbst wenn sie neu konstruiert werden müssen, Anknüpfungspunkte an Verhaltensweisen im Herkunftsland und an Formen der ethnischen Community, so stehen sie auf der anderen Seite nicht nur im Widerspruch zu der in der deutschen Gesellschaft eher üblichen Koedukation sondern müssen sich darüber hinaus noch mit dem Vorwurf auseinandersetzen, „falsche” Frauenräume zu konstruieren. Dennoch hatten und haben die frauenspezifischen Projekte in der Arbeit mit Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund einen hohen Stellenwert und dieses zu Recht, da die Frauen und Mädchen selbst sie zu einem Teil wünschen. Die ethnischen Vereine und Verbände nehmen an Mitgliedern, an Struktur und an Außendarstellung zu. In einer multikulturellen Gesellschaft wird diese Entwicklung nicht nur toleriert, sondern akzeptiert und die ethnischen Gruppierungen wie andere partikulare Gruppen ansprechende Organisationen unterstützt. Diese Vorstellung stößt im Moment auf Widerstände: Das „deutsche“ System wehrt sich gegen Ansprüche der ethnischen Communities auf Selbstbestimmung, ja sogar auf Mitwirkung. Nur wenige Kommunen und wenige Bundesländer fördern die ausländischen Selbstorganisationen außerhalb des kulturellen (oft folkloristischen) Bereichs. Findet überhaupt eine Förderung statt, dann erfolgt sie oft ohne langfristige Planungsmöglichkeit und ohne kontinuierliche materielle Absicherung. Die Etablierung ethnischer Organisationsstrukturen wird mit Skepsis betrachtet und als Gefährdung der eigenen Arbeit angesehen. 17 Das Sozialsystem in Deutschland wie auch das Jugendhilfesystem war und ist traditionell durch eine enge Verflechtung zwischen freien und öffentlichen Trägern geprägt. Die quasiverfassungsmäßigen Prinzipien der Pluralität – weltanschauliche Vielfältigkeit der freien Träger samt ihrer Arbeitskonzepte und Methoden – und der Subsidiarität (nach Einführung des KJHG durch die partnerschaftliche Zusammenarbeit ergänzt), bestimmten die Verflechtung und die Zusammenarbeit. Kaum thematisiert wird, dass die Vorstellung von Pluralität sich nicht auf die Migranten- und Migrantinnenorganisationen erstreckt. Das Land und die Kommunen treten bisher nicht oder nur ansatzweise in eine Diskussion um die Berücksichtigung der Interessen dieser Gruppen ein. Auch und vor allem die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege halten sich in dieser Frage eher bedeckt. Sie begreifen sich als Interessenvertretung für die Zugewanderten und verbleiben im paternalistischen Denken oder – wie Bauer (1998, S.19) formuliert – im karitativ-paternalistischem Muster. Zwei alternative Ansätze sollten diskutiert werden: die Aufnahme der Migrantenorganisationen in die Gruppe der anerkannten Träger der freien Wohlfahrtspflege und zwar auf allen Ebenen sowie deren Berücksichtigung bei der Verteilung der Ressourcen gemäß dem Anteil der Zugewanderten im Stadtteil, in der Stadt oder in der Region oder ein Ersetzen der Angebote der freien Träger in Stadtteilen oder Regionen mit einem hohen Anteil an Zugewanderten durch stadtteil- oder gemeinwesenorientierte Angebote, in die sich die freien Träger einbringen können. Beide Ansätze würden den Paternalismus in der Sozialhilfe und Sozialarbeit beenden oder verringern und diese Gruppen als gleichberechtigte Partner ernstnehmen. Die ethnischen Communities oder die Organisationen der Zuwanderer könnten auf allen Ebenen als gleichberechtigte Partner auftreten. In beiden Fällen sind zwei Veränderungen notwendig: Personen mit Migrationshintergrund müssen in den Verbänden und Einrichtungen vertreten sein und die Selbstorganisationen der Migranten und Migrantinnen müssen als gleichberechtigte Partner anerkannt werden. Alle Verbände und Träger müssten dann in allen Führungsebenen Personen mit Migrationshintergrund in die Leitungspositionen einbeziehen und darüber hinaus die Selbstorganisationen als Interessenvertretung der Zugewanderten auf allen Ebenen berücksichtigen. Dann wären die Menschen mit Migrationshintergrund einerseits als Personen und andererseits über ihre Vereine, Organisationen, Gemeinden und Moscheen in den Verbänden repräsentiert und in deren Machtstrukturen eingebunden. Sie könnten dann gleichberechtigt an den Ressourcen partizipieren und die Aufnahmegesellschaft und ihre Einrichtungen hätten die Chance, das paternalistische Modell zu verlassen. 18 Unter solchen Bedingungen werden auch die Frauen innerhalb ihrer ethnischen Community und die eigene Ethnie übergreifend zuwanderungsspezifische Gruppierungen und Verbände ausbilden oder sie werden sich als Personen und Gruppierungen in das vorhandene Gefüge als Gleichberechtigte Partnerinnen einbringen. 4.3 Ein kurzer Blick in die Zukunft Deutschland wird in naher Zukunft immer stärker multikulturell werden. Auch ohne neue Zuwanderung werden die Zahlen der Kinder mit Migrationshintergrund wegen der unterschiedlichen Geburtenziffern in Kürze auf ca. 40 Prozent, in 40 Jahren auf ca. die Hälfte steigen. Dieses hängt damit zusammen, dass junge Frauen mit Migrationshintergrund selbstverständlich von einer Zukunft mit Kindern ausgehen und dieses i.d.R. auch realisieren, während nur noch ca. 65 Prozent der jungen Frauen ohne Migrationshintergrund Kinder großziehen werden. Immer mehr der Zugewanderten werden die deutsche Staatsbürgerschaft und politische Rechte besitzen. In den Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund hat Deutschland ein ungeheures Potenzial, aber nur dann, wenn die alten Bilder psychisch instabiler, wenn nicht gestörter Frauen, die durch die Wanderung oder das Aufwachsen im Migrationskontext belastet sind, verlassen werden und endlich die Ressourcen gesehen und gemeinsam mit den Frauen und Mädchen durch Bildung und Sozialarbeit aufgegriffen und gestärkt werden. “ Dr. Ursula Boos-Nünning ist Professorin für das Fach Migrationspädagogik an der Universität Duisburg/Essen, spezialisiertauf die Bildungs- und Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland, speziell zu Mädchen und jungen Frauen promoviert 1971 in Religionssoziologie an der Johannes-Kepler-Universität in Linz/Österreich, habilitiert 1981 an der Universität Düsseldorf, ab 1972 und seither zahlreiche Veröffentlichungen in der Migrationsforschung und in der interkulturellen Pädagogik, neuesteVeröffentlichung (zusammen mit Yasemin Karakasoglu) „Viele Weltenleben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund“. (Münster: Waxmann Verlag 2005)
Quelle: http://www.skf-zentrale.de/html/aktuelles_im_skf__.html