‚TAL DER WÖLFE‘ – KULTURKAMPF IN EINEM BERLNER KINO Wirbel um einen türkischen Film spiegelt Mühen der deutschen Integrationspolitik wieder. Auch in Berlin sorgt der türkische Film «Tal der Wölfe» für Furore. In einem Kino in Wedding applaudieren die Zuschauer den antiamerikanischen und antisemitischen Szenen. Der Film illustriert zugleich die Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen Integrationspolitik. Eric Gujer beschreibt den spürbaren ‚türkischen Nationalismus in der NZZ wie folgt: “ Der Dolch, mit dem der amerikanische Bösewicht nach zweistündiger Gewaltorgie zur Strecke gebracht wird, gehörte einst Saladin. Der arabische Militärführer kurdischer Abstammung nahm im Jahr 1187 Jerusalem ein und vertrieb die Kreuzfahrer aus dem Heiligen Land. … Nur die Türken sind in der Lage, den Irak von den amerikanischen Nachfahren der Kreuzfahrer zu befreien und den Muslimen ihren Stolz zurückzugeben. Glücklich seien die Menschen im Zweistromland nur unter osmanischer Herrschaft gewesen, heisst es gleich zu Beginn des Films, der in Berlin mit deutschen Untertiteln gezeigt wird. … Obwohl das Kinostück in antiamerikanischen, antichristlichen und antisemitischen Klischees schwelgt, empfinden die fast ausschliesslich türkischen Zuschauer im Kino «Alhambra» die nationalistische Aussage als den Kern der Handlung. … Die Eingangssequenz des Films bezieht sich auf historisch verbürgte Ereignisse im Jahr 2003, als amerikanische Truppen einen türkischen Vorposten im Nordirak umzingelten und die Soldaten vorübergehend gefangen nahmen. «Über diese Szene haben wir alle diskutiert, noch bevor wir sie gesehen haben», ergänzt die Türkin, die in Berlin geboren wurde und einen deutschen Pass besitzt. Der Film zeige, mit welcher Menschenverachtung die Amerikaner Iraker und Türken behandelten. Dennoch wehrt sich die junge Frau vehement gegen den Vorwurf des Antiamerikanismus … Sie stört sich auch nicht daran, dass Christen ausschliesslich als sadistische Schlächter gezeigt werden, während der Vertreter des Islam – ein sufistischer Scheich – Toleranz predigt und einen westlichen Journalisten vor der Ermordung durch Terroristen bewahrt. … «Wir wollen Helden sein» «Das ist doch nur ein Film», bekräftigt Murat Özdemir, der ebenfalls in Berlin aufgewachsen ist. Er lacht und sagt: «Es ist ein modernes Märchen, in dem die Türken die Helden sind. … Spekulationen um Verbot Das Ehepaar Özdemir wie auch die beiden jungen Türkinnen versichern, sie hätten gehört, dass der Film in den nächsten Tagen abgesetzt werde. Dies ist zwar eine Falschinformation, doch illustriert sie, wie Mehrheitsgesellschaft und Minderheit aneinander vorbeireden. … Doch selbst wenn ein Verbot käme, was wäre damit gewonnen? Es ist bekannt, dass gerade Angehörige der zweiten und dritten Einwanderergeneration zu einem türkischen Nationalismus neigen. Ihr Alltag im Wedding, dem Berliner Stadtteil mit der höchsten Ausländerdichte, bietet ihnen wenig Erfolgserlebnisse. Die Arbeitslosigkeit unter Ausländern liegt im Bezirk offiziell bei 30 Prozent, Fachleute gehen jedoch von 40 bis 50 Prozent aus. Jeder dritte Jugendliche mit ausländischen Wurzeln verlässt die Schule ohne Abschluss, zwei Drittel der nichtdeutschen Jugendlichen absolvieren keine Berufsausbildung. Ein Viertel der Ausländer bezieht Sozialhilfe. … Derzeit häufen sich Forderungen, Ausländer sollten vor ihrer Einbürgerung einen «Demokratie-Kurs» absolvieren, einen Test ablegen oder einen Fragebogen ausfüllen. Doch selbst wenn daraufhin einzelnen Kandidaten der deutsche Pass verweigert würde, verliessen diese nicht die Bundesrepublik. Die hier lebenden Türken verfügen zumeist über einen sicheren Aufenthaltsstatus. … Die Kinobesucher, die sich zum Film äussern und auch dessen offenen Antisemitismus goutieren, leben seit ihrer Jugend in der Bundesrepublik und haben deutsche Schulen besucht. Welche zusätzlichen Einsichten könnte ihnen ein Demokratie-Kurs vermitteln? … Jenseits der Verbots-Rhetorik geschieht wenig, um einen Dialog über die wechselseitigen Feindbilder in Gang zu bringen. Im Bezirk Mitte, zu dem der Wedding gehört, haben laut dem Ausländerbeauftragten Mustafa Turgut Cakmakoglu weder die Kommunalverwaltung noch die Parteien beispielsweise den Film zum Anlass genommen, eine deutsch-türkische Diskussionsveranstaltung zu organisieren. …“ Von Eric Gujer
Quelle: http://www.nzz.ch/2006/02/25/al/articleDM638.html