Fallbearbeitung im SGB II

FALLBEARBEITUNG IM SGB II Dieser Beitrag riskiert einen Blick auf konkrete Interaktionen zwischen Fachkräften und Adressatinnen: In einer Pilotstudie wurde die Bearbeitung von 20 Fällen bei drei Grundsicherungsträgern über sechs Monate hinweg direkt und möglichst vollständig beobachtet. … Von Januar bis Juni 2006 führte das Soziologische Forschungsinstitut (SOFI) an der Georg-August-Universität in Göttingen im Auftrag des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in der Bundesagentur für Arbeit eine Konzeptstudie durch, in der bei drei Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende Fallbearbeitung in einer begrenzten Zahl von Fällen über einen Zeitraum von sechs Monaten möglichst vollständig zu beobachten war. … Ohne die freiwillige Bereitschaft der drei einbezogenen SGB-II-Träger, aber vor allem vieler Fachkräfte und Adressatinnen, sich �in die Karten’ und über die Schulter schauen zu lassen, und ohne ihre nachsichtige Duldung der Tatsache, durch eines von drei örtlichen Forscherteams �auf Schritt und Tritt’ begleitet zu werden, wäre eine Fallbeobachtung in der gewünschten Intensität und Reichweite nicht möglich gewesen. … Auszüge aus der Zusammenfassung des Forschungsberichtes “ 3. Probleme der Fallbearbeitung 3.1 Persönlicher Auftrag unter Bedingungen von Asymmetrie Bei jeder personenbezogenen Dienstleistung müssen Fachkräfte und Adressaten zusammenwirken: Sie müssen Gegenstand und Ziel der Leistungen aushandeln und ihre Handlungen abstimmen. Ob im Rahmen der Fallbearbeitung überhaupt Beratung, Betreuung oder Vermittlung zustande kommt oder ob es beim einseitigen Verwaltungshandeln bleibt, hängt von einem personalisierten Auftrag ab, den nur die Adressaten erteilen können. In der Grundsicherung muss dieser persönliche Auftrag – anders als bei freiwilligen Dienstleistungsangeboten oder bei Adressaten mit Wunsch- und Wahlrechten – in einem vom Gesetzgeber vorgegebenen asymmetrischen Setting ausgehandelt werden. … 4.2 Gesprächstermine: Zeit für Dienstleistung … In zwei Dritteln der Fälle fanden im Beobachtungszeitraum (9. Januar bis 19. Juni 2006) drei bis vier Vorsprachen statt. Das Spektrum reichte vom Fall eines jungen Mannes, bei dem aus Krankheitsgründen keine Vorsprache stattfand, bis zum Fall eines Migranten mit sechs Vorsprachen in drei Monaten. Einmal lag zwischen dem Erst- und dem Folgegespräch nur ein Tag, in einem anderen Fall waren es 71 Tage. Das kürzeste beobachtete Gespräch dauerte sechs, das längste 74 Minuten. Die Unterschiede in den beobachteten Zeitmustern erklären sich weniger aus den Betreuungsrelationen (Fallzahlen je Fachkraft) als vielmehr aus anderen organisatorischen Gegebenheiten. So kam es in X und Z im Durchschnitt pro Fall etwa alle sechs Wochen zu einer Vorsprache, die einzelnen Gespräche dauerten durchschnittlich 42 bzw. 43 Minuten. Der Träger X war bemüht, Gespräche in regelmäßigen Abständen (durchschnittlich alle sechs Wochen) sicherzustellen, wobei Erstgespräche mit Eingliederungsvereinbarung etwa eine Stunde in Anspruch nahmen, Folgegespräche im Durchschnitt nur 36 Minuten. In Z dagegen dauerten die Folgegespräche eher länger als die Erstgespräche, da eine Eingliederungsvereinbarung frühestens im Zweitgespräch abgeschlossen wird. In Y dagegen kam es pro Fall nur etwa alle zehn Wochen zu einem persönlichen Gespräch, das mit durchschnittlich 17 Minuten nur knapp halb so lang dauerte wie an den anderen Standorten. Hier waren in der ARGE vor allem routinemäßig Bewerbungen nachzuweisen, während ein größerer Teil der individualisierten Fallarbeit in Maßnahmen stattfand. In immerhin sechs von 20 Fällen kam wenigstens ein Termin auf Initiative der Adressaten zustande. Viele Fachkräfte legen Wert darauf, solche spontanen Vorsprachen zu ermöglichen – im Gegensatz zu den Leistungssachbearbeitern, die „ausschließlich auf Termin“ arbeiten und daher für die kurzfristige Klärung von Leistungsfragen kaum erreichbar sind. Die beobachtete Kontaktdichte, die wenigstens für die Fachkräfte in X und Z die Grenze des Realisierbaren markieren dürfte, ist ein Argument dafür, die Ziele und Erwartungen an Vermittlung oder Fallmanagement realistisch zu beschränken. Was sich im Leben der Adressaten an Unvorhergesehenem und Ungeplantem ereignet, muss in einen begrenzt flexiblen Zeitrahmen eingepasst und im Durchschnitt in einer Vorsprache alle sechs bis zehn Wochen besprochen und bearbeitet werden. Zweifellos steht den „persönlichen Ansprechpartnern“ damit mehr Zeit zur Verfügung als den Fachkräften in den Arbeitsagenturen, aber für eine umfassende Betreuung in prekären Lebenslagen reicht dies nicht. 4.3 Individualisierte Dienstleistung bei hohen Fallzahlen? Bei einer Leistung, die für mehr als 5 Mio. erwerbsfähige Alg-II-Berechtigte in 3,8 Mio. Bedarfsgemeinschaften erbracht wird, sind Standardisierungen unvermeidlich. Probleme können sich jedoch aus dem gleichzeitigen Anspruch des SGB II ergeben, die Erwerbsintegration der �Kundinnen’ und �Kunden’ durch individualisierte und passgenaue Dienstleitungen zu optimieren. Eine Möglichkeit der Fachkräfte, mit dem Widerspruch zwischen hohen Fallzahlen und individuellen Bearbeitungsauftrag umzugehen, besteht darin, sich auf einen Teil des Fallbestands zu konzentrieren. Weil dies unabhängig von den formalisierten Verfahren der „Kundensegmentierung“ in den Organisationseinheiten geschieht, wurden solche Routinen in der Beobachtung als „Nachsegmentieren“ bezeichnet. Waren die Fachkräfte in X bemüht, dies zu vermeiden und mit allen Adressaten gleich intensiv zu arbeiten, galt es in Z als akzeptabel und unvermeidlich, Fälle „auch mal liegen zu lassen“. Der Anteil solcher „Drei-Monats-Kunden“ wurde auf etwa ein Drittel der Fälle geschätzt. Bei der ARGE Y wurde die gesamte Fallbearbeitung als eine Verkettung von Routinen interpretiert, was eine Reaktion auf den verschlossenen ostdeutschen Arbeitsmarkt sein könnte. Die beobachteten jungen Erwachsenen mussten monatlich vorsprechen, um Bewerbungen nachzuweisen, und wurden alle drei Monate über Gruppenveranstaltungen in eine Maßnahme zugewiesen. In neun der 20 Fälle wurde der Abschluss wenigstens einer neuen Eingliederungsvereinbarung beobachtet. … 4.4 Aktivierung – eine wacklige Hierarchie … Besonders deutlich zeigt sich dieses Problem beim Abschluss der Eingliederungsvereinbarung. Bei dieser Rechtskonstruktion des SGB II handelt es sich um einen asymmetrischen, „hinkenden“ Vertrag: die Adressaten müssen abschließen, und nur sie tragen bei Nichterfüllung ein Sanktionsrisiko. Mit ihrer Funktion, als Grundlage für spätere Sanktionen zu dienen, macht dieses Verfahrenselement die Gesprächshierarchie unumkehrbar. Die Fachkräfte entschärfen die Asymmetrie zwar gesprächsweise: Einerseits sprechen sie von einem „Vertrag, den wir beide miteinander abschließen“ (eine Fallmanagerin in X). Andererseits zeigen Rechtsbelehrung und Vertragsinhalte, dass diese Gegenseitigkeit eine Fiktion ist. So wurden die Verpflichtungen der Fachkräfte stets abstrakt formuliert („Unterstützung bei der Arbeitssuche“), oder es wurden die bereits im laufenden Gespräch erbrachten Leistungen angeführt. Die Verpflichtungen der Adressaten werden dagegen detailliert benannt und liegen sämtlich in der Zukunft. Adressaten schienen sowohl die Rollenzuweisung als auch die Asymmetrie der Beziehung immer dann zu akzeptieren, wenn sie von der Arbeitsmarktkompetenz der Fachkraft überzeugt waren: „Meine Sachbearbeiterin, Frau [Name], die klemmt sich da wirklich dahinter (…), wobei natürlich nicht die ganze Arbeit auf ihren Schultern lasten soll, sondern ich muss mich da auch mitdrehen.“ Als �unschädlich’ erwies sich die vorgegebene Rollenverteilung auch, wenn die Fachkräfte in der Fallbearbeitung Wert darauf legten, die Adressaten bei der Erreichung ihrer selbst gesetzten Ziele reflektierend zu unterstützen. … Sanktionsinstrumente wurden eher hergezeigt als angewandt. Nur in zwei Fällen wurden Sanktionen beobachtet, diese allerdings bedeuteten für die beiden jungen Erwachsenen gleich den Wegfall der Leistung für drei Monate. Die Dienstleistungsbeziehung geriet dagegen erkennbar unter Druck, wenn Adressaten die Arbeitsmarktkompetenz der Fachkräfte bezweifelten oder wenn der Weg zur Arbeitsmarktintegration kontrovers blieb. … In wenigstens zehn der beobachteten Fälle widersprach die Rollenverteilung – „Aktivierer“ und Aktivierter“ – der tatsächlichen Fallkonstellation. In allen vier Fällen, in denen eine erfolgreiche Bewerbung beobachtet werden konnte, hatten die Adressaten die Stelle selbst gefunden. Sogar in einem der beiden Sanktionsfälle würdigt die Vermittlerin ausdrücklich das Engagement der jungen Frau bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz – die Sanktion ist hier Folge einer Meinungsverschiedenheit um den Nutzen einer Trainingsmaßnahme. Nicht ein vom gesetzlichen Setting unterstelltes Aktivierungsdefizit führt in den Konflikt, vielmehr misslingt die Aushandlung eines von beiden Seiten getragenen Integrationswegs. … 4.6 Leistung aus einer Hand? Das SGB II sieht für eine komplexe, arbeitsteilig organisierte Dienstleistung einen persönlichen Ansprechpartner (pAp) vor. Dieser kann Aufgaben delegieren, soll aber das Dienstleistungsversprechen eines „integrierten System(s) von Beratung, Betreuung und materieller Absicherung“ realisieren. Die beobachteten Leistungsprozesse erwiesen sich jedoch als eher fragmentiert und segmentiert „Aktivierung“ wurde als spezialisierte Leistung in strikter Arbeitsteilung zu Sachbearbeitung, Außendienst und beauftragten Dritten aufgefasst. Wie die große Mehrzahl der Grundsicherungsträger hatten sich die Standorte X, Y und Z entschieden, die Gewährung „aktivierender“ Eingliederungsleistungen und die „passiver“ Geldleistungen organisatorisch getrennten Geschäftsbereichen zu übertragen. In Leistungsfragen verweisen die „aktivierenden“ Fachkräfte nach dieser Logik an die Sachbearbeiter. Doch diese sind nicht nur wegen ihrer Arbeitsbelastung schwer erreichbar für die Adressaten, nach ihrem Selbstverständnis gehört die ganzheitliche „Beratung“ auch zu den Aufgaben der Fachkräfte in Vermittlung und Fallmanagement. Wenn sich jedoch keiner der beiden Bereiche für die Beratung zu Geldleistungen zuständig erklärt, was einige Fallverläufe nahe legen, gefährdet die Arbeitsteilung den Anspruch der Adressaten auf eine Leistungsberatung. … 5. Erste Antworten und neue Fragen Es war nicht Aufgabe der Konzeptstudie, das beobachtete Fallgeschehen zu bewerten oder Empfehlungen zur Ausgestaltung der Leistungsprozesse zu geben. Aus dem Material ergeben sich jedoch sowohl Schlussfolgerungen zum Charakter der Dienstleistungsarbeit als auch Fragen für die weitere Untersuchungsarbeit. 5.1 Gesetzliche Vorgaben und organisatorische Bedingungen Bei allen Unterschieden in den Geschäftsmodellen der drei beobachteten Organisationseinheiten bleibt doch der bestimmende Eindruck, dass in dem neuen Leistungssystem eine charakteristische Dienstleistung entsteht, eben „Fallbearbeitung nach SGB II“, die sich bei allen organisatorischen und örtlichen Unterschieden von anderen sozialen Dienstleistungen abhebt. Wirkungsforschung muss daher nicht nur die „Implementation“, sondern auch das gesetzliche Setting selbst zum Gegenstand machen: etwa den „Aktivierungsauftrag“ oder die Regelungen zur Eingliederungsvereinbarung. … 5.2 Auf Steuerungs- und Kontrollansprüche verzichten … Für die weitere Ausgestaltung der Fallbearbeitung nach SGB II könnte dieses Ergebnis die Konsequenz haben, dass die Organisationseinheiten Spielräume akzeptieren und auf Steuerungs- und Kontrollansprüche verzichten. Das könnte zum Beispiel bedeuten, die „Segmentierung“ und die Ausgestaltung der Dienstleistung stärker den Beteiligten zu überlassen, die etwa fallweise entscheiden würden, ob und wann eine Eingliederungsvereinbarung geschlossen wird. Solche Spielräume dürften aber nicht einseitig bei den Fachkräften liegen. Deren größeren Ermessensspielraum müssten dann Rechtsansprüche, Initiativ-, Wunsch- und Wahlrechte der Adressaten entsprechen, damit diese ihre Stärken in die Interaktion einbringen können. 5.3 Aktivierungsbedarf – nicht unterstellen, ermitteln … Ob ein Bedarf an „aktivierender“ Fallbearbeitung besteht, wäre im Einzelfall zu ermitteln. Wie eine besondere, „aktivierende“ Variante der Dienstleistung aussehen könnte, lässt sich jedoch fachlich erst bestimmen, wenn unzureichende Suchaktivität nicht generell unterstellt wird. Wird dagegen der institutionelle Auftrag allein aus dem Aktivierungsdiskurs abgeleitet, so führt dies in vielen Fällen zu einer unbegründet hierarchischen Rollenverteilung zwischen „Aktivierern“, die gar nicht so viele zusätzliche Arbeitsmarktangebote einzubringen haben, und aktiven „Aktivierten“, die eher spezialisierte Unterstützung als umfassende Anleitung benötigen. “ AutorInnen der Konzeptstudie des Soziologischen Forschungsinstitutes: Volker Baethge-Kinsky Peter Barthelheimer Jutta Henke Rainer Land Anreas Willich Andreas Wolf Die Studie „Neue soziale Dienstleistungen“ erfolgte im Auftrag des IAB. Eine Veröffentlichung als IAB-Forschungsbericht ist in Vorbereitung. Die Kurzfassung erscheint demnächst in den „WSI-Mitteilungen“.

http://www.sofi-goettingen.de/index.php?id=307

Quelle: Dr. Peter Bartelheimer

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