Das Konzept der Ausbildungsreife – ein ungeklärtes Konstrukt im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen

DAS KONZEPT DER AUSBILDUNGSREIFE Ein Wissenschaftliches Diskussionspapier präsentiert die Ergebnisse einer Untersuchung des BiBB, durchgeführt von Verena Eberhard. Auszüge aus der Untersuchung: “ Einleitung … Den Schlagzeilen nach zu urteilen, teilen zahlreiche Medien die Meinung der Arbeitgeber und deren Vertreter, die seit geraumer Zeit über die gesunkene Ausbildungsreife der Lehrstellenbewerber klagen und händeringend Interventionen – vor allem im schulischen Bereich – fordern. … Die mangelnde Ausbildungsreife der Lehrstellenbewerber, so die Wirtschaft, verleite viele Betriebe dazu, weniger Lehrstellen anzubieten. Die mangelhaften Qualifikationen der Lehrstellenbewerber hätten dazu geführt, dass in der Vergangenheit viele Lehrstellen unbesetzt blieben. … Die Gewerkschaften sehen in diesen Negativmeldungen lediglich einen Versuch der Wirtschaft, von ihrer geringen und weiter sinkenden Ausbildungsbereitschaft abzulenken. … Im Rahmen der Ausbildungsreife-Debatte bleiben jedoch zwei Aspekte ungeklärt. Zum einen fehlen gesicherte Erkenntnisse darüber, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten einem Jugendlichen den Einstieg in eine Lehre und deren erfolgreichen Abschluss ermöglichen. Es ist wenig bekannt über das Konzept der Ausbildungsreife, ihren Faktoren und praktischen Implikationen. Zum anderen ist fraglich, ob Ausbildungsreife nicht in erster Linie ein politisches Konstrukt ist, das zum Spielball interessengeleiteter Erklärungen für die Lehrstellenproblematik geworden ist. … Das erste Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, eine Realdefinition von Ausbildungsreife zu erarbeiten und das Konzept der Ausbildungsreife näher zu beleuchten. … Das zweite Ziel der Arbeit besteht darin, zu klären, welchen politischen Stellenwert das Thema Ausbildungsreife besitzt und ob das Thema Ausbildungsreife von Gewerkschaften und der Wirtschaft interessenpolitisch genutzt wird. Vermutet wird, dass Vertreter der Gewerkschaften und Vertreter der Wirtschaft das Konstrukt der Ausbildungsreife systematisch in Abhängigkeit ihrer organisationalen Herkunft bewerten. … Unternehmen in Deutschland, die ausbildungsberechtigt sind, schöpfen ihre Ausbildungskapazitäten bei weitem nicht aus derzeit bieten nur noch 25 % aller ausbildungsberechtigten Betriebe Lehrstellen an. … Streitpunkt Ausbildungsreife Mit den Problemen auf dem Lehrstellenmarkt geht eine nicht enden wollende Debatte zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern einher. Diese Diskussion … ist dadurch geprägt, dass beide Seiten – Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite – völlig unterschiedliche Erklärungen für die Lehrstellenmisere haben, sich aber trotz heftiger Diskussion hinsichtlich ihrer Standpunkte nicht anzunähern vermögen. … Dass die Wirtschaft sinkende Kompetenzen bei den Jugendlichen wahrnimmt, liegt nach Ansicht der Arbeitnehmervertreter auch an gestiegenen betrieblichen Anforderungen an Auszubildende … Denn durch eine erhöhte Lehrstellennachfrage und dem damit einhergehenden Überangebot von Lehrstellenbewerbern können Betriebe ihre Ansprüche erhöhen, ohne einen Bewerbermangel befürchten zu müssen … Auch Vertreter der Bundesagentur für Arbeit haben diesen Effekt wahrgenommen. … passen Unternehmen ihre betrieblichen Auswahlkriterien stets an die aktuelle Angebots- Nachfragesituation an. Die Gewerkschaften bezeichnen das Verhalten der Wirtschaft als verantwortungslos und werfen ihr vor, die sinkende Ausbildungsverantwortung der Betriebe auf die Jugendlichen abzuschieben. … Die Wirtschaft weist jedoch alle Schuld von sich. … Neben der schwachen Konjunktur sei die mangelnde Ausbildungsreife der Jugendlichen der entscheidende Grund dafür, dass viele Ausbildungsplätze gar nicht mehr angeboten würden … Zugleich dementiert die Wirtschaft, ihre Anforderungen an Lehrstellenbewerber erhöht zu haben oder gar überzogene Ansprüche an künftige Auszubildende zu stellen… KIEPE betont (1998), dass sich die Einstellungsvoraussetzungen eines Unternehmens sowohl aus den betrieblichen Anforderungen als auch aus der Ausbildungsordnung ableiteten und nicht parallel zu der Bewerberzahl stiegen. Daher halten die Arbeitgeber und deren Vertreter an der These der gesunkenen Ausbildungsreife fest und sehen den Vorwurf der Arbeitnehmerseite, sie wolle mit den Klagen vom eigenen Versagen ablenken, als ungerechtfertigt an. … Obwohl die Debatte vor allem die Jugendlichen selbst betrifft, werden sie nicht zu Akteuren der Diskussion. … Die ohnehin schon schwierige Diskussion zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite wird durch das Fehlen einer allgemein gültigen und allgemein anerkannten Definition von Ausbildungsreife zusätzlich erschwert … Selbst die umfassende Eignungsdiagnostik der Bundesagentur für Arbeit und die Vielzahl von Einstellungstests der Betriebe konnten bisher nicht die große Unsicherheit, wie Ausbildungsreife zu definieren und zu prüfen ist, beheben. … Forderungen zur Verbesserung der Ausbildungsreife Mit den Klagen über die ungenügende Ausbildungsreife der heutigen Lehrstellenbewerber sind Vorschläge zu ihrer Verbesserung eng verknüpft. Die Appelle richten sich hauptsächlich an die allgemein bildenden Schulen. Aber auch den Eltern, der Wirtschaft und den Jugendlichen selbst werden Forderungen entgegengebracht. … Die Arbeitgeber sehen die Schulen nicht mehr in der Lage, die Schüler mit den grundlegenden Kompetenzen auszustatten, die ihrer Meinung nach für das erfolgreiche Absolvieren einer Berufsausbildung aber auch für einen erfüllten Lebens- und Berufsweg notwendig sind … Allen voran forderten sie von den Schulen, die Vermittlung der elementaren Kulturtechniken zu verbessern, da Kenntnisse in Rechnen, Lesen und Schreiben als elementare Merkmale von Ausbildungsreife verstanden werden. … – Verbesserung von fachlichen Kompetenzen … – Verbesserung von überfachlichen Kompetenzen … – Verbesserung bei der Berufsorientierung … Forderungen an die Jugendlichen Die Diskussion um die gesunkene Ausbildungsreife der Lehrstellenbewerber betrifft vor allem die Jugendlichen. Es wird ein Bild gezeichnet, das den heutigen Bewerber als unmotiviert, unkultiviert und zwischenmenschlich inkompetent darstellt. Dennoch richten sich kaum Forderungen zur Verbesserung der Ausbildungsreife an die Jugendlichen selbst. Lediglich die BDA. … fordert von den Jugendlichen, aktiv an der Verbesserung ihrer Ausbildungsreife mitzuwirken. Um positive Veränderungen zu bewirken, müsse sich der junge Mensch erst einmal bewusst machen, dass er Verantwortung für sein Leben trage. 5 Methode … 5.1.1.1 Entwicklung einer Realdefinition von Ausbildungsreife Da bisher keine einheitliche Definition von Ausbildungsreife vorliegt, soll eine Realdefinition von Ausbildungsreife erarbeitet werden. Eine Realdefinition gibt die Merkmale des zu definierenden Gegenstandes wieder, die den Gegenstand auszeichnen. Übertragen auf die Definition von Ausbildungsreife bedeutet dies, dass die Personmerkmale zusammengestellt werden müssen, die einen ausbildungsreifen von einem nicht ausbildungsreifen Jugendlichen unterscheiden. Sind diese Merkmale erst einmal bekannt, können sie operationalsiert werden, so dass Messungen und letztendlich Entscheidungen hinsichtlich der Ausbildungsreife von Jugendlichen möglich werden. Die kennzeichnenden Merkmale sollen erfasst werden, indem Berufsbildungsexperten eine Liste mit Personmerkmalen, die im Zusammenhang mit Ausbildungsreife stehen …, bewerten sollen. Die Merkmale, die von den Experten mehrheitlich als Kennzeichen von Ausbildungsreife verstanden werden, sollen in die Realdefinition von Ausbildungsreife eingehen. … 6.2 Ausbildungsreife aus Sicht der Experten … Alle Ergebnisse beruhen auf den Angaben von den 350, als politisch neutral zu betrachtenden Berufsbildungsexperten. … alle Merkmale, die von mindestens 90 % der Befragten als zwingend erforderlich für alle Ausbildungsberufe wahrgenommen werden, gingen in die Realdefinition von Ausbildungsreife ein. An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei um eine willkürlich gesetzte Grenze handelt. 6.2.1 Merkmale von Ausbildungsreife aus Sicht von Berufsbildungsexperten In die Realdefinition von Ausbildungsreife werden neun der insgesamt 38 abgefragten Merkmale aufgenommen. … Damit kennzeichnen Zuverlässigkeit (97%), die Bereitschaft, zu lernen (97 %), Höflichkeit (97 %), die Bereitschaft Leistung, zu zeigen (95 %), Verantwortungsbewusstsein (94%), Konzentrationsfähigkeit (91%), die Beherrschung der Grundrechenarten (91 %), Durchhaltevermögen (91 %) und einfaches Kopfrechnen (90 %) das Konzept Ausbildungsreife. … Aus der Bewertung der Experten geht hervor, dass motivationale, personale und soziale Merkmale eine wichtigere Rolle für den Lehrbeginn spielen als konkrete Fertigkeiten. Bis auf bestimmte mathematische Fertigkeiten … scheinen schulische Kompetenzen wenig Bedeutung in Hinblick auf die Aufnahme einer Berufsausbildung zu haben. Vor allem der Umgang mit der deutschen Sprache … wird eher als Eignungsvoraussetzung denn als Merkmal von Ausbildungsreife wahrgenommen. … 6.3 Das Konzept der Ausbildungsreife aus Sicht der Jugendlichen … Bei der Gruppe der Auszubildenden zeigt sich wie schon bei den Berufsbildungsexperten, dass Zuverlässigkeit (99 %), die Bereitschaft, zu lernen (94 %) und die Bereitschaft, Leistung zu zeigen (92 %) als Kennzeichen von Ausbildungsreife angesehen werden. Auf Grund der 90 %-Grenze gehen diese Merkmale in die Realdefinition von Ausbildungsreife aus Sicht der Jugendlichen ein. Demnach unterscheidet sich die Definition der Jugendlichen von der der Berufsbildungsexperten lediglich in der Anzahl der kennzeichnenden Merkmale von Ausbildungsreife. … Die oberen Rangplätze – wie auch schon bei der Rangreihe der Berufsbildungsexperten – werden von Merkmalen eingenommen, die unter dem Begriff motivationale, personale und soziale Kompetenzen subsumiert werden können. … Wie schon bei den Berufsbildungsexperten bildet auch hier die Beherrschung der Grundrechenarten eine Ausnahme. Für 81 % aller befragten Auszubildenden ist diese konkrete Fertigkeit eine zwingende Voraussetzung für den Beginn einer Lehre in allen Ausbildungsberufen. Das Pendant zur Rechen kompetenz – die Beherrschung der deutschen Rechtschreibung – wird dagegen von weniger als zwei Drittel (63 %) aller befragten Auszubildenden als Kennzeichen von Ausbildungsreife angesehen. Demnach wird nicht einmal die Beherrschung der Kulturtechniken (Schreiben und Rechnen) von den meisten Jugendlichen als elementare Voraussetzung für den Einstieg in das Berufsleben betrachtet. Für die Mehrzahl der Auszubildenden ist es wichtiger, sich mündlich ausdrücken zu können (68 %) als eine schriftliche Ausdrucksfähigkeit zu besitzen (44 %) und als das Gesagte in einer korrekten Rechtschreibung zu Papier bringen zu können (63 %). … ist die Mehrzahl der befragten Auszubildenden nicht der Meinung, dass von Schulnoten auf die Ausbildungsreife eines Jugendlichen geschlossen werden kann. Vielmehr gehen sie davon aus, dass auch Personen mit schlechten Zensuren ausbildungsreif sein können (85 %). Auch sieht die Mehrzahl der Befragten in dem Schulabschluss keinen Indikator für Ausbildungsreife. Für 65 % sind die Höhe des Bildungsgrades und Ausbildungsreife zwei verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Uneinheitlich ist das Meinungsbild hinsichtlich einer Beziehung zwischen Ausbildungsabbrüchen und Ausbildungsreife. Für die eine Hälfte sind vorzeitige Vertragsauflösungen das Ergebnis einer unzureichenden Ausbildungsreife die andere Hälfte lehnt solch eine Erklärung für Ausbildungsabbrüche ab. … Die Schwierigkeiten auf dem Lehrstellenmarkt begründen die wenigsten Auszubildenden (36 %) mit der mangelnden Ausbildungsreife der Lehrstellenbewerber, zumal nach Meinung der meisten Befragten (83 %) selbst vorhandene Ausbildungsreife heutzutage keine Garantie mehr für einen Ausbildungsplatz sei. Stattdessen sieht die Mehrzahl der Jugendlichen einen Zusammenhang zwischen den Gegebenheiten auf dem Lehrstellenmarkt und den Anforderungen der Unternehmen an Lehrstellenbewerber. Für 78 % aller befragten Auszubildenden sind die Ansprüche der Unternehmen nur deshalb so hoch, weil es mehr Lehrstellenbewerber als freie Lehrstellen gibt. Daher sehen auch über zwei Drittel der Befragten (68 %) in der Kritik der Wirtschaft an der mangelnden Ausbildungsreife der Jugendlichen lediglich einen Versuch, von der schwierigen Lehrstellensituation abzulenken. … 7 Diskussion … 7.7 Ergebnisse der Hypothesentests … Für die Argumente, die der Diskussion zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite entnommen wurden, wurde erwartet, dass hinsichtlich der Bewertung Gewerkschafts- und Wirtschaftsvertreter die beiden Antipoden bilden und die Berufsbildungsexperten eine eher gemäßigte Mittelposition einnähmen. Diese Erwartung konnte für alle bewerteten Aussagen bestätig werden. Allen Argumenten, die der Gewerkschaftsseite entstammen, stimmen die Wirtschaftsvertreter weniger zu als die übrigen Experten und diese wiederum weniger als die Gewerkschaftsvertreter. Andersherum verhält es sich bei der Aussage, die von der Wirtschaft vorgetragen wird. Dieser stimmen Gewerkschaftsvertreter weniger zu als die Berufsbildungsexperten und diese wiederum weniger als die Wirtschaftsvertreter. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass sowohl Gewerkschafts- als auch Wirtschaftsvertreter Ansichten haben, die stark von denjenigen Personen abweichen, die zwar im Berufsbildungssystem tätig sind, aber weder einer Arbeitgeber- noch einer Gewerkschaftsorganisation angehören. … Es konnte gezeigt werden, dass Gewerkschafts- und Wirtschaftsvertreter Fragen, die das Konzept der Ausbildungsreife betreffen, systematisch in Abhängigkeit ihrer institutionellen Zugehörigkeit bewerten. Selbst bei den Items, bei denen keine signifikanten Unterschiede im Bewertungsverhalten der beiden Gruppen auszumachen waren, kann das Antwortverhalten post-hoc durch selbstwertdienliche und interessengeleitete Motive und somit wiederum mit der institutionellen Herkunft der Antwortenden erklärt werden. Größere Effekte … treten auf, wenn Argumente aus der aktuellen Ausbildungsreife-Diskussion bewertet werden. … Obwohl es sich weder bei den Wirtschafts- noch bei den Gewerkschaftsvertretern um repräsentative Stichproben handelt, folgen beide Gruppen der Argumentation ihrer Organisationen. Wirtschaftsvertreter beantworten Fragen zu den Kennzeichen von Ausbildungsreife, Veränderungen bei den Personmerkmalen der Jugendlichen, Entwicklungen im Bereich von Jugendlichen und der Arbeitwelt, Forderungen zur Verbesserung der Ausbildungsreife, Argumenten aus der Ausbildungsreife-Diskussion und schließlich zu praktischen Implikationen von Ausbildungsreife so, dass sie die eigene Mitverantwortung für die Lehrstellenmisere von sich weisen und auf die Jugendlichen übertragen. Das Antwortverhalten der Arbeitgebervertreter passt sich somit der Einschätzung der Wirtschaft an, die ihr rückläufiges Lehrstellenangebot mit der mangelnden Ausbildungsreife der Jugendlichen erklärt und die hohe Anzahl der Jugendlichen ohne Lehrstelle auf deren mangelnde Ausbildungsreife zurückführt.… “ Im Anhang steht Ihnen die Untersuchung im Volltext als Download zur Verfügung.

Quelle: http://www.bibb.de

Dokumente: wd_83_Konzept_Ausbildungsreife.pdf

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