Atypische Beschäftigung – Flexibilisierung und soziale Risiken

FLEXIBILITÄT, SOZIALE SICHERHEIT UND PREKARITÄT Die Ausweitung atypischer Beschäftigung verbunden mit Auswirkungen auf die Prekaritätslagen der Beschäftigten ist für die Jugendsozialarbeit doppelt relevant. Zum einen mit Blick auf die Klientel, zum anderen mit Blick auf die Beschäftigten in der Jugendsozialarbeit. Häufig weisen die Beschäftigungsverhältnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Jugendsozialarbeit eines der Kriterien atypischer Beschäftigung (befristet Arbeitsverhältnisse) auf. Eine Veröffentlichung der Hans Böckler Sitfung bietet in einem Sammelband einen umfassenden und aktuellen Überblick über Entwicklung und Stand der verschiedenen Formen atypischer Beschäftigung, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten erheblich an Bedeutung gewonnen haben. Vor diesem Hintergrund thematisiert er ihre arbeits- und sozialpolitischen Folgeprobleme, vor allem ihre Prekarität oder Sozialverträglichkeit. Die Beiträge des Bandes sind in drei Komplexen geordnet. Im ersten Teil werden die wichtigsten Varianten von „Flexibilität‘ unterschieden, betriebliche Beschäftigungsstrategien untersucht und arbeitsmarktheoretische Erklärungen geliefert. Der zweite Teil präsentiert die wichtigsten Formen unter besonderer Berücksichtigung ihrer aktuellen Entwicklungen. Die einzelnen Varianten werden nicht isoliert, sondern im Spannungsfeld von Flexibilität, sozialer Sicherung und Prekarität diskutiert. Im Mittelpunkt des dritten Teiles stehen die Folgen atypischer Beschäftigung: Übergreifend werden die Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau sowie die soziale Sicherung thematisiert. Der Band geht auf ein Schwerpunktheft der WSI-Mitteilungen zurück (2006). Die Autorinnen und Autoren nutzen die Möglichkeit zur Überarbeitung und Ergänzung ihrer Beiträge. Neue Aufsätze sind hinzugekommen und thematische Lücken wurden geschlossen. Auszüge aus einem Beitrag der Autoren Keller und Seifert: “ ATYPISCHE BESCHÄFTIGUNGSVERHÄLTNISSE – Flexibilität, soziale Sicherheit und Prekarität 1. Problemstellung Die Grundformen der Beschäftigung ändern sich. Atypische Varianten gewinnen und Normalarbeitsverhältnisse verlieren an Bedeutung. Diese Umschichtung verläuft ungeachtet der generellen Arbeitsmarktentwicklung und findet sowohl bei stagnierender als auch expandierender Gesamtbeschäftigung statt. Die Folgen dieses Prozesses … reichen … in Entwicklungen ihren Wirkungen weit über den Arbeitsmarkt hinaus sie betreffen die sozialen Sicherungssysteme insgesamt und haben Diskussionen über deren Umgestaltung, vor allem deren Finanzierungsmodi, ausgelöst. Die Ablösung des Normalarbeitsverhältnisses durch Formen atypischer Beschäftigung wird häufig als Prekarisierung bezeichnet … Notwendig sind präzisere Kriterien zur Abgrenzung. Wir vertreten die These, dass atypische Beschäftigungsverhältnisse nicht umstandslos als prekär anzusehen sind. Eine Rolle spielen neben dem Individualeinkommen vor allem die allgemeinen Lebensbedingungen … sowie die rechtlich-institutionelle Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse. … Von Bedeutung ist ferner die Erwerbsbiographie in ihrer kurz- und langfristigen Perspektive. … 2. Entwicklung und Ausmaß atypischer Beschäftigungsverhältnisse … Üblicherweise werden sämtliche Beschäftigungsvarianten subsumiert, die nicht der Referenzgröße des Normalarbeitsverhältnisses (NAV) entsprechen … . Dessen zentrale Kriterien, die nicht normativ sondern ausschließlich analytisch Verwendung finden, sind vor allem: – Vollzeittätigkeit mit entsprechenden Einkommen, – Integration in die sozialen Sicherungssysteme, – unbefristetes Beschäftigungsverhältnis, – Identität von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis, Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber. … Ausgehend von dieser Definition lassen sich Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Beschäftigung sowie Leiharbeit (einschließlich der mit den Hartz-Gesetzen eingeführten Personalserviceagenturen – PSA) als Kernformen atypischer Beschäftigung ausmachen. Diese Formen erfüllen mindestens eines der genannten Kriterien nicht. … Die Varianten atypischer Beschäftigung unterscheiden sich deutlich in ihrer Dynamik und Bedeutung gemessen an der Gesamtbeschäftigung … – Teilzeitarbeit ist mit Abstand die quantitativ wichtigste Form und hat über die Konjunkturzyklen hinweg kontinuierlich auf fast 25% der Gesamtbeschäftigung im Jahre 2005 zugenommen. – Geringfügige Beschäftigung, die letztlich eine Variante von Teilzeitarbeit darstellt, hat vor allem in Folge der durch die Hartz-Gesetze ausgeweiteten Mini-Jobs seit Mitte 2003 bis Mitte 2005 um knapp 1 Mio. auf 6,5 Mio. erheblich an Bedeutung gewonnen. Insgesamt üben 20% der abhängig Beschäftigten eine geringfügig entlohnte Tätigkeit aus über 15% arbeiten ausschließlich geringfügig. – Der Anteil der befristet Beschäftigten ist trotz mehrfacher Lockerungen der rechtlichen Rahmenbedingungen nur moderat auf gut 10% (in 2005) gestiegen, wobei die Entwicklung auf besondere Einflüsse zurückgeht. … Um das Gesamtausmaß atypischer Beschäftigung quantifizieren zu können, lassen sich … Anteilswerte nicht einfach addieren, da einzelne Formen (z.B. Teilzeit und Befristung oder Teilzeit und Geringfügigkeit) kumulativ auftreten können. Mittlerweile (im Jahr 2005) umfassen atypische Beschäftigungsformen gut ein Drittel aller abhängig Beschäftigten bei den Frauen liegt der Anteil bei knapp 54%. 3. Atypische Beschäftigung und Flexibilität Atypische Formen der Beschäftigung erfüllen auf dem Arbeitsmarkt verschiedene Funktionen. Sie können dazu dienen, die Arbeitskosten zu senken, die Anpassungsfähigkeit des Arbeitseinsatzes zu erhöhen oder die Instrumente der betrieblichen Personalpolitik zu erweitern … . Flexibilität gilt als eine zentrale Voraussetzung für die Bewältigung des Strukturwandels, für wirtschaftliches Wachstum und für den Abbau der Arbeitslosigkeit … . In der beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Debatte wird der Begriff „Flexibilität‘ häufig unspezifisch gebraucht, ohne zwischen Formen und deren Funktionen systematisch zu unterscheiden. Geht man davon aus, dass der Arbeitsmarkt, wie es Segmentationstheorien … nahe legen, aus (betriebsspezifischen, fachlichen sowie Jedermanns-)Teilarbeitsmärkten besteht, die unterschiedlichen Funktionslogiken folgen, ist es angebracht, Formen der Flexibilität zu unterscheiden. … Unterscheidung zwischen den Hauptdimensionen interner und externer Flexibilität: … Mit der ersten Dimension sind sämtliche Strategien gemeint, die eine Anpassung des Arbeitseinsatzes an veränderte Nachfragebedingungen ohne Rückgriff auf den externen Arbeitsmarkt ermöglichen. Hierzu gehört vor allem die Anpassung der Dauer der Arbeitszeit (numerische Flexibilisierung), des Einkommens (monetäre Flexibilisierung), der Arbeitsorganisation und der Qualifikation (funktionale Flexibilisierung) … Demgegenüber basiert externe Flexibilität vor allem auf der „traditionellen‘ Anpassung der Beschäftigtenzahl, zunehmend auch auf Befristung und Leiharbeit sowie Transfergesellschaften. … Atypische Beschäftigungsverhältnisse können die Wahl betrieblicher Anpassungsstrategien in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Geringfügige Beschäftigung bzw. Mini-Jobs sowie Teilzeitarbeit dienen vor allem der intern¬temporalen Flexibilisierung. Leiharbeit und befristete Beschäftigung sind dagegen „klassische‘ Formen der extern-numerischen Flexibilisierung. … Welche spezifische Formen und deren Kombinationen Betriebe favorisieren, hängt von betrieblichen Kosten-Nutzen-Kalkülen ab, die von den Qualifikationsarten der bereits erwähnten Teilarbeitsmärkte beeinflusst werden. In hu-mankapitaltheoretischer Sicht müssen Unternehmen die in spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten ihrer Beschäftigten getätigten Investitionen amortisieren … . Daher ist davon auszugehen, dass mit dem Anteil der betriebsspezifischen Qualifikationen die Attraktivität interner Anpassungsstrategien zunimmt. Geringfügige Beschäftigung bietet sich bei Tätigkeiten mit geringen … Qualifikationen ohne hohe betriebliche Einarbeitungskosten an. Befristete Beschäftigung deckt zum einen absehbaren, zeitlich begrenzten Personalbedarf ab (z.B. Elternurlaub, Projektarbeit) und dient zum andern auch der Verlängerung der Probezeit … . Flexibilisierung hat in den letzten Jahren nicht nur in ihren externen Varianten an den Rändern des Arbeitsmarktes zugenommen, … sondern auch durch ihre internen Varianten in den Kernbereichen. … Entgegen verbreiteter Ansicht und einem undifferenzierten Flexibilisierungsbegriff … sind nicht nur die Rand- sondern auch die Kernsegmente flexibler geworden. In letzteren bieten tarifliche Öffnungsklauseln bzw. betriebliche Bündnisse für Arbeit Möglichkeiten, sowohl das Arbeitsvolumen durch Variation der Arbeitszeit als auch die Arbeitskosten durch Absenkungen der Entgelte anzupassen. … 5. Atypische Beschäftigung und Prekarität Atypische sind nicht mit prekären Beschäftigungsverhältnissen gleichzusetzen. … atypische Beschäftigungsverhältnisse haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Prekaritätslagen von Frauen und Männern. Frauen sind, abgesehen von Leiharbeit, bei allen atypischen Formen überproportional vertreten … . Damit können sich die prekären Elemente dieser Beschäftigungsformen kumulieren. Sie werden jedoch erst virulent bei Veränderungen der Einkommenssituation des Haushalts. Zum anderen hängt der Grad der Prekarität von Form und Dauer der atypischen Beschäftigung ab. Je länger derartige Tätigkeiten im Laufe einer Erwerbsbiographie ausgeübt werden, desto höher ist das Prekaritätsrisiko. In Bezug auf Beschäftigungsprekarität liegen die größten Risiken … bei der befristeten Beschäftigung, sofern der nahtlose Übergang in weitere befristete oder dauerhafte Beschäftigung nicht gelingt. Bei Leiharbeit ist die Beschäftigungsstabilität niedriger als bei Normalarbeitsverhältnissen … In Bezug auf die Beschäftigungsfähigkeit leiden sämtliche Formen atypischer Beschäftigung an vergleichsweise ungünstigen Chancen, im Rahmen betrieblich-beruflicher Weiterbildung die Qualifikation an veränderte Anforderungen anzupassen … . Diese Beschäftigten sind in höherem Maße auf Weiterbildung in Eigenregie angewiesen, die sie aber aufgrund der ungünstigeren Einkommenssituation kaum finanzieren können. Insofern droht der Ausbau atypischer Beschäftigungsverhältnisse die Unterinvestitionen in Humankapital zu verschärfen und den Strukturwandel in Richtung wissensbasierter Tätigkeiten eher zu behindern als zu fördern. … 6. Fazit Der skizzierte Trend einer Ausweitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse wird sich in Zukunft fortsetzen. Hierfür spricht allein schon die Tatsache, dass die Politik diese Beschäftigungsverhältnisse fördert und hiervon einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme erwartet. In dem Maße, in dem dieser Kurs fortgesetzt wird, verschärfen sich die Probleme der Systeme sozialer Sicherung. Deren Umbau ist nicht nur aus den bekannten Gründen der demographischen Entwicklung notwendig, sondern auch wegen der sich verändernden Koordinaten des Beschäftigungssystems. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sind wegen dieser Interdependenzen bei Reformschritten enger aufeinander zu beziehen. Ein Konzept, welches diese Anforderungen aufgreift, bieten Überlegungen zu Flexicurity. Zentrale Elemente dabei sind: Vorrang interner vor externen Formen der Flexibilität, Förderung der Beschäftigungsfähigkeit durch Weiterbildung, Einführung eines Systems der Grundsicherung (Kronauer/Linne 2005). Sie tragen betrieblichem Flexibilisierungsbedarf Rechnung, ohne jedoch die Sicherungsbedürfnisse der Beschäftigten zu vernachlässigen. … “ Der Aufsatz hat Ihr Interesse geweckt? Die Veröffentlichung ist zu einem Preis von 15,90 € über den Buchhandel zu beziehen. Atypische Beschäftigung – Flexibilisierung und soziale Risiken / Berndt Keller Hartmut Seifert (Hg.). – Berlin : Ed. Sigma, 2007. ISBN 978-3-8360-8681-3

http://www.boeckler.de

Quelle: Keller, Berndt und Seifert, Hartmut: Atypische Beschäftigung

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